18. April 2020
Die mediale Darstellung des Corona-Virus als »externer Schock« bemüht eine klassische Erzählung: Das Böse kommt immer von außen. Doch das Virus ist ein direktes Produkt der kapitalistischen Gesellschaft.
Foto: Drew de Fawkes/Flickr
Das Virus bedroht uns, das Virus zwingt uns, das Virus macht die ökonomische Zukunft unsicher, lässt Arbeitslosenzahlen steigen, Grenzen schließen und Pflegekräfte zusammenbrechen. Wir alle sehen uns einer Gefahr gegenüber, die gleichsam dem dunklen Nirgendwo, dem undefinierbaren fernen Schuppentier entkrochen ist. Etwas nüchterner, aber in der Sache nur variierend, bemühte Ursula von der Leyen die eigentlich ökonomische Figur vom Virus als »externem Schock«. Wie ein Blitz, ein Komet saust hier offenbar etwas auf uns nieder, aus dem Nichts kommend, plötzlich war es da.
Doch Corona ist keine uns äußerliche, nun bedrohlich gewordene Natur. Es ist kein wild gewordenes Ungeheuer, mit dem wir uns im »Krieg« befinden, wie nicht nur Frankreichs Präsident Macron äußerst geschmacklos propagiert. Es ist kein externer Schock – ebenso wenig wie die Klimakrise einfach »Wetter« ist, das über uns hereinbricht. Corona ist ein soziales Phänomen, etwas geschaffenes, ein »Kollateralschaden« unserer neoliberal globalisierten kapitalistischen Ökonomie.
Der maßgebliche Virenherd war die politisch hofierte und ökonomisch machtvolle transnationale Agrarindustrie. Diese holzt in großem Stil Wälder ab, zerstört vielfältig aufeinander abgestimmte Lebensräume, rottet ganze Spezien aus und pfercht Nutztiere in Massen zusammen, misshandelt und schwächt sie. Die in Kauf genommene Folge ist, dass sich Mikroben, Viren und Bakterien mit großer Geschwindigkeit verbreiten und in menschlichen Körpern zu gefährlichen Krankheitserregern mutieren können. Diesen Vorgang durften wir nun über mehrere Wellen von Pandemien in den letzten Jahren beobachten: Ebola, Sars, Zika und so weiter.
Doch auch die Inszenierung eines bedrohlichen Außens ist kein Einzelfall, sondern typisch für die herrschende gesellschaftliche Öffentlichkeit. Ein Beispiel ist die Rede von der »Flut« von Migrantinnen und Geflüchteten, die über uns hereinbricht, und der wir einerseits mit Grenzzäunen und Schießbefehl, andererseits mit Opferbereitschaft Herr werden müssen.
Die Logik derartiger Erzählungen ist die der Abspaltung. Die dunklen Seiten unserer kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften werden gewissermaßen ausgelagert und auf ein bedrohliches Anderes projiziert – und damit naturalisiert. Zerstörung, Tod, Entrechtung und massive sozial-ökologische Ausbeutung sind dann keine wesentlich auch von »uns« aktiv hergestellten Probleme mehr, sondern abgespaltene Natur, naturhafte Eigenschaft dieses Anderen.
Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Konstruktion des Weiblichen als sorgende Urkraft. Diese Konstruktion erlaubt es, das Weibliche in den vorgesellschaftlichen privaten Reproduktionsbereich einzuschließen, beziehungsweise es im Öffentlichen als dem Männlichen sozial und ökonomisch nachrangig zu behandeln.
Ein weiteres Beispiel ist die narrative Umwandlung eklatanter Verarmung breiter Bevölkerungskreise auch im Globalen Norden in ein Problem der Bedrohung »unserer« Ökonomie durch Couch Potatos und Hängematten-Hartz-IVler, die »mental« ganz offensichtlich »unseren« Anforderungen einer modernen Arbeitsgesellschaft nicht genügen und deshalb auf Trab gebracht werden müssen.
