03. Mai 2021
Das bulgarische Gesundheitssystem ist am Rand des Kollaps. Wer kann, wandert aus und sucht sich Arbeit im Ausland. Wer bleibt? Überarbeitete Pflegekräfte im Ruhestandsalter.
Nach jahrzehntelangem Sparkurs herrscht in vielen Balkanstaaten ein gefährlicher Pflegenotstand.
Elena Iwanowa ist Pflegerin im öffentlichen Krankenhaus in Kosloduj, einer kleinen Stadt in Nordwestbulgarien – der ärmsten Region in der EU. Ihr Arbeitstag dauert manchmal bis zu zehn Stunden, sie arbeitet alleine mit bis zu dreißig Patientinnen und Patienten pro Schicht, da es nicht genug Pflegekräfte im Krankenhaus gibt. Mit 54 Jahren gilt Elena als junge Pflegerin – ihre Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus sind über 60, einige sind sogar über 70. Ihr monatlicher Lohn beträgt 375 Euro – und liegt damit etwas über dem Landesmindestlohn, der für 2021 auf etwa 325 Euro festgesetzt wurde. Ihr Gehalt reicht kaum zum Leben, da Elena neben ihrem eigenen Haushalt auch die Familie von ihrer Tochter, die kürzlich Mutter geworden ist, unterstützen muss. Deswegen hat Elena einen zweiten Job als Pflegerin in einer Privatpraxis aufgenommen. Wegen der finanziellen Schwierigkeiten und der enormen Arbeitsbelastung überlegt sie sich, nach Deutschland auszuwandern, und dort eine Stelle als Pflegerin zu suchen.
Die Person Elena Iwanowa gibt es so nicht, die beschriebenen Arbeits- und Lebensbedingungen aber schon. Sie sind die alltägliche Realität der meisten Pflegekräfte in Bulgarien nach zwanzig Jahren neoliberalen Experimenten im Gesundheitsbereich. Frauen trifft es besonders schwer. Wie in vielen anderen Care-Berufen sind in Bulgarien etwa 80 Prozent der Beschäftigten im Pflegebereich Frauen. Miserable Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen sind der Grund warum viele Pflegekräfte – ganz besonders die jüngeren – Bulgarien verlassen, um in Ländern wie Deutschland, Großbritannien, Griechenland, Spanien und Italien eine bessere Anstellung zu finden.
Bereits 2018 fehlten in Bulgarien fast 30.000 medizinische Pflegekräfte in der Krankenhausversorgung. Das Durchschnittsalter derjenigen, die geblieben sind, liegt mittlerweile bei 58 Jahren. Da es keine offiziellen Richtlinien gibt, die festschreiben, wie viele Patientinnen und Patienten von einer Pflegekraft betreut werden dürfen, kommt es häufig vor, dass eine einzelne Pflegerin zwanzig, dreißig oder sogar vierzig Kranke pro Schicht betreuen muss. Mit anderen Worten: Die Gesundheitsvorsorge in Bulgarien lastet größtenteils auf den Schultern überarbeiteter Frauen im Ruhestandsalter.
Eine im Jahr 1998 durchgeführte Liberalisierungsreform des Gesundheitssystems ist der Grund, weshalb vor allem Krankenhäuser in kleineren Städten in eine prekäre finanzielle Lage geraten sind. Durch diese Reform erhielten alle Krankenhäuser im Land den Status gewerblicher Einrichtungen. Das bedeutet, dass sie marktwirtschaftlich selbstständig funktionieren sollen. Sie erhalten zwar Geld von der nationalen Krankenkasse, die Höhe der Zuwendungen ist jedoch an die Anzahl der Patientinnen und durchgeführten Operationen gekoppelt. Je mehr Patienten ein Krankenhaus »akquirieren« kann, desto höher ist das Budget. Krankenhäuser in kleineren Städten, in denen nicht so viele Leute wohnen und es dementsprechend weniger Patientinnen gibt, werden durch dieses Finanzierungsmodell benachteiligt.
