13. Juni 2021
Schon vor der Pandemie stand die Exportsucht in Frage. Und damit auch die Macht der Gewerkschaften.
Produktion im VW-Werk Wolfsburg
Was in Deutschland für den Normalbetrieb gilt, verhält sich auch im Ausnahmezustand nicht anders: Die Exportindustrie ist unantastbar. Während Privatleben, Hobbies und Kultur für die Pandemiebekämpfung zurückstecken müssen, treffen sich Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Tag zu Hunderten in den Fabriken zu teils schwerer körperlicher Arbeit mit hohem Infektionsrisiko. Die Weigerung der Politik, wirksame Schutzmaßnahmen gegen Corona zu verhängen, offenbart aufs Neue die immense Macht und Bedeutung der verarbeitenden Industrie.
Entgegen der landläufigen Wahrnehmung exportiert Deutschland allerdings nicht nur Oberklasse-Autos und Maschinen, also hochwertige Konsum- und Kapitalgüter. Das verarbeitende Gewerbe ist in Deutschland sehr breit gefächert – vom Tönnies-Schlachthof bis hin zur Computerchipfabrik. Entsprechend gehen auch die Pandemieerfahrungen der in der Produktion beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter weit auseinander.
Die verschiedenen Produktivitäts- und Lohnniveaus in den einzelnen Branchen führen zu unterschiedlichen Lebensrealitäten unter den Beschäftigten. Ebenso haben diverse Spielarten von Leiharbeit, der Anteil migrantischer Arbeit und ungleiche gewerkschaftliche Organisationsgrade eine gewisse Spaltung der Arbeitenden zwischen Branchen und Regionen, aber auch zwischen Stamm- und Leiharbeitern zur Folge. Einen »typischen« Industrie arbeiter gibt es in Deutschland nicht.
Während die Beschäftigten in Niedriglohnsektoren wie der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie in der Pandemie um ihre Gesundheit bangen müssen, überwiegen in anderen Sektoren oftmals wirtschaftliche Sorgen. Laut einer Studie des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück sind Arbeiterinnen und Arbeiter in der Chemieindustrie »relativ glimpflich« durch die Zeit des ersten Lockdowns gekommen. In der Metall- und Elektroindustrie waren dessen wirtschaftliche Auswirkungen hingegen sehr viel deutlicher zu spüren. Laut der IG Metall gingen im vergangenen Jahr in den von ihr vertretenen Branchen fast 140.000 Stellen verloren.
Doch die Turbulenzen der Metallbranche lassen sich nicht ausschließlich auf die Pandemie zurückführen. In der Automobilindustrie waren die Aufträge bereits seit Anfang 2018 rückläufig. Die Branche steht vor einem technologischen Umbruch hin zur E-Mobilität, auf den sie in Deutschland nur schlecht vorbereitet ist. Das bedroht nicht nur industrielle Arbeitsplätze, sondern zunehmend auch das deutsche Tarifmodell.
Während in Berlin-Marienfelde das von massivem Stellenabbau bedrohte Daimler-Werk in Kooperation mit Siemens zu einem der weltweit modernsten Standorte für Elektromobilität umgebaut werden soll, wird der Einzug von Tesla in Brandenburg einen Präzedenzfall schaffen: Entweder wird der gewerkschaftsfeindliche US-amerikanische E-Autobauer die weltweit erste Gewerkschaft im eigenen Hause dulden müssen. Oder Tesla schafft es, sich der deutschlandweiten Tarifbindung auf Dauer zu entziehen – und könnte damit das gesamte Tarifmodell ins Wanken bringen.
