20. September 2021
Nach 20 Jahren hat sich gezeigt: Der Krieg gegen den Terror hat den Terrorismus nicht bekämpft, sondern gefördert. Zeit für ein Umdenken – auch in der deutschen Außenpolitik.
Nach dem Anschlag auf das WTC eröffneten die USA einen Krieg »gegen jede global agierende Terrorgruppe«, der zum Scheitern veurteilt war.
Vor zwanzig Jahren entführten Terroristen von al-Qaida vier amerikanische Flugzeuge. Zwei flogen in das World Trade Center, eines in das Pentagon und ein weiteres konnte auf ein Feld in Pennsylvania umgelenkt werden, weil mutige Passagiere eingriffen. Fast 3.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Der bis zu diesem Zeitpunkt unvorstellbare Terror auf amerikanischem Boden veränderte das Gesicht der Zeit.
Das US-amerikanische Abgeordnetenhaus und der Senat stimmten beinahe einhellig für einen Krieg gegen die Verantwortlichen von 9/11. Barbara Lee, Abgeordnete aus Kalifornien, mahnte als einzige zur Besonnenheit und stimmte dagegen. Damals wurde sie dafür angefeindet. Heute wird sie auf Netflix und im Kabelfernsehen interviewt. Die reale Wucht der Ereignisse machte aus der Ausgestoßenen eine Prophetin.
Präsident George W. Bush schwor die USA und die Welt auf einen Krieg mit offenem Ende und unbestimmtem Ausmaß ein: »Unser Krieg beginnt mit al-Qaida, aber er wird dort nicht enden. Der Krieg hört erst dann auf, wenn jede global agierende Terrorgruppe gefunden, gestoppt und besiegt wird … Amerikaner sollten sich nicht nur auf einen Kampf, sondern auf eine lange Kampagne gefasst machen, die anders sein wird als alles, was wir bisher gesehen haben.«
Der Krieg gegen den Terror begann in Afghanistan. Keiner der Terroristen von 9/11 war ein Afghane. Bekanntermaßen hatten die meisten von ihnen einen saudi-arabischen Pass, waren also Bürger eines anderen islamistischen Staates. Da aber Saudi-Arabien ein Verbündeter der USA und Europas war, kam es für den Demokratie-Export nicht in Frage.
Es gab aber einen anderen guten Grund, um in Afghanistan zu intervenieren: die Taliban. Mit Gewalt, Patriarchat und Puritanismus hatten sie das Land fest im Griff und beherbergten die Terrorbrüder um Osama bin Laden. Auch gegen den Irak zogen die USA ins Feld, obwohl sich im Gegensatz zu Afghanistan keine Verbindung zu den Terroranschlägen von 9/11 nachzeichnen ließ. Der Krieg gegen den despotisch regierten Irak wurde dennoch unter dem Banner des »War on Terror« und der Demokratisierung ausgetragen.
»Der Krieg gegen den Terror gilt als gescheitert. Das lassen heute selbst jene Medien verlauten, die eben diesen Krieg damals herbeigeschrieben hatten.«
Als Verteidigungskrieg galt der Angriff auf Afghanistan als gerechtfertigter, »guter« Krieg während der Einsatz im Irak als Angriffskrieg gegen internationales Recht als »schlechter« Krieg interpretiert wurde. Heute, nachdem die Taliban das Kartenhaus westlich aufgebauter Staatlichkeit nur eine Woche nach dem Abzug der Truppen weggefegt haben, ist diese Unterscheidung kaum aufrechtzuerhalten. Der Krieg gegen den Terror gilt als gescheitert. Das lassen nun selbst jene Medien verlauten, die eben diesen Krieg damals herbeigeschrieben hatten. Zwischen Floskeln und Phrasen bleibt dabei unklar, worin man dieses »Scheitern« genau begründet sieht.
In den letzten Wochen wurde das Versagen des Westens in der deutschen Debatte auf den vermasselten Abzug aus Afghanistan reduziert. Dass die Bundeswehr zuerst ihre Biervorräte und einen riesigen Gedenkstein ausflog, bevor sie sich um die afghanischen Helferinnen und Helfer vor Ort zu kümmerte, ist sicherlich an Zynismus kaum zu überbieten. Doch versagt, hat der Westen schon früher – und zwar zwanzig Jahre lang.
Der Krieg ist in dreierlei Hinsicht gescheitert. Erstens wurde das eigentliche politische Ziel verfehlt. Nach zwanzig Jahren Terrorbekämpfung ist der Terror vor Ort heute ausgeprägter als zuvor: Al-Qaida zog zwar aus Afghanistan ab, aber erfand sich im Irak neu. Und der Zusammenbruch des Iraks ebnete den Weg für den Aufstieg von ISIS.
Zweitens ist der Westen in Afghanistan und im Irak auch geopolitisch gescheitert. Vor Kriegsausbruch war der westliche Einfluss in Zentralasien und im Nahen Osten größer als jetzt. Während in Afghanistan wieder die Taliban herrschen, sieht es im Irak aus westlicher Sicht noch schlechter aus. Den größten Einfluss hat dort schon seit längerem der amerikanische Feind Iran, der seine Regionalmacht Dank des »War on Terror« ausbauen konnte.
Zuletzt bedeutet der Krieg gegen den Terror ein humanitäres und ein moralisches Scheitern. Laut dem Costs of War Project der Brown University starben allein durch die Kriege in Afghanistan und dem Irak über 900.000 Menschen – die meisten davon Zivilisten.
Dieses dreifache Scheitern lässt sich auf eine Ursache zurückführen, nämlich das »State Building«. Gemeint ist hier der zumindest auf dem Papier bezeugte Versuch, despotische Regierungen zu stürzen, um sie durch demokratisches Gemeinwesen zu ersetzen.