Hinzu kommt, dass auch private Kliniken für bestimmte Operationen öffentliche Mittel von der nationalen Krankenkasse beziehen können. Öffentliche Krankenhäuser müssen demzufolge nicht nur untereinander um Patienten und Ressourcen konkurrieren, sondern auch mit den privaten Kliniken. Laut Berichten des Krankenversicherungsfonds für die Jahre 2018–2019, erhalten private Krankenhäuser im Land 33 Prozent des Budgets der nationalen Krankenkasse, staatliche Krankenhäuser 28 Prozent, regionale Krankenhäuser 18 Prozent und kommunale Krankenhäuser nur 15 Prozent. Der größte Teil der Versicherungsbeiträge fließt in die Finanzierung privater Krankenhäuser. Die kommunalen Krankenhäuser sind die größten Verlierer. Allerdings kann sich nur ein kleiner und wohlhabender Teil der Bevölkerung eine Behandlung in einem privaten Krankenhaus leisten. Gleichzeitig können sich private Krankenhäuser – im Gegensatz zu staatlichen und kommunalen Kliniken – aussuchen, auf welche Bereiche sie sich spezialisieren, um höhere Erträge zu erwirtschaften.
Diese Kommerzialisierung des Gesundheitssystems hat den Zugang zu guter Gesundheitsvorsorge für die meisten Menschen in Bulgarien massiv erschwert. Nirgendwo in der EU müssen Patientinnen und Patienten zusätzlich zu ihrer Krankenversicherung so hohe Zuzahlungen für Medikamente und medizinische Behandlungen leisten wie in Bulgarien. Selbst wenn sie krankenversichert sind, zahlen Bulgarinnen und Bulgaren etwa die Hälfte des Betrags für Medikamente oder medizinische Leistungen aus eigener Tasche. Die Gesundheitsvorsorge in Bulgarien ist schlecht – und daher besonders teuer.
Seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat sich die Lage im Gesundheitssektor dramatisch verschlechtert. Die wenigsten Krankenhäuser konnten in den ersten Monaten ausreichend Schutzkleidung und Desinfektionsmittel für das Personal stellen. Viele Ärztinnen und Pfleger haben im Laufe der Pandemie ihren Job gekündigt – im April 2020 war die Anzahl der neu registrierten Arbeitslosen im Bereich Gesundheits- und Sozialwesen im Vergleich zum Vorjahr um 1450 Prozent gestiegen. Das hohe Infektionsrisiko am Arbeitsplatz, die niedrigen Löhne und die Schließung von Schulen und Kitas – die wiederum dazu führte, dass fast ausschließlich Frauen die dadurch anfallende häusliche Sorgearbeit aufgelastet wurde –, zählen zu den Hauptgründen für diese Massenkündigungen.
Da die Pflegekräfte auf den Corona-Stationen eine stark erhöhte Anzahl an Patientinnen zu betreuen hatten, wurden geplante Operationen vorerst ausgesetzt. Dadurch hat sich die Anzahl an Patienten in einigen Krankenhäusern um bis zu 90 Prozent reduziert. Wegen des Finanzierungsmodells der Krankenhäuser, bedeuten weniger Patientinnen auch weniger Geld. Vielen Pflegekräften wurden aus diesem Grund mitten in einer globalen Pandemie die Löhne gekürzt.
»Obwohl die Anzahl an Corona-Infizierten nicht überdurchschnittlich hoch ist, rangiert Bulgarien auf Platz 10 der Länder mit der höchsten Corona-Sterblichkeit weltweit.«
Erst Monate nach dem Ausbruch der Pandemie wurden zusätzliche Boni für das medizinische Personal im Rahmen von bis zu 500 Euro im Monat eingeführt – allerdings nicht für alle, sondern nur für diejenigen, die auf Corona-Stationen arbeiten. Da viele Pflegerinnen und Pfleger zwei oder sogar drei Jobs haben, arbeiteten viele auf unterschiedlichen Stationen und in verschiedenen Kliniken. Dadurch hat sich das Virus schneller ausgebreitet. Vor dem Hintergrund, dass die meisten Pflegerinnen aufgrund ihres Alters selbst in die Risikogruppe fallen, ist es nur logisch, dass in den ersten zwei Wellen der Pandemie rund 11 Prozent der Corona-Infizierten Arbeitende aus dem Gesundheitssektor waren. Mehr als 120 medizinische Fachkräfte sind bis jetzt ums Leben gekommen. In einem Land, in dem es bereits vor der Pandemie einen drastischen Mangel an Pflegepersonal gab, sind diese Zahlen katastrophal.
