03. Mai 2020
Bei der Öffnung der Schulen während der Corona-Krise haben Abschlussklassen Vorrang. Das zeigt, dass sich das Schulsystem nicht an den Prioritäten des Lernens orientiert. Ein genervter Lehrer berichtet.
Schüler bei einer Einzel-Prüfung.
In Harry Potter und der Orden des Phönix (2007) beschweren sich Harry, Ron und Hermine, dass sie im Fach »Verteidigung gegen die dunklen Künste« keine praktische Zauberei lernen. Die neue Lehrerin, Dolores Umbridge, erwidert: »Im Ministerium vertritt man die Auffassung, dass eine theoretische Einweisung vollauf ausreicht. Ziel ist doch, dass Sie Ihre Examina bestehen. Das ist ja wohl der Grund, wieso Sie überhaupt in der Schule sind!«
Das Schulsystem in Berlin, wo ich unterrichte, gibt sich alle Mühe nicht diesen Eindruck zu vermitteln. Soziale Kompetenzen stehen im Vordergrund, Inklusion wird großgeschrieben, Gemeinschaftsschulen gefördert wie in keinem anderen Bundesland. Berlin ist Vorreiterin bei der Einbindung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Unterricht und hat kürzlich Politische Bildung zum eigenständigen Schulfach gemacht. Laut Schulgesetz ist das Ziel Berliner Schulen:
»die Heranbildung von Persönlichkeiten ... welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus ... entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.« (§ 1 BerSchulG)
Auftritt Corona-Krise: sie trägt zwar weniger Pink als Dolores Umbridge, ist aber eine genauso strenge Lehrmeisterin. Denn auch sie lehrt uns, was hinter all den schönen Worten steht: Man geht in die Schule, um Prüfungen zu bestehen. Inmitten der Pandemie entschied die Senatsverwaltung für Bildung die Prüfungen für die neunten und zehnten Klassen zwar abzusagen, die prüfungsnahen Klassen jedoch trotzdem direkt wieder in die Schule zu holen.
Kurz gesagt: Das Land Berlin geht ein erhöhtes Infektionsrisiko dafür ein, dass man Neunt- und Zehntklässlerinnen auf Prüfungen vorbereiten kann, die ausfallen. Und man weitet diese Logik der Prüfungsnähe dann auf andere Jahrgängen aus, die allesamt alt genug sind, dass sie keine Betreuung brauchen.
Ließe man die Logik der Prüfungen beiseite, müsste eine ganz andere Gruppe im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen: die Grundstufe der Klassen 1 bis 6, für die bisher die sogenannte Notbetreuung angeboten wurde. Grundstufenschülerinnen können nicht ganztags alleine gelassen werden. Ihre Betreuung erfordert auf Seiten der Eltern also eventuell Kurzarbeit, Teilzeit oder gar den Verzicht auf Erwerbsarbeit überhaupt. In der Grundstufe werden Schülerinnen und Schüler alphabetisiert, sie erlernen grundlegende Sozialkompetenzen. Am schwersten haben es damit die Kinder, die zuhause missbraucht oder vernachlässigt werden. Wenn also irgendwer Bedarf hat, als erstes wieder in die Schule zu gehen, dann sind es die Jüngsten – und nicht die Ältesten.
Doch nicht für Sozialkompetenz und Alphabetisierung gehen Kolleginnen und Kollegen – auch solche über 60 oder mit Vorerkrankungen – teils freiwillig zurück in den Dienst, sondern um ihre Schülerinnen »bis zum Abschluss« zu begleiten. Weniger schön könnte man sagen: Man will sie bis zur Selektion begleiten.
So entpuppen sich Antidiskriminierungsarbeit und Demokratie-Erziehung an Schulen in der Krise als Feigenblätter für die systemerhaltende Trennung der »bildungsnahen« von »bildungsfernen« Schichten. Denn die wohlhabenden Milieus verlassen sich auf ein System, in dem ihre Kinder davon profitieren, dass arme und prekäre, oft nicht-weiße Milieus ausgeschlossen werden. Es gibt viele Kollegien, Schulen und Schulformen, die regelmäßig an ihre Grenzen gehen, um diesem System des Ausschlusses ein paar anekdotische Einzelfälle abzutrotzen. Einzelfälle, die sich bestens für die Maskerade der Meritokratie eignen, die allen gleiche Chancen verspricht und damit die Schuld des Versagens den Schülerinnen und Schülern sowie ihren Eltern zuschiebt.
Doch es reicht, dass eine Lehrkraft wie Remus Lupin durch eine wie Dolores Umbridge ersetzt wird: schon wird das Schwert der Selektion nicht mehr pädagogisch-empathisch geschwungen, sondern nach der brutalen Logik von zentralen Prüfungen. Wer für die Prüfung nicht passend gemacht wurde, kommt auf die Abstellgleise des Systems. Sei es durch prekäre Arbeit, Behindertenwerkstätten, Gefängnis oder Hartz IV. So macht die Krise uns Lehrende zu albernen Umbridge-Kopien, die so tun müssen, als wären Prüfungen der Sinn und Zweck des Schulsystems – obwohl sich eben diese Prüfungen gerade als verzichtbar erwiesen haben.
Und sie lehrt uns, dass sich die Schule heute nicht an den Bedürfnissen des Lernens, sondern an denen der Klassenhierarchie orientiert – trotz aller Demokratisierungsversuche. Prüfungen sind pädagogisch verzichtbar, unverzichtbar sind sie nur für die kapitalistische Selektion. Auch wir Lehrende sollten dies in Erinnerung behalten, wenn wir uns in Zukunft für ein besseres Schulsystem organisieren. Prüfungen sind nicht nur ein lästiger Zusatzaufwand für alle Beteiligten, sie sind auch das ideologische Instrument einer ungerechten Gesellschaft.
Ryan Plocher ist Lehrer an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln und aktives Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Ryan Plocher ist Lehrer an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln und aktives Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).