18. Juni 2020
Bald können Investoren Staaten wegen Corona-Maßnahmen vor Schiedsgerichten verklagen. Etwa weil sie den Patentschutz für Medikamente aufgeweicht haben. Wir müssen uns entscheiden: Demokratie oder neoliberale Handelsabkommen.
International agierende Anwaltskanzleien beraten Konzerne bereits, wie sie aus der Corona-Pandemie Profit schlagen können.
Die Folgen der Corona-Pandemie sind noch nicht ganz abzuschätzen, da lauern Investoren bereits darauf, geltende Handelsabkommen für ihre Zwecke vor Schiedsgerichten durchzusetzen. Es gibt bereits Anzeichen:
»Peru vor potentiellen ICSID-Klagen wegen Covid-19 Maßnahmen gewarnt« berichtete eine Zeitschrift für internationale Schiedsgerichtsbarkeit Ende April. Kurz zuvor kündigte der peruanische Kongress an, die Mautzahlungen auf den privatisierten Autobahnen des Landes während der Pandemie auszusetzen. Damit sollte der Transport essenzieller Güter und Arbeitskräfte vereinfacht und vergünstigt werden. Ausländische Autobahnbetreiber sahen dadurch ihre Gewinne bedroht und kündigten ein Verfahren vor einem privaten Schiedsgericht an, sollte der Kongress an seiner Entscheidung festhalten.
Klagen ausländischer Investoren gegen Staaten vor internationalen Schiedsgerichten sind nichts Neues. Tatsächlich werden sie immer zahlreicher. Ein weites Netz aus über 2500 Investitionsabkommen und mehr als 300 Handelsabkommen mit Investitionsschutzkapiteln macht diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragenen Klagen möglich. Dabei können Investoren gegen alle staatlichen Maßnahmen vorgehen, die ihr Geschäft negativ beeinflussen und (zukünftige) Gewinne mindern könnten. Auch Maßnahmen zum Umwelt-, Klima-, oder Gesundheitsschutz der Bevölkerung fallen darunter.
»Mindestens 102 Milliarden US-Dollar ›Schadensersatz‹ mussten Staaten bereits an Konzerne zahlen.«
Bis Ende Dezember 2019 waren 1023 dieser sogenannten Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS – Investor-State Dispute Settlement) bekannt. Mindestens 102 Milliarden US-Dollar »Schadensersatz« mussten Staaten bereits an Konzerne zahlen. Zum Vergleich: das jährliche Budget der Weltgesundheitsorganisation lag 2018 bei 2,3 Milliarden US-Dollar. Allein in den drei Monaten seit Beginn der Pandemie wurden 12 neue Konzernklagen vor Schiedsgerichten eingereicht. Noch betrifft keine dieser Klagen staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19 Pandemie. Doch das könnte sich ändern.
Die auf ISDS-Klagen spezialisierte Anwaltskanzlei Ropes & Gray schätzt die Lage wie folgt ein: »Die Regierungen haben auf Covid-19 mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, darunter Reisebeschränkungen, Beschränkungen der Geschäftstätigkeit und Steuervorteile. Ungeachtet ihrer Legitimität können sich diese Maßnahmen negativ auf Unternehmen auswirken, indem sie die Rentabilität verringern, den Betrieb verzögern oder von staatlichen Vergünstigungen ausgeschlossen werden. […] Für Unternehmen mit ausländischen Investitionen könnten Investitionsabkommen ein wirksames Instrument sein, um Verluste, die sich aus COVID-19-bezogenen Regierungsmaßnahmen ergeben, auszugleichen oder zu verhindern.«
Während die Corona-Pandemie schon über 350.000 Menschenleben gekostet hat und Regierungen überall auf der Welt versuchen, die größten gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden abzumildern, beraten international agierende Anwaltskanzleien Konzerne bereits darüber, wie sie aus der Krise Profit schlagen können – und zwar nicht aus Uneigennützigkeit. Anwaltskanzleien verdienen an Klagefällen bis zu 1.000 US-Dollar pro Stunde.
»Deutschland, Israel und Kanada könnten Klagen internationaler Investoren drohen, weil sie den Patentschutz auf Medikamente und medizinische Geräte aufgeweicht haben, um sie in der Pandemie schneller zur Verfügung zu stellen.«
Eine kürzlich veröffentlichte Studie vom Corporate Europe Observatory und dem Transnational Institute gibt Aufschluss über drohende ISDS-Klagen gegen Corona-Maßnahmen. Investoren könnten beispielsweise Spanien und Irland verklagen, weil sie private Krankenhäuser vorläufig verstaatlicht bzw. staatlich genutzt haben. Deutschland, Israel und Kanada könnten Klagen internationaler Investoren drohen, weil sie den Patentschutz auf Medikamente und medizinische Geräte aufgeweicht haben, um sie in der Pandemie schneller zur Verfügung zu stellen. Und El Salvador könnte in den Fokus klagender Investoren rücken, weil der Staat armen Haushalten die Wasserrechnung übergangsweise erlassen hat.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Investoren und Anwaltskanzleien eine Krise ausnutzen. 2001 befand sich Argentinien in einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte. In dem Land, das noch in den 90er Jahren von der US-Regierung, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank als Musterknabe bei der Umsetzung der neoliberalen Anpassungsmaßnahmen gefeiert wurde, lag die Armut nun bei über 50 Prozent. Jeder vierte arbeitsfähige Mensch war in Argentinien arbeitslos. Hunger war weit verbreitet und soziale Proteste wurden gewaltsam niedergeschlagen. Um die Auswirkungen der Krise auf die Bevölkerung zu mildern, fror der Staat unter anderem die Kosten für Strom, Gas und Wasser ein.