All das hatte massive Auswirkungen auf den Verlauf der Pandemie in Bulgarien. Während die erste Corona-Welle im Frühling 2020 das Land nicht so hart getroffen hatte, haben die zweite Welle im vergangenen Winter und die noch anhaltende dritte Welle das Gesundheitssystem in die Knie gezwungen. Bei einer Bevölkerung von etwa 7 Millionen hat Bulgarien Ende April 2021 insgesamt fast 400.000 Corona-Fälle gemeldet. Obwohl die Anzahl an Corona-Infizierten pro Einwohner im europäischen Vergleich nicht überdurchschnittlich hoch ist, rangiert Bulgarien auf Platz 10 der Länder mit der höchsten Corona-Sterblichkeit weltweit. Während der Hochphasen der Pandemie waren die Corona-Stationen im Land so überfüllt, dass sie keine neuen Patientinnen und Patienten aufnehmen konnten. In einigen besonders drastischen Fällen sind Corona-Kranke auf den Treppen der Krankenhäuser verstorben, als sie darauf warteten, behandelt zu werden. Es ist eindeutig, dass das größte Problem nicht die unkontrollierte Ausbreitung des Virus ist, sondern dеr Kollaps der Gesundheitsvorsorge. Diese Diagnose trifft auch auf andere Länder in der Region zu.
Spätestens seit 2008 wurden die meisten Gesundheitssysteme Europas einer harten Sparpolitik unterzogen. Ähnliche und häufig noch brutalere »Reformen« sind in vielen osteuropäischen Ländern seit mehr als dreißig Jahren Standard.
Wie ein Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vom Jahr 2001 zeigt, haben die Privatisierungen in Ländern wie Rumänien, Litauen und der Ukraine bereits in den 1990ern – häufig unter der Aufsicht von neoliberalen Institutionen wie der Weltbank – eingesetzt. Dabei sollten unter anderem die Gesundheitssysteme, die noch nach dem sowjetischen Semashko-Modell aufgebaut worden waren, liberalisiert und dezentralisiert werden. Das Semashko-System war stark zentralisiert und wurde – ähnlich wie heutzutage der NHS in Großbritannien – aus dem Staatshaushalt finanziert und nicht durch Pflichtversicherungen. So konnte der freie Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle garantiert werden.
Im ehemaligen Jugoslawien reicht der Prozess der Privatisierung noch weiter zurück: Ana Vračar vom People’s Health Movement schreibt, dass nach der Einführung von Weltbankkrediten im Jugoslawien der 1980er Jahre, die solidarische und sozialistische Vision für das Gesundheitssystem durch Ansätze verdrängte wurde, die ein System schaffen sollten, das »kosteneffizienter« und »weniger belastend« für die nationalen und föderalen Haushalte war. Dieser Kurs wurde nach dem Zerfall Jugoslawiens weiter verfolgt und führte in Kroatien zu der Entstehung eines Gesundheitssystems, das nur eine Basisvorsorge garantiert. Auf Papier bedeutet das Zugang zur Primär-, Sekundär- und Zahnversorgung. In der Praxis gleicht die Basisvorsorge aber eher einem Leistungspaket, das stetig neu definiert werden kann. Abhängig von »finanziellen und anderen gesundheitsbezogenen Kapazitäten« werden immer weniger Leistungen als Teil dieses Pakets anerkannt – alles darüber hinaus müssen Patientinnen aus der eigenen Tasche bezahlen.
»Der Großteil der Bevölkerung muss für eine immer schlechter werdende Gesundheitsvorsorge immer höhere Beträge zahlen.«
Dieselbe Logik, die die Gesundheitsvorsorge als Ware auf dem freien Markt anstatt als öffentliches Gut definiert, war bei der Reformierung der Gesundheitssysteme in fast allen postkommunistischen Ländern anleitend. Ob in Bulgarien, Serbien, Bosnien, Nordmazedonien oder Rumänien – die Ergebnisse sind überall sehr ähnlich: Öffentliche Krankenhäuser sind schlecht ausgestattet und häufig verschuldet, die Infrastruktur ist veraltet, das Personal ist überarbeitet und unterbezahlt, die Medikamente sind teuer und der Großteil der Bevölkerung muss für eine immer schlechter werdende Gesundheitsvorsorge immer höhere Beträge zahlen.
Während sich öffentliche Gesundheitseinrichtungen kaum über Wasser halten können, sind die private Praxen, Kliniken und Krankenhäuser bestens aufgestellt. Sie haben eine gute Infrastruktur, besser bezahltes Personal, wesentlich kürzere Wartezeiten und sind nur für einen Bruchteil der Bevölkerung finanziell zugänglich. Somit entsteht ein paralleles System für die Reichen, wodurch die gesundheitlichen Ungleichheiten extrem zugespitzt werden.
