27. Dezember 2020
Die Pandemie hat New York schwer getroffen. Das Problem ist nicht nur schlechter Führungsstil, sondern auch der anhaltende neoliberale Kurs der Demokratischen Partei.
Eine Pflegekraft in New York City bereitet die Behandlung von Corona-Patienten vor. (28.03.2020)
Wer während des ersten Lockdowns im März und April in New York war, wird sich an dieses Bild erinnern: Gouverneur Andrew Cuomo hatte an jenem Morgen ein etwas zu dünnes Hemd an. Waren das tatsächlich Nippel-Piercings, die durch den Stoff blitzten, fragte man sich auf Twitter und Instagram Sekunden später? Cuomo, der tägliche auf Pressekonferenzen Direktiven, Zahlen und Anweisungen verlas, während die Infektions- und Todeszahlen exponentiell nach oben schossen, erlag hier dem Fetisch-Klischee einer Führungsfigur, die er bis dahin so genial zu inszenieren wusste. Der Sex-Appeal der Herrschaft inmitten der Ungewissheit der Pandemie wurde zum Meme – einerseits subversiv, andererseits bestätigend.
Die Gleichsetzung von Cuomo und guter Führung – seit April das einzige Wahlversprechen, die einzige Inszenierung der Demokraten – hat das nicht verhindern können. Zur selben Zeit stieg in Deutschland die Popularität starker Männer wie Söder rapide, ganz ohne Piercings. Mitten in der nun global verbreiteten zweiten Welle locken die Buchläden mit Gouverneur Cuomos jüngst erschienenem Buch: American Crisis – Leadership Lessons from the Covid-19 Pandemic. Darin berichtet er, wie er dank starker Führung die Pandemie besiegte – auch wenn Opfer gebracht werden mussten. Was sich darin ankündigt ist genau das Narrativ, das wir nur zu gut kennen: Die Gürtel müssen enger geschnallt werden, und alle müssen mitanpacken. Der desaströse Verlauf der Pandemie, nirgendwo so schlimm wie in New York, so das Leitmotiv, sei allein der »bad leadership« von Donald Trump anzulasten. Wäre da nur eine starke Hand im Weißen Haus gewesen, jemand wie Cuomo oder Joe Biden, dann wäre es nie so schlimm gekommen. Dass der Verlust Trumps ohne Zweifel eine riesige Erleichterung ist, bedeutet jedoch nicht, dass die Dinge nun besser würden.
Die Fiktion, dass gutes Management alle Probleme lösen könnte, ist hier vor allem eine Verleugnung des Ausmaßes der Katastrophe eines durchprivatisierten und kaputt gesparten Gesundheitssystems. Die Verantwortung Cuomos wird darin ebenso willentlich ausgeblendet wie die gesellschaftliche Realität, angesichts derer das liberale Establishment den Kopf in den Sand steckt und ihre moralisierenden Mantren herunterbetet. Ebenso unerwähnt bleiben dabei Probleme des amerikanischen Föderalismus, die eine klare Zuschreibung von Verantwortung und die Politisierung der Lage erschweren.
Werfen wir einen Blick auf die Fakten: 75 Prozent der systemrelevanten Beschäftigten in New York sind People of Color. Migrantinnen und Migranten haben gar keinen Zugang zu öffentlich ko-finanzierten Versicherungsprogrammen. Da die Krankenversicherung unmittelbar an den Arbeitgeber gekoppelt ist, und der Lockdowns zu einer Welle von Entlassungen führte, bedeutete dies gleichermaßen auch einen massiven Verlust von Krankenversicherungsschutz. 1960 gab es in New York noch 124 Krankenhäuser, heute sind es weniger als 50. Und während es 1970 noch etwa 40.000 Betten in den Notfallkrankenhäusern standen, sind es heutzutage beinahe nur noch die Hälfte. Gleichzeitig sind die Kosten für eine Krankenhausbehandlung so hoch wie noch nie.
Die Geschichte der Schließung öffentlicher Krankenhäuser, die New York insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausbaute, beginnt in der Mitte der 1970er, als der Staat sich aufgrund der enormen Kosten des Vietnamkriegs und einer daraufhin einsetzenden Stagflation für eine Politik der Austerität entschied. Durch eine willkürliche Anpassung der durchschnittlichen Bettenzahl wurde New York von einer Stadt mit zu wenig Betten plötzlich zu einer mit zu vielen Betten. 1977 berief der Gouverneur einen sogenannten »Gesundheits-Zar« (die Bezeichnung ist ein zynisches Replik des kalten Krieges), der mit seinen Schließungen das Budget des Staates entlasten sollte.
Die Aidskrise der 1980er Jahre verlangsamte zwischenzeitlich den Zerfall des Gesundheitssystems durch einen Umverteilungsschlüssel für öffentliche Krankenhauseinrichtungen, welcher nebenher die Preisinflation im Gesundheitsbereich verlangsamte. 1997 wurde dieser Schlüssel dann abgeschafft und durch Gremien ersetzt, in denen die Aufsicht durch Führungskräfte privater Krankenhäuser erfolgte.
