14. April 2020
In Krisenzeiten wird besonders hart um die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern gerungen. Die Gewerkschaften müssen jetzt zeigen, auf wessen Seite sie stehen.
Foto: Flickr/IG Metall Regensburg
Zwei Fragen beschäftigen die Öffentlichkeit in den letzten Wochen: Wie lange muss das öffentliche Leben ausgesetzt bleiben, um die Pandemie einzudämmen? Und wie hoch werden die menschlichen und materiellen Kosten sein? Zumindest bei der zweiten Frage gibt sich die Regierung Mühe, zu zeigen, dass sie einen Plan hat.
Bereits kurz nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie in der Bundesrepublik kamen die Vertreter der Arbeitgeber und der Gewerkschaften beim Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und dem Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zusammen. Gemeinsam vereinbarte man Milliardenhilfen und das Kurzarbeitergeld, um die schlimmsten wirtschaftlichen Folgen frühzeitig zu unterbinden.
In Deutschland ist man dieses Bild der Einhelligkeit gewohnt. Der Chef des Arbeitgeberverbands (BDA), Ingo Kramer, und der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, stehen dann Seit’ an Seit’ mit den Ministern bei der Pressekonferenz und suggerieren, es ginge um das eine gemeinsame Interesse: einigermaßen unbeschadet aus dieser Krise hervorzugehen. In einem von Korporatismus geprägten Sozialstaat ist das an sich keine Neuigkeit – auf diese Weise werden seit Jahrzehnten Verhandlungen geführt und Ergebnisse präsentiert.
Dabei müsste sich gerade in schweren Krisenzeiten bemerkbar machen, dass bei der Verteilung von Geldern und Macht keine gemeinsamen, sondern entgegengesetzte Interessen im Spiel sind. Der Arbeitgeberverband hat den Profit im Sinn, kein übergeordnetes Gemeinwohl – selbst wenn er das routinemäßig behauptet. Und die Gewerkschaften vertreten die Interessen ihrer Mitglieder gegen die alltäglichen Ausbeutungen. Das betrifft vor allem den Lohn, Mitspracherechte, soziale Absicherungen und die Arbeitszeit.
Gerade jetzt, wo auch die Letzten verstehen, dass die Wirtschaft vor allem dann stockt, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr am Band stehen und Pakete packen, die Kinder in Kitas versorgen, an der Kasse sitzen oder Patienten behandeln, schlägt die Stunde der Arbeit. Die meisten verstehen jetzt, was es bedeutet, »systemrelevant« zu sein. Der Sache nach könnten Gewerkschaften also in die Vollen gehen – denn die Ware Arbeitskraft ist im Lockdown rares Gut. Plötzlich merken alle, dass es diese besondere Ware ist, die die Basis unseres Wirtschaftens bildet.
Zunächst muss es also paradox erscheinen, dass in Wirklichkeit gerade das Gegenteil passiert. Das eingeführte Kurzarbeitergeld reicht für Geringverdienende kaum zum Überleben: Angestellte in der Gastronomie müssen derzeit mit 720 Euro im Monat auskommen, Gebäudereinigerinnen mit 780 Euro. Und während Hunderttausende rechnen müssen, ob sie ihre Miete bezahlen können, wird gestritten, ob es moralisch zu vertreten ist, wenn ein Großkonzern wie Adidas beantragt, von seiner Miete befreit zu werden. Erst nach massiver öffentlicher Kritik lenkte der Konzern ein.
Der DGB setzt sich für eine Erhöhung der derzeit geltenden 60 Prozent Kurzarbeitergeld (67 Prozent mit Kindern) auf 80 bzw. 87 Prozent des entgangenen Nettolohns ein. Da die Gespräche mit den Arbeitgebern aber gescheitert seien, setzen sie nun auf eine gesetzliche Regelung – kurz: den Umweg über den Staat bzw. das zuständige Ministerium. Die direkte Auseinandersetzung sucht man also nicht. Obendrein bekommt die Öffentlichkeit von den »Verhandlungen« nicht sehr viel mit.