Diese Entwicklungen führen überall in der Region zu einer massiven Abwanderung von Pflegekräften nach West- und Südeuropa, wo sie meistens rund um die Uhr als häusliche Pflegekraft tätig werden. Allein in Deutschland arbeiten je nach Schätzung zwischen 300.000 und 600.000 Frauen in der häuslichen Betreuung – durchgearbeitete Wochenenden und 24-Stunden-Schichten sind keine Seltenheit. In diesem grauen Pflegesektor sind fast ausschließlich Frauen aus Osteuropa beschäftigt: ohne Arbeitsverträge, ohne feste Arbeitszeiten, ohne geregelte Urlaubstage, ohne Versicherungen und für Löhne, die weit unter dem Landesmindestlohn liegen.
Eine polnische Pflegerin fasste die Arbeitssituation im Sektor im Rahmen der Kampagne Ostblock 8. März folgendermaßen zusammen: »Ich habe mehr als zehn Jahre in der Schwarzarbeit geschuftet, weil keine der deutschen Familien es sich leisten konnte, mich legal einzustellen! Ich nenne es moderne Sklaverei. Ich war selbstständig und ich habe auch mehr verloren als gewonnen! [...] Am tragischsten sind die Familien [zurück in Polen], die durch diese Beschäftigung [der Frau im Ausland] auseinandergerissen werden, und die Kinder, die kein normales Zuhause mehr haben!«
Während viele auswandern, um sich zu retten, haben die Pflegekräfte in Ländern wie Bulgarien seit einigen Jahren begonnen, sich gegen die Ausbeutung am Arbeitsplatz zu wehren. Die bulgarischen Pflegekräfte protestieren seit 2019 für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und soziale Reformen im Gesundheitsbereich. Ihre zentrale Forderung ist die Abschaffung des Status von Krankenhäusern als gewerbliche Unternehmen. In den vergangenen zwei Jahren haben sie zahlreiche Demonstrationen auf lokaler und nationaler Ebene organisiert, Warnstreiks durchgeführt und 2020 sogar einen Raum im bulgarischen Parlament für 24 Stunden besetzt.
Obwohl ihre Forderungen bislang ignoriert wurden, haben die Pflegearbeiterinnen das Thema der Gesundheit politisiert und die prekäre Lage des bulgarischen Gesundheitssystems in die öffentliche Aufmerksamkeit geholt. Der erste Protest wurde noch bei Facebook von wenigen Enthusiastinnen organisiert, die sich untereinander kaum kannten. Mittlerweile haben sie ihre eigene Gewerkschaft gegründet, die in über 40 Städten im Land Pflegekräfte organisiert. Sie vernetzen sich mit anderen kleinen Gewerkschaften in Bulgarien, sind Teil eines internationalen Netzwerks gegen die Kommerzialisierung der Gesundheitsvorsorge und haben Anführerinnen hervorgebracht, die öffentlich bekannt sind. Somit sind die Proteste der Pflegekräfte der radikalste Ausdruck des gewerkschaftlichen Klassenkampfs, der in den letzten zehn Jahren in Bulgarien geführt wurde.
Lange Zeit schien es unmöglich, gegen die schlechten Bedingungen in der Pflege vorzugehen. Das hängt nicht zuletzt auch an der patriarchalen und sexistischen Vorstellungen, dass diese vermeintlich »weiblichen« Tätigkeiten aus »Mitgefühl« – also unbezahlt – ausgeübt werden sollten. Im Gegenteil wurde während der Pandemie eins klar: Wenn wir nicht entschieden dagegen vorgehen, dass die Gesundheitssysteme den Prinzipien der Profitmaximierung unterstellt werden, anstatt Fürsorge für alle zu gewährleisten, riskieren wir menschliches Leben.
Kalina Drenska ist feministische Aktivistin, die sich mit sozialer Reproduktion und Arbeit in postkommunistischen Kontexten beschäftigt. Sie ist Teil der sozialistischen feministischen Gruppe LevFem und des bulgarischen Frauen*kollektivs FemBunt in Berlin. Sie ist außerdem eine der Chefredakteurinnen der politischen Zeitschrift Dversia.
Kalina Drenska ist feministische Aktivistin, die sich mit sozialer Reproduktion und Arbeit in postkommunistischen Kontexten beschäftigt. Sie ist Teil der sozialistischen feministischen Gruppe LevFem und des bulgarischen Frauen*kollektivs FemBunt in Berlin. Sie ist außerdem eine der Chefredakteurinnen der politischen Zeitschrift Dversia.