»Deutsche Unternehmen und Regierungen setzen alles daran, die Edel- Werkbank der Welt zu bleiben.«
Die IG Metall könnte aus mehreren Gründen Schwierigkeiten bei der Mobilisierung haben: Tesla hat sich mit Grünheide für eine strukturschwache Region als Standort entschieden – eine Vielzahl der Arbeiterinnen und Arbeiter wird auch ohne Tarifbindung ein vergleichsweise sehr gutes Gehalt bekommen und die anfängliche Euphorie über die neuen Jobs wird zunächst über eventuelle Arbeitsrechtsverstöße hinwegtäuschen. Ähnliches war 2017 in der rheinland-pfälzischen Eifel bei der Übernahme des deutschen Maschinenbauers Grohmann durch Tesla zu beobachten. Bis heute hat sich das Unternehmen dort erfolgreich gegen Tarifverträge gewehrt und sich im vergangenen Jahr eine Untersuchung wegen Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz eingehandelt.
Die Tesla-Fabrik in Brandenburg ist die erste ihrer Art in Deutschland. Die IG Metall hat es mit einem ihr beinahe unbekannten Unternehmen zu tun – und das bedeutet, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter von der Pike auf mobilisiert werden müssen. Ihre erfolgreiche Organisation liegt also vor allem in den Händen der Beschäftigten selbst – die Gewerkschaft kann dabei vorerst nur unterstützend wirken.
Mit ihrer »Lohnzurückhaltung« und der Prekarisierung durch Leiharbeit ist Deutschlands Wirtschaftspolitik fundamental darauf ausgerichtet, einen billigen Produktionsstandort zu bieten. Anders als die angelsächsische Welt, deren Volkswirtschaften von Dienstleistungen und vom Bankensektor dominiert werden oder die Rohstoffexporteure im Globalen Süden, deren Volkswirtschaften oft am Preis einer einzigen Ressource hängen, setzen deutsche Unternehmen und Regierungen alles daran, die Edel-Werkbank der Welt zu bleiben.
Die deutsche Rolle als Industrieexporteur lässt sich teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als das wilhelminische Kaiserreich aggressiv versuchte, industriepolitisch mit Großbritannien gleichzuziehen. Die Marke »Made in Germany« wurde vom britischen Parlament eingeführt, um billigen Importramsch zu kennzeichnen. In der Weimarer Republik versuchten die Regierungen, einen konstanten Exportüberschuss zu erwirtschaften, um Reparationszahlungen bedienen zu können. Doch erst durch die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung wurde das deutsche Exportmodell zur alles dominierenden wirtschaftlichen Strategie: Da der Wechselkurs des Euro für Deutschland eigentlich zu niedrig ist, wurden die deutschen Exporte künstlich verbilligt.
Die Exportstärke von Industrieländern wie den Niederlanden – aber auch Italien, dem zweitgrößten EU-Industriestandort nach Deutschland – macht den Euro zu einer »harten«, also besonders stabilen Währung. Weil die Eurozone dem Rest der Welt eine breite Palette gefragter Produkte anbieten kann und leicht an ausländische Devisen kommt, hat sie großen wirtschaftspolitischen Spielraum – anders als viele Länder des Globalen Südens.
Da gleichzeitig chronische Unterbeschäftigung herrscht, könnte sich der Euroraum eine expansive Fiskalpolitik problemlos leisten. Das ist aber politisch nicht erwünscht. Europa könnte, wenn es denn wollte, durch einen Green New Deal und den Wiederaufbau der öffentlichen Dienstleistungen Arbeit für die Millionen von perspektivlosen jungen Menschen an seiner Peripherie schaffen, ohne dass das den Euro erheblich abwerten würde. Dennoch zieht man es vor, nichts gegen die verzweifelte Lage im Süden Europas zu unternehmen – denn die Massenarbeitslosigkeit hält die Verhandlungsmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem ganzen Kontinent klein.
Das Beispiel Italien zeigt, dass Exportüberschüsse und hohe Arbeitslosigkeit durchaus gleichzeitig auftreten können. Der Hauptgrund für die wirtschaftliche Stagnation des Landes, die sich im Alltagsleben überall niederschlägt und einen massiven Brain Drain verursacht, sind die seit Jahrzehnten zu geringen öffentlichen Investitionen.