Anstehende Tarifverhandlungen im Dienstleistungssektor wurden aufgrund der Pandemie ebenfalls verschoben. Selbst Ver.di-Chefökonom Dierk Hirschel, der sich im letzten Jahr sogar auf den SPD-Parteivorsitz bewarb, betont, dass erst nach der Krise die Zeit für Auseinandersetzungen sei. Was nüchtern betrachtet vernünftig ist – wer käme jetzt auf die Idee, gemeinsam auf die Straße zu gehen und zu streiken? – ist Angestellten dennoch schwer zu vermitteln. Warum sollen gerade sie – die doch den »Laden am Laufen halten«, wie Angela Merkel in ihrer Ansprache sagte – nun weniger verdienen?
Es ist dem neoliberalen Dogma geschuldet, dass ähnlich wie in der Wirtschaftskrise nach 2008 appelliert wird, die Krise gemeinsam im Sinne »der Wirtschaft« durchzustehen. Wie schon damals durchschauen aber auch heute die meisten, dass es Krisengewinner und -verlierer gibt. Und wie schon damals, so sind es auch heute die arbeitenden Menschen, die die Kosten der Krise tragen und den berühmt-berüchtigten Gürtel enger schnallen müssen. Die Gewerkschaften sehen sich nun vor dem Dilemma, die Gesundheit ihrer Mitglieder schützen zu wollen und gleichzeitig auf die stärkste Waffe verzichten zu müssen: die Androhung eines Streiks.
Gleichzeitig zeigen Streiks bei Fiat in Italien, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter am besten selbst schützen, indem sie nicht zur Arbeit gehen. Das ist aber explizit nicht die Strategie der deutschen Gewerkschaften. Sie setzen offenbar fürs erste auf den Bund mit dem SPD-geführten Arbeitsministerium.
Arbeitsminister Heil hat im Zuge der Engpässe infolge der Krise allerdings noch einen draufgesetzt und eine Rechtsverordnung unterzeichnet, die das Arbeitszeitgesetz dahingehend lockert, die gesetzlich vertretbaren Arbeitszeiten in bestimmten Bereichen auf bis zu 12 Stunden auszudehnen. Außerdem werden Ruhepausen von mindestens 12 Stunden auf 9 Stunden verringert. Ebenso gibt es Ausnahmen bei Sonn- und Feiertagen.
Auf Drängen von Ver.di sind Beschäftigte von Verkaufsstellen zwar ausgenommen – aber dieser Sieg muss in den Ohren von Pflegekräften, die sowieso schon überlastet sind, wie Hohn klingen. Alexander Jorde, der dadurch bekannt wurde, dass er der Kanzlerin in einer im Fernsehen übertragenen Bürgersprechstunde die prekären Arbeitsverhältnisse von Pflegenden vor Augen führte, kommentiert die Verordnung auf Twitter:
Es ist nicht nur kontraproduktiv, sondern – man muss sagen – gefährlich, gerade die Pflegenden in dieser Gesundheitskrise weiter zu belasten. Und es setzt politisch fatale Signale. Gerade ein sozialdemokratischer Minister unterzeichnet eine Verordnung, die – wenn auch zunächst bis Ende Juni befristet – eine der größten Errungenschaften der Arbeiterbewegung außer Kraft setzt.
»Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit und Erholung« lautete Anfang des 19. Jahrhunderts die Losung des Frühsozialisten Robert Owen. Für den Achtstundentag kämpfte die Gewerkschaftsbewegung seither weltweit – gemeinsam mit den sozialdemokratischen Parteien. Man mag argumentieren, dass die heutige Krise eine von historischem und globalem Ausmaß ist, doch kurzerhand Pandoras Büchse der Arbeitszeit zu öffnen, ist grundfalsch und könnte schwerwiegende Folgen auch über die Krise hinaus haben. Erstens ist damit ein historischer Fortschritt kurzerhand zunichte gemacht geworden, gegen die Gewerkschaften, die nahezu machtlos erscheinen. Vollkommen intransparent bleibt der Vorgang dieser schnell unterschriebenen Verordnung, seine Legitimation mindestens fragwürdig. Welche andere Möglichkeiten zur Versorgung sind geprüft worden?
