05. Mai 2021
Massenhaftes Impfen hat oberste Priorität. Um auch Impfskeptiker davon zu überzeugen, sollten wir nicht blindes Vertrauen in das Wissen von Experten fordern. Denn eigentlich ist der Zweifel ein Grundprinzip von Wissenschaft und Forschung.
Um die Impfbereitschaft zu erhöhen, muss auch die Skepsis ernst genommen werden.
Ein sonderbares Phänomen unseres postfaktischen Zeitalters ist, dass es eine Flut an Fakten hervorbringt. Durch die immer weiter steigende Zahl und Komplexität dieser Fakten, büßen sie ihre Erklärungskraft ein. Dies wiederum erzeugt einen Skeptizismus, der für das öffentliche Vertrauen in die Wissenschaft besonders fatal ist. Trotz einiger Belege, die zeigen, dass das Vertrauen in die Wissenschaft weltweit hoch bleibt und im Zuge der Pandemie vielleicht sogar gestärkt wurde, wächst die Angst vor der Überzeugungskraft dieser Skepsis – und mit ihr die Zahl der Vorschläge, wie man ihr entgegenwirken und den Wert der Wissenschaft behaupten kann.
Während sich die Diskussion über das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft noch vor einem Jahr auf die Leugnung des Klimawandels konzentrierte, ist jetzt die Impfskepsis in den Fokus gerückt. Zu einer Zeit, in der die Gefahren der Klimakrise immer bedrohlicher werden und die Zahl der Todesopfer einer zoonotischen Pandemie immer weiter in die Höhe schießt, floriert – vor allem online – eine Kultur, die jene wissenschaftlichen Ergebnisse leugnet, die die kausalen Zusammenhänge zwischen unseren Problemen erklären könnten.
Angesichts der im Internet vorherrschenden Tonlage ironischer Distanz und einer Fülle scheinbar vergleichbarer und doch widersprüchlicher Fakten, scheint die Auseinandersetzung mit dieser weit verbreiteten Skepsis beinahe aussichtslos. »Don’t feed the trolls«, also den Trollen keinen Anlass bieten, bleibt die gängigste Empfehlung – oder, wie Hegel es vielleicht formuliert hätte: »Umso schlimmer für die Fakten.«
Trotz der inhaltlichen Verschiebung vom Klimawandel auf die Pandemie bleibt der vorherrschende Ansatz zur »Heilung« dieses Skeptizismus derselbe: Man solle die Skepsis durch die Präsentation weiterer Beweise anfechten, logische Fehlschlüsse aufzeigen und darauf hinweisen, dass bestimmte Akteure ein Interesse daran haben, Unwahrheiten zu verbreiten. Aber ist es überhaupt zielführend, die Widerstände gegen ausgewählte wissenschaftliche Sachverhalte als Teil einer allgemeineren Kultur des Leugnens aufzufassen?
Sicherlich, die Art und Weise, mit der sich die Skepsis gegenüber unterschiedlichen wissenschaftlichen Standpunkten verbreitet, weist strukturelle Ähnlichkeiten auf: mangelhafte oder veraltete Forschung wird fehlinterpretiert, Statistiken werden sehr selektiv verwendet und so kippt – durch den Strudel der Algorithmen – der Zweifel schnell um in einen Glauben an Verschwörungsmythen. Aber nur weil viele Menschen ihre Zweifel an den Ergebnissen und Anwendungen der modernen Wissenschaft im Internet äußern, bedeutet das nicht, dass diese Bedenken alle von der gleichen grundlegenden Irrationalität getrieben werden.
Die Existenz des Klimawandels abzustreiten und die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit eines im Schnellverfahren entwickelten Impfstoffs sind eindeutig zwei unterschiedliche Dinge. Wie Bernice L. Hausman, Autorin des Buches Anti/Vax: Reframing the Vaccine Controversy, schreibt: »Die Ähnlichkeiten in der Rhetorik sollte man nicht mit den Dingen verwechseln, die den Menschen tatsächlich Sorgen machen.« Aber warum wird überhaupt so oft so getan, als gäbe es da keinen Unterschied?
Wenn man jede Widerrede gegen die Ergebnisse der Wissenschaften als Ausdrucksformen ein und derselben Weigerung versteht, dann erscheint es, als könne man viele verschiedene Formen des Zweifels auf einmal in den Griff bekommen. Indem man die Unterschiede ausblendet, hat man nur noch ein Problem – also eine handhabbare Zahl – anstatt unzählige Bedenken, die mit dem Fortschritt der Wissenschaften nur noch weiter anwachsen.
Wenn die Analyse besagt, dass alle diese Weigerungen einen gemeinsamen Überbau haben, dann kann auch ein Massenheilmittel entwickelt werden, das alle diese Probleme auf einmal löst. Die Behauptung, dass die irrationale Leugnung extrem unterschiedlicher Themenbereiche auf eine allgemein gültige Formel herunterzubrechen sei, reduziert jedoch die historischen und materiellen Grundlagen der Bedenken auf ein bloßes Anhäufen individueller Irrtümer, gegen die mit einer erhöhten Aufklärung vermeintlich vorgegangen werden kann.
