18. November 2020
Die Große Koalition setzt das Infektionsschutzgesetz durch, draußen vor dem Deutschen Bundestag demonstrieren Corona-Leugner. Warum die Politik der Regierung Wasser auf den Mühlen von rechten Protesten ist.
In der Nähe des Bundestags kam es zu Konfrontation zwischen rechten Corona-Leugnern und der Polizei.
Bereits zum dritten Mal in der Corona-Krise legt die Bundesregierung ein Maßnahmenpaket vor, das diverse Verordnungen vorsieht. Es soll die rechtliche Grundlage für die Arbeit der Regierung in den nächsten Wochen, vielleicht Monaten sein. Kritik kommt dabei von allen Seiten: Während die Linke fordert, das Parlament in Entscheidungen stärker miteinzubeziehen, spricht die Alternative für Deutschland gar von einem »Ermächtigungsgesetz«. Die Debatte ist hitzig und wird draußen noch von Protesten der Corona-Leugner begleitet. Dieses Mal kommt es sogar zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Für die allerwenigsten Menschen außerhalb des Regierungsviertels dürfte ersichtlich sein, welche einzelnen Maßnahmen das Paket enthält. Denn die meisten sind damit beschäftigt, den diversen Regelungen überhaupt zu folgen: In welchen Bundesländern gilt nun ein Beherbergungsverbot, wie viele Tage können Eltern im Homeoffice sein, wie lang bekomme ich Kurzarbeitergeld? Wir erhalten Nachrichten zur Triage, also der Möglichkeit, dass bald entschieden werden könnte, nur noch Patienten mit höherer Überlebenschance an Beatmungsgeräte anzuschließen. Wir sehen Fotos von traumatisierten und überarbeiteten Intensivpflegerinnen. Ängste um die eigene Gesundheit und Existenz beschäftigen viele. Umso unverständlicher, dass das Parlament sich nur mit sich selbst beschäftigt.
Denn während sich ganz grundsätzlich der Alltag vieler dem Notstand nähert, debattiert der Bundestag weitestgehend abstrakt, technokratisch und losgelöst vom Leben vieler Menschen. Entweder verteidigt die Große Koalition einzelne Maßnahmen und wiegelt jegliche Kritik an Grundrechtsverstößen ab, oder sie bezieht Stellung gegen die pöbelende, meist ohne Masken eng beieinander sitzende AfD-Fraktion. Man arbeitet sich aneinander ab statt an der Wirklichkeit.
Diese Art Politik ist Wasser auf den Mühlen von rechten Protesten. Begibt man sich nämlich auf den argumentativen Boden, den die Rechten mit dem Vergleich zum Ermächtigungsgesetz der Nazis auslegen, ist man bereits in der Falle. Derart drastische historische Vergleiche und ihre Abwehr überhitzen die Debatte, aber helfen den meisten Menschen, die sich um Schulschließungen oder ältere Angehörige sorgen, wenig. Die Politik läuft am Leben der Menschen vorbei und spielt damit ungewollt rechten Verschwörungsfanatikern in die Karten, die den Frust der Menschen kanalisieren wollen.
Wie wir schon zu Beginn der Corona-Krise schrieben, kehrt der Staat im Guten wie im Schlechten zurück. Dass staatliche Eingriffe nun wieder sichtbarer und für die meisten Menschen nun vermutlich auch wieder bedeutsamer werden, sagt allerdings noch nichts über die Arbeit der Bundesregierung selbst aus. Denn Staat und Regierung sind nicht dasselbe. Hier wurde und wird, auch in der medialen Berichterstattung, einiges durcheinandergeworfen. Mit fatalen Folgen.
Staatliche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz etwa werden direkt der Bundesregierung, wenn nicht gar der Bundeskanzlerin selbst angekreidet, was sich so eindrücklich wie auch beängstigend auf den sogenannten Hygiene-Demos zeigt. Am Ende lässt sich für jede Nachverfolgung eines Gesundheitsamtes, jeden fehlenden Euro Kindergeld Angela Merkel – oder neu dazugekommen – Jens Spahn oder Karl Lauterbach verantwortlich machen. Scheinbar.
