22. April 2020
Der Sturz des Ölpreises bietet Regierungen eine außergewöhnliche Gelegenheit. Lassen wir die verbleibenden fossilen Brennstoffe im Boden und investieren jetzt in einen Green New Deal, um den Planeten zu retten.
Ölpreis im Rekordtief
Am 20. April fielen die Preise für ein Barrel US-Öl ins Negative, also so tief, dass Händler dafür bezahlen würden, dass man ihnen die Eigentumstitel abnimmt. Am Tiefststand lag der Preis bei -37,63 Dollar. Das Problem, das den phänomenalen Preisverfall verursachte, war die Lagerkapazität. Die COVID-19-Pandemie hat weite Teile der Wirtschaft zum Stillstand gebracht, so dass wir aufgrund von Transport- und Produktionsrückgängen weniger Öl als üblich benötigen. Wie die BBC erklärt, »wird Öl zu seinem Zukunftspreis gehandelt. Und künftige Verträge für den Mai laufen am Dienstag [21. April] aus. Die Händler wollten diese Bestände abladen, um zu vermeiden, dass sie die Lieferung des Öls annehmen und ihre Lagerkosten würden bezahlen müssen.«
Der Begriff der Finanzialisierung der Wirtschaft bezeichnet den Prozess, in dem reale Wertgegenstände mit realer Verwendung, wie Öl für die Energieversorgung, auf den Finanzmärkten gehandelt werden, damit Investoren und Finanzspekulanten Gewinne erzielen können. Gewöhnlich geschieht diese Weitergabe nur im Computer, sodass der Besitzer von wie vielen Barrel Öl auch immer nie mit ihnen als physischen Gegenständen handeln muss. Der jetzige Preisverfall hingegen geschah, weil die Händler erkannten, dass sie das Öl aufgrund der niedrigen Nachfrage möglicherweise tatsächlich erhalten und lagern würden müssen. Es scheint, dass die Headquarters von Handelsunternehmen wie Barclays und Citigroup nicht über ausreichend Platz für die Lagerung von Ölfässern im Keller verfügen.
»Wir können es nicht zulassen, dass ein Konflikt zwischen dem Schutz guter Arbeitsplätze und der Rettung des Klimas entsteht.«
Wie schon die Finanzkrise 2008 dadurch ausgelöst wurde, dass die Finanzmärkte von lästigen Ereignissen in der realen Welt getroffen wurden – damals von Menschen, die mit ihren Hypotheken in Verzug gerieten – so sehen wir auch heute, wie sich Schocks in der Realwirtschaft in den Finanzsektor fortsetzen.
Aber diese Krise ist nicht nur ein vorübergehender Ausbruch. Die Investmentbank Goldman Sachs hat verlautbaren lassen, dass der Ölmarkt nach wie vor »massiv überversorgt« ist, was die Preise weiter nach unten drücken wird. Howie Lee von der OCBC-Bank in Singapur deutete an, dass sich auch der Mangel an Lagerkapazitäten für Öl unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht verbessern wird. Beide stimmen mit der Analyse von ING Economics überein, dass ein weiterer Preisrückgang nur durch eine Verringerung des Angebots vermieden kann (etwa wenn die USA die Ölförderung drosseln) oder durch einen Nachfrageschub (wenn die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt). In der Praxis bedeutet dies eine geplante Schrumpfung der Erdölindustrie im Einklang mit der Gesamtwirtschaft.
Die eigentliche Frage ist, was nach dieser Schrumpfung geschieht. Als Folge der Verbrennung fossiler Energieträger sehen wir bereits heute häufigere, schwerere und geographisch sich ausbreitende Zeichen des Klimakollaps. Wir werden zunehmend erleben, wie extreme Wetterereignisse, Überschwemmungen und Dürren das »business as usual« auf der ganzen Welt stören. Der Zyklon Idai zerstörte 90% der Großstadt Beira, als er 2019 über Mosambik hinwegfegte. Auch wenn sich die Einzelheiten des Klimawandels von COVID-19 unterscheiden, können sich die Volkswirtschaften nicht mehr auf lange Strecken relativ ungestörter »Normalität« verlassen.