Doch dieser Ansatz erzeugt für die Linke einen Widerspruch. Auf der einen Seite möchte man die Widerstände der Menschen verstehen, die zu hören bekommen, dass sie beim Wohlergehen ihrer Selbst und ihrer Familien auf das Wort der Pharmakonzerne und der Regierung vertrauen sollen. Auf der anderen Seite müssen die Skeptikerinnen und Skeptiker davon überzeugt werden, dass die Handlungen von Staat und Kapital in diesem Fall zu begrüßen sind – ungeachtet ihrer sonst oft verdächtigen Motive.
Man muss keine Anhängerin von Verschwörungsmythen sein, um festzustellen, dass sich das globale Agrobusiness, das die Pandemie verursacht hat, auf dem gleichen Gebiet betätigt wie die großen Pharmakonzerne – eine Verbindung, auf die Mike Davis schon seit längerer Zeit hinweist. Die Skepsis, die sich aus dieser Beobachtung ergibt, fragt lediglich, warum man die Lösung eines Problems, dass durch einen Zweig der angewandten profitorientierten Wissenschaft erzeugt wurde, ausgerechnet von dem anderen Zweig profitorientierter Wissenschaft erwarten sollte.
In der Auseinandersetzung mit dieser Frage stößt man auf ein weiteres Paradox für die Linke: nämlich dass den Handlungen des Kapitals mit größtem Misstrauen begegnet werden soll – außer, wenn sie sich mit der scheinbar wertfreien Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse überschneiden. Die Investitionstätigkeiten von Pfizer? In jedem Fall verdächtig. Die Labortätigkeiten von Pfizer? Objektiv, neutral und um jeden Preis zu akzeptieren. Zwar ist die Wirksamkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in den verschiedensten Kontexten unbestreitbar. Dennoch haben die wirtschaftlichen und politischen Mächte, die unser tägliches Leben bestimmen, ohne Zweifel einen Einfluß darauf, welche Fragen sich die Wissenschaft überhaupt stellt.
Strikte Impfverweigerer gibt es nur wenige, die Zahl der Impfstoffskeptiker ist weitaus größer. Deren Bedenken beruhen in der Regel nicht auf einem Mangel an Informationen oder Verständnis – viele von ihnen sind gut ausgebildet und informiert, einige sind sogar selbst Medizinerinnen und Mediziner. Ihr Unbehagen gründet vielmehr auf dem realen Mangel an Sicherheit in der gegenwärtigen Informationslage.
Wie wir wissen, ist diese Skepsis gegenüber der Art und Weise, wie die Wissenschaft – und insbesondere die medizinische Wissenschaft – funktioniert, bei vielen Gruppen durchaus begründet. Länder, deren medizinische Versorgung heute den Anspruch erhebt, unvoreingenommen und völlig frei von Vorurteilen zu sein, haben oft eine lange Geschichte, in der im Namen der Wissenschaft unmenschliche Experimente an Minderheiten vorgenommen wurden.
»Wenn wir darauf bestehen, dass der Wissenschaft in allen Fällen gefolgt werden sollte, untergraben wir die skeptischen Grundlagen der Wissenschaft und verwandeln sie stattdessen in eine dogmatische Religion.«
Was wäre, wenn wir die Bedenken der Menschen ernst nehmen würden, die glauben, dass die Motive der Wissenschaft vielleicht doch nicht immer fortschrittlich sind? Was wäre, wenn wir die Rationalität des Wissenschaftsskeptizismus anerkennen würden, anstatt zu versuchen, diese Zweifel in Fakten zu ertränken und uns auf die Irrationalität der Ablehnung der Ergebnisse der positivistischen Wissenschaft zu konzentrieren?
Wenn dazu aufgerufen wird, sich mit Skeptikerinnen und Skeptikern auseinanderzusetzen, dann nur um das vermeintliche falsche Bewusstsein dieser Ungläubigen geradezubiegen. Man soll sie davon überzeugen, dass wir die Ergebnisse der Wissenschaft nicht auf Grundlage unserer eigenen alltäglichen Beobachtungen anzweifeln können. Aber diese psychologische Strategie drängt uns dazu, entweder unkritisches Vertrauen in die Wissenschaft zu predigen und diejenigen moralisch zu verurteilen, die anders denken, oder für unkritisches Vertrauen in die Wissenschaft einzutreten und dabei paternalistische Sympathie für diejenigen auszusprechen, die anders denken.