Die populistische Zuspitzung auf einzelne Akteure mag befremdlich wirken, doch sie ist ein Krisen-Symptom, das durch das politische System selbst erst erzeugt wurde: Komplexe Mechanismen des Regierens werden heruntergebrochen auf kurze Statements, Ansprachen, Figuren. Wer das Regieren nach sechzehn Jahren Merkel nicht mit ihr im Kanzlerinnenamt gleichsetzt, lügt sich selbst in die Tasche. Auf Corona-Demos mögen verblendete Spinner rumlaufen, aber auch wir richten unsere müden Appelle an »den Staat« und wissen selbst oft nicht ganz genau, wen wir eigentlich meinen.
Wie in jeder Krise wird jetzt nämlich durchregiert: Schwierige Entscheidungen werden möglichst effizient und hinter verschlossenen Türen, wenn nicht final, dann doch zumindest vor-entschieden. Die große Koalition hat dabei das »Glück«, im Prinzip jedes Gesetzesvorhaben durch den Bundestag bringen zu können. Trotz des späten Widerstands der Opposition über die Rolle des Parlaments in der Krise, ändert sich an diesen Mehrheitsverhältnissen in der jetzigen Legislatur nichts.
Man macht es sich zu leicht, wenn man die »Corona-Rebellen« nur als faschistoid abtut, was sie zweifelsfrei auch sind. Doch wie fast jede noch so abstruse Ideologie trifft auch die Staatsskepsis der Corona-Leugner einen wahren Kern. Denn Tatsache ist, dass sich die Bundesregierung selbst als »der Staat« inszeniert und Befugnisse, Verordnungen und Beschränkungen tatsächlich durchsetzt. Natürlich kann man ihnen trotzdem folgen und mit gesundem Menschenverstand eine Maske tragen, doch eben dieser Menschenverstand ist in den letzten Jahren soweit verschütt gegangen, dass er nicht einfach wieder als Appell wiederhergestellt werden kann.
Wenn sich etwas in den Menschenverstand der letzten Jahrzehnte eingebrannt hat, dann die Tatsache, dass Krisen für Regierungen nicht nur Probleme mit sich bringen. Denn in Zeiten des Notstands erweitern sich zugleich auch ihre Handlungsmöglichkeiten. Wie in der Schuldenkrise der südeuropäischen Länder plötzlich eine ominöse Troika das Schicksal gleich mehrerer Schuldner entschied, so entscheidet heute der Gesundheitsminister tatsächlich mehr über die Maskenproduktion dieses Landes als irgendjemand anderes. Abgestimmt ist das natürlich nicht, von niemandem von uns. Die Legitimität und auch Verhältnismäßigkeit dieser oder auch anderer Handlungen eines Ministers oder einer Institution zu hinterfragen, macht uns noch nicht zu Corona-Leugnern. Aber es ist eine Gratwanderung, und dessen muss sich die Linke bewusst sein.
Winston Churchill sagte nicht umsonst, dass man eine Krise niemals ungenutzt verstreichen lassen sollte. Handlungsspielräume vergrößern sich für Regierungen, wenn Effizienz, Schnelligkeit und Entscheidungswille gefragt sind. Auf staatlicher Ebene kann sich das verschieden ausdrücken: entweder in autoritärem Regieren oder – was nicht unbedingt weniger problematisch ist – in technokratischem Regieren.
Für letzteres sind die Krisenkabinette der Kanzlerin ein Sinnbild: Im Dickicht des Föderalismus werden Entscheidungen in ein Gremium verlagert, dass hinsichtlich der Abstimmung zwischen Bund und Ländern durchaus sinnvoll ist und doch zugleich hochproblematisch. Man kann der Bundesregierung nicht gerade vorwerfen autoritär durchzuregieren, doch maximal intransparent arbeitet sie dennoch. Und sie profitiert von dieser politischen Konstellation, weil sie sich selbst unabhängiger macht – auch gegen den Widerstreit mit der Opposition und einzelnen Bundesländern.
Solange die Bundesregierung auf diese Art weiterregiert, gibt sie niemandem das Gefühl, einen Notstand verhindern zu wollen. Genau darauf bauen rechte Ideologen. Ihnen das Wasser abzugraben würde bedeuten, den Notstand in Krankenhäusern, Schulen, Kitas, in Betrieben und Drogerien endlich ernst zu nehmen.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.