Infrastruktur, Universitäten, Sozialstaat und öffentliche Dienstleistungen hinken dem Standard anderer Länder hinterher; auf dem Arbeitsmarkt herrscht strukturelle Unterbeschäftigung; das Lohnniveau für die Jüngeren ist miserabel. Derweil werden gerade im industriellen Norden von Italien weiterhin hochtechnologische Exportprodukte gefertigt – zum Beispiel die riesigen Aluminiumgussmaschinen des Herstellers Idra aus Travagliato in der Lombardei für das Tesla-Werk in Grünheide –, ohne dass die italienische Gesellschaft als Ganze spürbar davon profitiert. Auf diese Zukunft steuert auch Deutschland zu.
Ob es nun um erneuerbare Energien, klimaneutrale Industrieanlagen oder Alternativen zum Privatauto mit Verbrennungsmotor geht: Die deutsche und europäische Industrie verliert den Anschluss. Der jahrzehntealte Investitionsstau macht sich bemerkbar – Wirtschaftsbosse und Politik sind dem Irrglauben aufgesessen, die bestehende Strategie würde sich ewig halten, und haben es verschlafen, das industrielle Modell weiterzuentwickeln.
Zwar wagen Teile des europäischen Establishments unter dem Schlagwort der »strategischen Autonomie« eine vorsichtige Rückbesinnung auf klassische Industriepolitik: Im Rahmen des europäischen Green Deal wird über Schutzzölle für klimaschädliche Importe (sogenannte Carbon Border Adjustments) nachgedacht, die den Umstieg auf ein klimafreundlicheres Wirtschaften erleichtern sollen. Die strategischen Anpassungen erfolgen allerdings im Schneckentempo.
Während Joe Biden in den USA plant, weit mehr als 2.000 Milliarden Dollar in die Infrastruktur und in den ökologischen Umbau der Wirtschaft zu investieren, muss in Deutschland auch ein Jahr nach Beginn der Pandemie und im Angesicht der Klimakrise immer noch jede Investition detailliert begründet werden. Über eine Abschaffung der Schuldenbremse wird nur zaghaft nachgedacht, wenn überhaupt.
Diese Fehlentwicklungen stellen nicht nur das deutsche Wachstumsmodell, sondern auch das eingeübte Tarifmodell in Frage. Großkonzerne wie Tesla und Amazon, die sich gegen die Tarifpartnerschaft sträuben, stellen die Gewerkschaften vor große Herausforderungen. Es wird sich zeigen, ob der industrielle Wandel in Deutschland durch eine Ausweitung der Tarifbindung sozialverträglich gestaltet werden kann oder die deutschen Gewerkschaften unerprobte, radikalere Wege beschreiten müssen.
Einen solchen Weg hat die von der IG Metall begleitete Teilübernahme der Schwäbischen Hüttenwerke durch ihre Belegschaft vorgezeichnet. Hier gelang es den Beschäftigten nach jahrelangem Kampf, die Zukunft ihres Betriebs im baden-württembergischen Königsbronn zu sichern, indem sie 15 Prozent ihres Lohns sowie ihr gesamtes Weihnachtsgeld für die Übernahme von zunächst einem Drittel der Unternehmensanteile aufbrachten. Zusätzlich errangen sie ein Vorkaufsrecht auf die verbliebenen zwei Drittel des Unternehmens von den aktuellen Anteilseignern.
Sollte das Beispiel aus Königsbronn Schule machen, könnte Deutschland statt Kahlschlag, Massenarbeitslosigkeit und Stagnation nichts geringeres als eine industrielle Demokratisierung bevorstehen. Die strukturellen Voraussetzungen wären durchaus günstig: Viele Betriebe stellen attraktive Produkte her und haben Spielraum für Investitionen. Doch der demokratische und ökologische Umbau der Produktion vollzieht sich nicht von alleine. Die politische Folgenlosigkeit der in den vergangenen Monaten ans Licht gekommenen, zum Teil unmenschlichen Arbeitsbe dingungen in Konzernen wie Tönnies oder Amazon zeigt einmal mehr: Die Beschäftigen müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.