Weder Verurteilung noch Sympathie sind ein effektiver Ansatz, um jemanden davon zu überzeugen, seine Meinung zu ändern – zumal wenn sich diese Meinung auf einer Erfahrungsgrundlage gebildet hat. Bei beiden Ansätzen ist das unkritische Vertrauen in die Wissenschaft die Wurzel des Problems. Wenn wir uns weigern anzuerkennen, dass auch die wissenschaftliche Methode ungewiss und kontingent sein kann, und stattdessen darauf bestehen, dass der Wissenschaft in allen Fällen gefolgt werden sollte, diskreditieren wir nicht nur die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft, sondern auch ihre Methoden selbst. Wir untergraben die skeptischen Grundlagen der Wissenschaft und verwandeln sie stattdessen in eine dogmatische Religion.
Ungewissheit, Kontingenz und Zweifel sind zentrale und belebende Prinzipien der Forschung. Ein besseres Verständnis der vorsichtigen Neugier, mit der die wissenschaftliche Methode vorgeht – soweit sie sich überhaupt als etwas Singuläres beschreiben lässt –, würde mehr Menschen in die Art von dringlichen Debatten verwickeln, die der Soziologe Dylan Riley kürzlich forderte. Der Konsens der Linken während der Pandemie lautete, dass in Zeiten der Krise das Vertrauen in die Autorität des Fachwissens ein notwendiger Kompromiss mit dem Liberalismus sei. Nur die Wissenschaft könne uns aus diesem Schlamassel heraus- und zur Politik zurückführen.
Doch diese Auffassung erweist nicht nur den Methoden der Wissenschaft einen Bärendienst, sondern, wie Riley betont, auch einer der wenigen Stärken des Liberalismus: schließlich ist dieser ein System politischen Denkens, das auf rationalen Debatten und nicht auf blindem Vertrauen beruht. Wie Riley es ausdrückt: »Warum sollte man nach den Debakeln des Irakkriegs 2003 und der Finanzkrise 2008 überhaupt noch auf Experten vertrauen? Dieses Argument weist mit ganzer Kraft auf die Notwendigkeit einer drastischen Reform der materiellen und sozialen Bedingungen für die Produktion von Belegen hin.«
Skepsis ist nicht nur die Methode, die das Beste aus der Wissenschaft herausholt; sie ist die Grunddisposition des Experimentierens, die lästige Stimme, die jede aufregende Hypothese mit einem quengelingen »beweis’ es mir« quittiert. Die ständige Infragestellung und Rechtfertigung sind notwendige Bestandteile des wissenschaftlichen Prozesses, der den Anspruch erhebt, die natürliche Welt in menschlichen Begriffen zu beschreiben. Thematisch spezifischen Skeptizismus von der allgemeinen Wissenschaftsleugnung zu unterscheiden, ist ein erster Schritt, um den Nutzen der Skepsis anzuerkennen und sie umfassender anzuwenden: denn diese ist nicht nur den unlauteren Geschäftspraktiken oder der Klüngelei von Wirtschaft und Regierung entgegenzubringen, sondern auch den Behauptungen, welche eine Wissenschaft, die in diese korrupten Systeme verstrickt ist, hervorbringen könnte.
Dass das Impfen einen Fortschritt bedeutet, sollte über jeden Zweifel erhaben sein. Aber diejenigen, die dem skeptisch gegenüberstehen, werden sich nicht überzeugen lassen, indem man ihnen eine Masse wissenschaftlicher Belege serviert oder ihnen bei jeder Gelegenheit die Faktenkeule um die Ohren haut. Der Stellenwert wirtschaftlicher Interessen in der Wissensproduktion lässt sich im Fall der Pharmazie besonders leicht demonstrieren, wo das Profitmotiv so augenscheinlich ist. Doch wie die Medizin- und Technikhistorikerin Caitjan Gainty vom Healthy Scepticism Project betont, wird die Wirksamkeit der Impfstoffe gerade durch die Notwendigkeit des Systems sichergestellt: Wie jede andere Industrie, die sich vermarkten muss, sind auch Pharmaunternehmen auf das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher angewiesen.
Außerdem ist es wichtig, weiterhin zwischen kommerzieller und akademischer Wissenschaft zu unterscheiden, auch wenn die Universitätslabore zunehmend von der Finanzierung durch Unternehmen abhängig sind. Hier geht es nicht darum, alle möglichen Quellen von Korruption trockenzulegen, welche die Produktion objektiver und neutraler Wissenschaft im Labor beeinträchtigen; das Argument ist vielmehr, dass es eine solche Wissenschaft überhaupt nicht gibt. Doch wir können die politischen und wirtschaftlichen Einflüsse kontrollieren, die den Forschungsprozess anleiten.
Es sollten so viele Menschen wie möglich so schnell wie möglich geimpft werden. Was einige davon abhält, dem vorbehaltlos zuzustimmen, ist nicht ein ignoranter Skeptizismus ihrerseits, sondern die pauschale Weigerung unsererseits, Zweifel und Unsicherheit als rationale und berechtigte Positionen gegenüber den Direktiven der Macht zu behandeln.
Caitlín Doherty ist Autorin und Technik- und Wissenschaftshistorikerin.
Caitlín Doherty ist Autorin und Wissenschaftshistorikerin.