Seit 2003 wurden im Staat New York 41 öffentliche Krankenhäuser geschlossen, darunter 18 in New York City, allesamt Institutionen, die insbesondere dort ein soziales Sicherheitsnetz bieten sollten, wo die Prekarität am Größten ist. Standen in Queens, wo weltweit am meisten Menschen an Corona starben, im Jahr 2011, zu Beginn von Cuomos Amtszeit, noch fünf öffentliche Krankenhäuser, gab es 2020 nur noch ein einziges vor Ort.
Bereits vor fünf Jahren zeigte ein Bericht der Boston University ernüchternd auf, dass die Verlangsamung der wachsenden Gesundheitskosten maßgeblich der Konsolidierung der Gewinnmargen privater Krankenhäuser dient. Die Reduktion der Krankenhausbetten, so der Bericht, führt dazu, dass die Gesundheitskosten durch schwächeren Preiswettbewerb unter den übrig bleibenden Kliniken eher noch steigen, anstatt zu sinken. Die Folge: deutlich höhere Versicherungskosten. Anstatt Geld zu sparen, spielt die Verringerung der Bettenzahl vielmehr einer lukrativen privaten Gesundheitsindustrie in die Hand. Monopolisierung ist vor allem ein gutes Geschäft für Kapitaleigner.
Nun lassen sich diese Entwicklungen nicht alle auf Gouverneur Cuomo schieben, doch wirft man einen genauen Blick auf seine Politik inmitten der Pandemie, so lässt sich eine Fortsetzung jener Austeritätspolitik feststellen. Zu Beginn des vergangenen Sommers, als die Todeszahlen bereits weit über 100.000 lagen, beschloss die US-Regierung ein historisch großes Hilfspaket, den »CARES Act« (Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security Act). Wie diese Gelder verteilt werden, konnten die Bundesstaaten selbst entscheiden. Unter Cuomo sollten sie in New York maßgeblich den »besten« Krankenhäuser zugutekommen. Und so erhielt New York Citys reichster Krankenhauskonzern New York-Presbyterian allein für ein einziges Krankenhaus 119 Millionen Dollar, während das gesamte Netz öffentlicher Krankenhäuser für seine elf Institutionen zusammen lediglich 46 Millionen Dollar bekam. Für die Krankenhäuser im Schuyler County, wo es lediglich elf Coronafälle gab, wurden pro Corona-Patient über das föderale Hilfspaket 426.000 Dollar veranschlagt. In Queens, mit über 60.000 Fällen, erhielten die Krankenhäuser lediglich 1.500 Dollar pro Patient. So viel zu gutem Management.
Die Starsinnigkeit, mit der der Liberalismus behauptet, dass Trump allein für das massive Versagen verantwortlich sei, vertuscht nicht nur die Verantwortung der demokratischen Partei. Hier zeigt sich auch der Versuch einer Entpolitisierung der Demokratie selbst. Indem Trump zum ultimativen Bösen erklärt wurde, verkam die Politik zu einer leeren Verhinderungsagenda. Nachdem sowohl die Demokraten als auch die Republikaner jegliche sozialen Sicherungsnetze im Namen der Gewinnmaximierung heruntergeschraubt hatten, werden alle Versuche, dem etwas entgegenzusetzen als kleinteilig und ideologisch diffamiert. Dadurch dass Trump mit schlechter Führung gleichgesetzt wird, tritt die vermeintlich »präsidiale« Aura von Joe Biden in den Vordergrund. Anstatt sich in einem der reichsten Länder der Welt der notdürftigen gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung anzunehmen, fokussiert man sich lieber auf die Inszenierung guter Führung, die jede strukturelle Maßnahme blockiert und statt Veränderungen die leere Hülle einer nostalgischen Vergangenheit beschwört. Der Wahlerfolg von Donald Trump 2016 richtete sich gegen eine von Hillary Clinton verkörperte (und mit der Unterstützung von Bill Clinton errichtete) Technokratie des Establishments. In diesem Sinne war sein Wahlsieg auch ein Effekt des austeritätsverliebten Neoliberalismus – ein Punkt, der inmitten der Debatte um gute Führung unter den Teppich gekehrt wird.
Im Staat New York, wo die Erfolge der Democratic Socialists of America unter anderem den 16-mal gewählten Leiter des Auswärtigen Ausschusses im US-Kongress in den Ruhestand beförderten, zeigt sich ein wachsendes Begehren nach dem Ende der Austerität. Doch eine Konzentration auf lokale progressive Experimente allein wäre fatal. Denn was die Pandemie uns vor allem gezeigt hat, ist, wie die Lokalpolitik mit der Politik der Bundesstaaten zusammenhängt. Cuomos druckfrisches Buch wiederum endet, trotz des Eingeständnisses einer möglichen zweiten Welle, mit dem Satz: »New York is living proof that in the end, love wins« – New York sei der Beweis dafür, dass am Ende immer die Liebe gewinnt. Mit guter Führung und Wohlwollen könne man demnach jede Krise meistern. Es ist an der Zeit, diesen leeren Phrasen eine gerechte Gesundheitspolitik entgegenzusetzen.
Pierre Schwarzer forscht zu Formen gegenwärtiger Subjektivierung und lehrt am Department für French Literature, Thought and Culture der New York University.
Pierre Schwarzer forscht zu Formen gegenwärtiger Subjektivierung und lehrt am Department für French Literature, Thought and Culture der New York University.