Gerade deshalb müssen wir diese Krise zum Anlass nehmen, die Funktionsweise der Gesellschaft zu überdenken. Bei keinem Sektor ist dies dringender als bei der Energieerzeugung.
Die Forderung nach einem Green New Deal, die im letzten Jahr an Details und Rückhalt in der Bevölkerung gewonnen hat, ist genau für Momente wie diesen geschaffen. Der Green New Deal ist ein Plan für ein von der Regierung geleitetes Investitions- und Regulierungsprogramm zur Umgestaltung der Wirtschaft. Er will zugleich die rasant zunehmende Ungleichheit bekämpfen, gute und sichere Arbeitsplätze garantieren und CO²-Emissionen auf Null reduzieren. Der Plan ist Ausdruck einer längst überfälligen Politik, die zeigt, dass der Kampf um das Klima und der für soziale Gerechtigkeit in der Notwendigkeit vereint sind, dem Kapitalismus entgegenzutreten und eine neue wirtschaftliche Demokratie aufzubauen.
Angesichts dses derzeitigen Preisverfalls macht Deirdre Michie, Chefin von Oil & Gas Großbritannien, deutlich, dass der US-Markt zwar anders funktioniert als der britische, dass die Auswirkungen jedoch spürbar sein werden: »Unser Markt ist nicht nur ein Handelsmarkt; jeder verlorene Penny bedeutet mehr Unsicherheit für reale Arbeitsplätze.« Die Erdölindustrie ist eine zunehmend unzuverlässige Arbeitgeberin. Krisen wie diese werden wiederkommen, die Ölindustrie wird gezwungen sein ihre Fördermengen zu drosseln und Arbeitsplätze immer stärker gefährdet werden. Die Mitarbeiterinnen können sicher sein, dass die Sicherung von Arbeitsplätzen keine Priorität haben wird, wenn man die Entscheidung den Chefs und Aktionären überlässt, denen es in erster Linie darum geht, ihre Gewinne zu schützen. Wir können es deshalb nicht zulassen, dass ein Konflikt zwischen dem Schutz guter Arbeitsplätze und der Rettung des Klimas entsteht.
Wir machen uns noch gar nicht klar, mit welch einer Arbeitslosigkeit wir im Zuge der Erholung von der COVID-19-Pandemie konfrontiert sein werden. In den USA haben sich mittlerweile 22 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Ob die Unternehmen die gegenwärtige wirtschaftliche Stagnation überleben können, wird entscheiden, wie sich die strukturelle Massenarbeitslosigkeit entwickelt, doch mit Sicherheit wird es bald viele Menschen geben, die nicht sehr vielen Jobs nachjagen.
Dies ist der Moment, in dem die Prinzipien eines Green New Deal in die Tat umgesetzt werden können. Regierungen können den Aufschwung selbst anführen, indem sie in die Schaffung neuer Industrien in öffentlicher Hand investieren, die gleichzeitig Arbeitslosigkeit und Klimakrise angehen. Wir brauchen einen massiv ausgebauten Sektor für erneuerbare Energien, um Öl, Gas und Kohle zu verdrängen. Der anfängliche Aufbau dieser Industrie und Infrastruktur wird mittelfristig die Beschäftigung ankurbeln und gleichzeitig den Grundstein für die nachhaltige Wirtschaft der Zukunft legen.
Wenn wir sicherstellen, dass diese neuen Industrien aus öffentlichen Unternehmen bestehen, können Regierungen garantieren, dass die Arbeitsplätze gut bezahlt, sicher und gewerkschaftlich organisiert sind. Neben den erneuerbaren Energien sollten die Regierungen diesen Moment auch dazu nutzen, in die Sicherung der Gesellschaft und der Wirtschaft gegen künftige, durch den Zusammenbruch des Klimas ausgelöste Schocks zu investieren. In die Notfallversorgung muss verstärkt investiert werden, um auf die wachsende Bedrohung durch Klimafolgen zu reagieren.