Zweitens ist nicht abzusehen, wann der Krisenzustand beendet sein wird. Er könnte ausgenutzt werden, um die Lockerungen im Arbeitszeitgesetz zu verstetigen. Wir mussten bereits bei unseren Nachbarinnen und Nachbarn in Österreich im Normalzustand mit ansehen, wie eine rechts-konservative Regierung den 12-Stunden-Tag einführte und einen neuen »Kompromiss« zu Lasten der Beschäftigten ermöglichte.
Über unsere Arbeitszeit verfügen Unternehmen schon jetzt mehr als genug. Die Arbeitstage weiter zu verlängern, ist einer der größten Angriffe auf unsere Zeitsouveränität. Stattdessen müssten mehr Ressourcen bereitgestellt werden, um die Krise abzufedern. Für das jahrelange Kaputtsparen am Personal müssen zuallerletzt die Beschäftigten selbst leiden. Es ist eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben der Gewerkschaften, genau dieses Ungleichgewicht anzugehen.
Wir können dabei nicht von einem auf den anderen Tag aus dem Korporatismus aussteigen – als Aushandlungsform gegensätzlicher Interessen ist er tief ins politische System eingewachsen. Und zumindest während der Blüte des Wohlfahrtsstaates hat er auch Verbesserungen für Arbeiterinnen und Arbeiter gebracht. Heute aber wird durch die Appelle der Gewerkschaften meist lediglich das Schlimmste verhindert. Lobbyverbände wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hingegen kennen keinen Appell, sondern setzen ihre Interessen fortlaufend über Kampagnen durch.
Die Ausbreitung des Coronavirus löst eine weltweite Rezession aus, die laut den meisten Prognosen wesentlich größer ausfallen wird als die Wirtschaftskrise nach dem Crash 2008/2009. Auch wenn die Beschäftigten in Deutschland dank Kurzarbeitergeld und anderen Maßnahmen fürs erste nicht mit einer solch katastrophalen Situation wie die Arbeiterinnen und Arbeiter in den USA oder Italien rechnen müssen, ist zu erwarten, dass in den kommenden Monaten auch hierzulande die Entlassungen zunehmen und die verlorenen Profite durch Überausbeutung und Sparmaßnahmen wettgemacht werden. Um diese abzuwenden, werden die üblichen Verhandlungen mit den Arbeitgebern und der Regierung nicht ausreichen.
Mögen revolutionäre Linke auch noch so viel vom Generalstreik träumen – unter Bedingungen eines Lockdowns ist er unrealistischer denn je. Wir müssen uns auf das einstellen, was unter den jetzigen Kräfteverhältnissen machbar ist, die uns gegebenen Spielräume so weit wie möglich ausreizen und sagen: Es ist Zeit, im Krisen-Korporatismus einen schärferen Ton anzuschlagen und Unternehmen konkret unter Druck zu setzen.
Dazu müssten die Gewerkschaften ihr politisches Mandat stärker wahrnehmen und gerade von großen Unternehmen und Profiteuren der Krise Vermögensabgaben fordern, die an die Beschäftigten zurückfließen. Nicht als Almosen und aus vorgetäuschter Dankbarkeit, sondern als wirklicher Ausgleich. Auf das Spiel über sozialdemokratische Bande können sie sich unter den Bedingungen der Großen Koalition nicht verlassen.
Ines Schwerdtner ist Host des JACOBIN-Podcasts Hyperpolitik und war von 2020-2023 Editor-in-Chief von JACOBIN.