Und auch die Geflüchteten sind, sofern sie sich nicht »integrieren«, kein Teil von »uns«: sie kommen in vielen Erzählungen aus fernen Ländern mit bizarren Religionen und unverständlichen Kriegen, kommen aus einem dunklen »Unterentwickelten«, wo sie es nicht geschafft haben, ihre Ökonomien aufzubauen, was bedauerlich ist, aber doch wohl auch am südlichen Charakter liegt, mit zwar sympathischen Ausschweifungen, dafür jedoch auch weniger Disziplin und Durchhaltevermögen. Weswegen man wiederum nicht zu viele von »denen« ins Land lassen darf, um »unsere« erfolgreich disziplinierte Arbeitskultur und unseren deshalb »berechtigten« Wohlstand nicht zu gefährden.
Derartige tagtägliche Abspaltungen und Naturalisierungen erlauben es letztlich, die Geschichte vom Kapitalismus als wirtschaftlicher und sozialer Fortschrittsmaschine ungestört weiterzuerzählen, und ungeniert seine Segnungen der weltweiten »Zivilisierung« und »Entwicklung« zu behaupten. Seine Verheerungen und Verwüstungen werden dagegen ins Außerhalb der gepriesenen Moderne verschoben. Ganz so, als hätte modernes Kommunikations-High-Tech nichts mit Kinderarbeit und politischer Repression (beispielsweise in den kongolesischen Diamantminen) zu tun. Als bedeute die Gewinnung von billigem Palmöl nicht die Verödung ganzer Weltregionen und die Vertreibung ihrer Bewohner. Als beschere das flexible Finanzkapital nicht gerade eine neue Welle der Wohnungsarmut.
Und auch ganz so, als hätte die weitreichende Privatisierung, »Verschlankung« und »Effizienzorientierung« des Gesundheitswesens inklusive Betten- und Stellenabbau in den Krankenhäusern nichts mit den jetzt massenhaft Sterbenden in Italien, Spanien oder Großbritannien zu tun. Jedes Mal ist es die atemberaubende, kaum fassbare Rücksichtslosigkeit der herrschenden ökonomischen Profitlogik mitsamt ihren schamlosen politischen Protagonistinnen und Protagonisten, die alles Sozialökologische zum vernutzbaren Material degradiert. Im Sinne immer neuer Anlagemöglichkeiten immer größerer Finanzressourcen, die man dann für noch umfassendere Marktbeherrschung, noch aggressivere Kostenkalküle, noch größere ökonomische Schlagkraft in der globalen Kapitalkonkurrenz einsetzen kann.
Was bedeutet es also, Corona nicht als äußerliche Bedrohung, sondern als Teil unserer längst weltweiten Vergesellschaftungsverhältnisse zu begreifen? Es bedeutet, eben diese gegenwärtig herrschenden Produktions-, Arbeits- und Vergesellschaftungsbeziehungen in ihren global-lokalen Zusammenhängen gerade nicht zu verdrängen und zu verleugnen – sondern sie zu thematisieren und notwendig radikal zu verändern.
Im besonderen Fokus muss hierbei das Agrarbusiness stehen. Nicht nur Klimaschützerinnen oder Landarbeiterinnen, sondern nunmehr weithin sichtbar auch Epidemologinnen sind in diesem Punkt sehr klar: die monopolisiert industrialisierte Agrarwirtschaft als herrschende Form weltweiter sozialer Reproduktion gehört abgeschafft. Sie ist im Wortsinn menschheitsbedrohend. Die Nahrungsmittelproduktion muss neu aufgestellt werden. Sie muss in regional-ökologische Räume rückverlagert, in wieder diversifizierte Anbaumethoden aufgegliedert und von einer starken demokratischen öffentlich-rechtlichen Infrastruktur geschützt werden.
Stefanie Hürtgen ist Wirtschaftsgeographin an der Universität Salzburg.