Die Pandemie hat die Fragilität öffentlicher Dienste wie des Gesundheitswesens bei der Bewältigung neuer Krisen deutlich gemacht (als wären die Belastungen in normalen Zeiten nicht schon genug). Ein Großteil unserer physischen Infrastruktur wie Gebäude, Häuser und Straßen werden extreme Wetterereignisse nicht überleben und müssen modernisiert werden. All dies erfordert staatliche Investitionen, die sofort Arbeitsplätze garantieren, wo die Erdölindustrie dies nicht kann, und die unsere Wirtschaft an das Klimachaos anpassen, das mit Sicherheit kommen wird.
Die Erdölindustrie hat bereits Produktionskürzungen von rund 10 Prozent bei einbrechender Nachfrage vereinbart. Doch diese werden von der Industrie selbst verwaltet und führen zu Machtkämpfen unter den Produzenten. Wenn uns die letzten vier Jahrzehnte eines gezeigt haben, dann, dass wir dieser Industrie nicht trauen können, sich selbst zu managen. Es waren Unternehmen wie Exxon und Shell, die als erste wussten, dass ihre erdöl-, kohle und gasbetriebenen Industrien den Klimawandel verursachen. Nicht nur, dass sie es der Öffentlichkeit nicht sagten, sie finanzierten auch die Leugnung des Klimawandels und stemmten sich mit ihrer gesamten Lobbymacht gegen die bescheidensten Klimapolitiken.
Doch heute ist eine erhebliche Drosselung der Ölförderung unvermeidlich. Angesichts der Nachfragekrise, die durch den jetzigen Preisrückgang deutlich wird, als auch den sich verschärfenden Klimakollaps, der durch die Förderung und Verbrennung von Öl und anderen fossilen Brennstoffen verursacht wird, stellt sich eher die Frage nach dem Wann als nach dem Ob. Die Ölproduzenten werden diesen Rückgang nur zögerlich bewältigen und dabei ihre Gewinne so weit wie möglich zu sichern versuchen. Sie werden nicht annähernd schnell genug sein. Nicht wenn wir die Emissionen in dem Zeitrahmen senken wollen, der notwendig ist, um einen katastrophalen, außer Kontrolle geratenden Klimawandel zu vermeiden.
Genau am gegenwärtigen Punkt müssen Regierungen also bereit sein, einzugreifen und strenge Vorschriften einzuführen, um die planmäßige Schrumpfung der Erdölindustrie staatlicherseits zu bewältigen. Wir brauchen eine kontrollierte Abwicklung der Produktion fossiler Brennstoffe und gerechte Übergangsgarantien für alle dort arbeitenden Menschen weltweit. Wo Regierungen die Industrie für fossile Brennstoffe weiterhin subventionieren (durch Steuererleichterungen, Handelsbeschränkungen oder direkte Transfers), müssen diese sofort beendet werden. Es macht keinen Sinn, dass eine Regierung weiterhin eine Industrie aufbläht, die schleunigst abgeschafft werden muss.
Auch die Suche nach neuen fossilen Brennstoffen muss umgehend eingestellt werden. Investitionen in die Entdeckung neuer Reserven zwingen die Industrie, diese abzubauen und dann zu verbrennen, um ausreichende Erträge zur Deckung ihrer Kosten zu erzielen. Schließlich sollten die Regierungen den Bau aller neuen Infrastrukturen für fossile Brennstoffe, wie beispielsweise Öl-Pipelines, einstellen. Diese entstehen weiterhin überall auf der Welt, mit der aktiven Unterstützung von politischen Führungsfiguren wie Donald Trump, Justin Trudeau und der Europäischen Kommission. Indem sie Infrastruktur aufbauen, erweitern sie die Kapazität für den Öltransport. Durch die Kapazitätserweiterung zwingt man die Wirtschaft in eine erhöhte Produktion, die das Öl weiter durch die Pipelines fließen lässt.