Das wirkte sich auf die Gewinne ausländischer Unternehmen in diesen Sektoren aus. In den Folgejahren kam es zu 43 Klagen gegen staatliche Maßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise von 2001. 41 dieser Klagen wurden bereits beigelegt, aber nur in drei Fällen zugunsten des Staates. Bei fast allen Klagen, in denen Argentinien den sozio-ökonomischen Notstand des Landes als Rechtfertigung seiner Maßnahmen vorbrachte, lehnten die Schiedsgerichte dieses Argument ab.
»Leistet ein Staat Schuldendienst an seine privaten Gläubiger oder investiert er die öffentlichen Gelder in die Linderung der Pandemiefolgen?«
Es ist also nicht überraschend, dass sich die Investoren in 32 Klagen der 41 entschiedenen ISDS-Klagen durchsetzten und entweder durch ein Urteil des Tribunals oder einen Vergleich »entschädigt« wurden. Argentinien musste mindestens 3,3 Milliarden US-Dollar an Investoren zahlen: 3% des gesamten Staatshaushalts. Allerdings ist die in den 15 Vergleichen gezahlte Summe nur in einem Fall bekannt, weshalb davon auszugehen ist, dass die tatsächlichen Kosten der krisenbezogenen ISDS-Klagen wesentlich höher liegen.
Damals wie heute steht Argentinien vor dem Zahlungsausfall und wird sich entscheiden müssen: Leistet es Schuldendienst an seine privaten Gläubiger oder investiert es die öffentlichen Gelder in die Linderung der Pandemiefolgen. Die Entscheidung von 2001, Letzteres zu tun, führte ebenfalls zu einer ISDS-Klage, und zwar von 180000 italienischen Gläubigern, die über einen Vergleich 1,35 Milliarden US-Dollar »Entschädigung« erhielten.
2020 könnten entsprechende Investorenklagen jedoch nicht nur auf Argentinien zukommen. Denn Corona hat die desolate Lage öffentlicher Haushalte in vielen Ländern massiv verschärft. Bereits 2018 warnte der IWF davor, dass 40% aller Niedriglohnländer eine unhaltbare Schuldenlast tragen. Dass Klagen privater Gläubiger erfolgversprechend sind, darauf weist derzeit die Anwaltskanzlei Dechert hin: »Ein Zahlungsausfall oder eine Umschuldung, die Anleihegläubiger diskriminiert, führt mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Haftung, da frühere Schiedsgerichte in Streitigkeiten im Finanz- und Bankensektor besonders intolerant gegenüber wahrgenommener Diskriminierung ausländischer Investoren waren.« Sollten sich Staaten jedoch für den Schuldendienst entscheiden, sind sie vor Investorenklagen keineswegs gefeit.
Denn käme es in Folge der Pandemie zu sozialen Unruhen, bei denen ausländische Investitionen beschädigt würden, könnten Investoren ebenfalls klagen. Die Anwaltskanzlei Volterra Fietta stellt es so dar: »Wenn soziale Unruhen zur Plünderung von Unternehmen führen, könnten ausländische Investoren behaupten, dass der Staat seine Vertragsverpflichtung, ihnen vollen Schutz und Sicherheit zu gewährleisten, verletzt hat.« Auch dieser Fall ist nicht einfach reine Spekulation. Ägypten wurde 2017 von einem Schiedsgericht für schuldig befunden, Pipelines einer Gruppe ausländischer Investoren während der sozialen Proteste des Arabischen Frühlings nicht ausreichend geschützt zu haben.
Damit keiner der oben genannten Fälle eintritt, müssten Staaten die Zustimmung zu Investor-Staat-Schiedsverfahren für Corona-bezogene ISDS-Klagen offiziell ablehnen. Noch besser wäre es, sie unterzeichneten mit anderen Staaten ein multilaterales Abkommen, das entsprechende Klagen ausschließt.
Damit während der Pandemie alle Kräfte auf die Bekämpfung des Virus und seiner Folgen konzentriert werden können, sollten sich Staaten dringend dafür einsetzen, dass alle laufenden ISDS-Verfahren – auch solche ohne Corona-Bezug – und anhängigen Zahlungen zumindest ausgesetzt werden. Angesichts des globalen, regulär Krisen verursachenden Kapitalismus wird das jedoch nicht ausreichen, um staatlichen Regulierungsspielraum ohne Sorge vor teuren Konzernklagen zu garantieren. Neue Abkommen, die ISDS-Klagen ermöglichen, wie die derzeit von der EU verhandelten Verträge mit Mexiko, Kanada und China, dürfen nicht unterzeichnet werden. Sie schreiben das neoliberale Wirtschaftsmodell fest, das uns erst in diese Krise geführt hat. Sie geben privaten Akteuren und deren Partikularinteressen Vorrang vor den Entscheidungen demokratisch legitimierter Institutionen. Da ISDS-Klagen auch über Corona hinaus ein grundlegendes Problem sind, braucht es eine Kehrtwende in der Handels- und Investitionspolitik. Die Drohung von Corona-Klagen sollte daher der Anstoß sein, alle Investitions- und Handelsabkommen aufzukündigen, die diesen ausbeuterischen Mechanismus beinhalten.
Bettina Müller ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet bei PowerShift e.V. zu Handels- & Investitionspolitik.
Bettina Müller ist Politikwissenschaftlerin.