Wie bei der Suche nach Ölquellen muss hinterher die Produktion erhöht werden, damit sich die Anfangsinvestition gelohnt hat. Wenn es unvermeidlich ist, dass die Produktion zurückgefahren wird, warum dann so viel in ihre Erweiterung investieren? Selbst wenn das Ende in Sicht ist, quetscht die Industrie für fossile Brennstoffe dem Planeten jeden noch so kleinen Profit ab. Liegt uns die Erhaltung eines lebenswerten Planeten am Herzen, müssen wir einfordern, dass das ohnehin Unvermeidliche jetzt geschieht.
Bei der Reaktion auf die Corona-Pandemie, die Klimakrise und den Ölpreisverfall sollten unsere Prioritäten als Gesellschaft die Menschen und der Planet sein, nicht die Profite des Fossil-Brennstoff-Kapitals. Donald Trump hat bereits angekündigt, dass seine Regierung als Reaktion auf den Preisverfall Öl für die nationalen Reserven kaufen wird. Wir brauchen eine andere Art der staatlichen Intervention. Diese Industrie hat zu viele letzte Chancen gehabt. Sie verdient es nicht, wiederbelebt zu werden. Die Regierungen sollten planen, sie zu verstaatlichen – um weitere kurzfristige Schocks zu vermeiden und ihren Niedergang mittelfristig in den Griff zu bekommen.
Der Einbruch des Ölpreises ist ein günstiger Zeitpunkt für alle Regierungen, die sich zu einer Energiewende verpflichtet haben, am Boden liegende Ölfirmen aufzukaufen und einen nachhaltigen Kurs für die Zukunft festzulegen. Die Ölvorräte haben sich von einem Einbruch Ende März, der die Preise auf neue Tiefststände brachte, noch immer nicht erholt – und es ist wahrscheinlich, dass die jüngste Krise sie noch weiter nach unten drücken wird. Da die Aktien der Unternehmen für fossile Brennstoffe ebenso unbeständig sind wie die Ölpreise, sollten sich die Regierungen darauf einstellen, weitere Einbrüche zu nutzen, um Mehrheitsbeteiligungen an den Unternehmen aufzukaufen.
Staatliche Subventionen für wettbewerbsfähige erneuerbare Industrien sind nur bis zu einem bestimmten Grad effektiv. Wollen wir die fossile Brennstoff-Industrie wirklich abschaffen – und den betroffenen Arbeiterinnen und Gemeinden soziale Gerechtigkeit garantieren – müssen wir sie in öffentliches Eigentum überführen, und ihren Rückbau als Teil eines planvollen Übergangs bewältigen. Die Loslösung der Öl-Industrie von ihrem gegenwärtigen Streben nach Profit ist der einzige Weg sicherzustellen, dass sie nicht all ihre verbleibenden Ressourcen dafür einsetzt, einen gerechten Wandel und einen Green New Deal zu untergraben.
Diese Strategie ist der einzige Weg dafür zu sorgen, dass Energie sauber ist, als öffentliches Gut behandelt wird und von öffentlichen Unternehmen allgemein als Grundrecht zur Verfügung gestellt wird. Wenn wir uns von der COVID-19-Pandemie erholt haben können wir nicht zur alten Normalität zurückkehren. In der Zukunft, die wir uns aufbauen, kann es für die verbrecherische Erdölindustrie keinen Platz geben.
Chris Saltmarsh ist Mitbegründer der Kampagne Labour for a Green New Deal, die sich im letzten Jahr erfolgreich dafür einsetzte, einen radikalen Green New Deal zum Ziel der Labour-Partei zu erklären.