Die Terrorattacken von 9/11 waren ein großes Verbrechen, das von einer kleinen Gruppe verursacht wurde. Der Feind des Westens war kein Staat, sondern ein Netzwerk – und um dieses zu zerstören, wären die Kriege in Afghanistan und im Irak nicht nötig gewesen. Diese Kriege als wohlgemeinte aber fehlgeschlagene Demokratisierungsexperimente zu betrachten, mag dem Selbstbild des Westens dienlich sein. Bei so vielen Toten, Geflüchteten und neuem Terror drängt sich aber eine andere Schlussfolgerung auf: Die beiden Kriege waren von strategischem Interesse und liberaler Selbstüberschätzung motiviert.
Die strategischen Interessen sind schnell umrissen: Das zentralasiatische Afghanistan grenzt an China und an Russland. Ein pro-westlicher Staat mit Militärpräsenz dämmt den Einfluss der beiden Staaten ein, die der Westen als seine größten Widersacher erachtet.
Im Falle des Iraks ist es noch offensichtlicher. Wer den Irak kontrolliert und dazu noch das ölreiche Saudi-Arabien und das militärisch starke Israel zu seinen Verbündeten zählt, der ist im geostrategisch bedeutsamen Nahen Osten die stärkste auswärtige Macht. Bundespräsident Horst Köhler sprach derartige Interessen offen aus und verlor daraufhin 2010 seinen Job. Dass Staaten Interessen haben und diese durchzusetzen versuchen, ist aber nichts Neues und moralisch weder richtig noch falsch. Entscheidend ist, ob sie dies auf kriegerische Weise tun oder nicht.
Die Annahme, dass man sich im Anschluss an den Regierungssturz kaum um den Aufbau funktionierender staatlicher Institutionen kümmern bräuchte, fußt auf liberaler Hybris. Westliche Truppen würden in Kabul und Bagdad als Befreier empfangen werden, das befreite Volk würde sich daraufhin einen demokratischen Staat aufbauen – das glaubte man zumindest.
Dazu kam es nicht und zwar aus denselben Gründen, die schon für das Scheitern Frankreichs oder der USA in Vietnam und der Sowjetunion in Afghanistan sorgten. Der Umstand, dass Aufständische gegen weit mächtigere Interventionstruppen gute Chancen auf den Sieg haben, ist ein Faktum, das sich den dogmatischen Links-rechts-Debatten entzieht.
1979 intervenierte die Sowjetunion in Afghanistan, um ein kommunistisches Regime zu unterstützen, dass sich zuvor an die Macht geputscht hatte – klassische Großmachtpolitik, die das sowjetische Imperium überdehnte und seinen inneren Zerfall forcierte. Der Krieg führte zu hunderttausenden Toten und Millionen Geflüchteten. Wie die Länder der NATO so beanspruchte auch die Sowjetunion die Befreiung der afghanischen Frauen in Bezugnahme auf die eigene säkulare Ideologie – ein Versprechen, das sich für eine begrenzte Anzahl an Frauen in Kabul damals wie heute auch erfüllt hat. Den mörderischen Krieg der Sowjetunion beendeten jedoch die Mudschahidin, islamistische und von der CIA unterstützte Krieger. Wie schon Hillary Clinton in einem älteren Fernsehinterview anmerkte, wurden die Verbündeten von gestern damit zu den Feinden von heute. Auf den Abzug der Russen aus Afghanistan folgte ein Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Gruppierungen der Mudschahidin, aus denen die Taliban als Sieger hervorgingen.
Die NATO scheiterte mit ihrem Staatsprojekt aus ganz ähnlichen Gründen: Die hohen zivilen Opferzahlen des Krieges trieben Hinterbliebene und Überlebende in die Arme der aufständischen Taliban, die mit ihrer puritanischen, islamistischen Ideologie auch gleich noch das passende Weltbild für den Widerstand lieferten. Es ist leichter, Menschen für den Kampf gegen eine ausländische Besatzungsmacht zu rekrutieren, als für einen so ziellosen militärischen Einsatz wie den der Bundeswehr. Die Berichte zurückgekehrter Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten haben das einmal mehr verdeutlicht.
»Für die USA und ihre Verbündeten war es vergleichsweise leicht, die despotischen Regierungen in Afghanistan und dem Irak zu stürzen. Für den Aufbau demokratischer Verhältnisse reicht das aber nicht.«
Schon Mao wusste: Aufständische bewegen sich wie »Fische im Wasser«. Sie sind nicht unterscheidbar vom Rest der Gesellschaft. Ihnen den Kampf anzusagen, fordert daher besonders viele zivile Opfer. Und je mehr zivile Opfer es gibt, desto mehr Menschen laufen den Aufständischen zu. Das weiß auch die Bundeswehr. Im Luftangriff bei Kundus im September 2009, forderte der Oberst Georg Klein in einer unübersichtlichen Gemengelage einen Bombenabwurf auf vermeintliche Taliban-Kämpfer. Dabei starben 142 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten.
Für die militärische Supermacht USA und ihre Verbündeten war es vergleichsweise leicht, die despotischen Regierungen in Afghanistan und dem Irak zu stürzen. Für den Aufbau demokratischer Verhältnisse reicht das aber nicht. Laut dem Journalisten Anand Gopal war al-Qaida schon 2002 aus Afghanistan verschwunden und Richtung Pakistan gezogen. Die NATO-Staaten suchten also Terroristen, wo keine mehr waren. Und sie versuchten, einen zentralisierten und liberalen Staat in einem Land aufzubauen, dass aufgrund seiner Geographie und Bürgerkriegsvergangenheit schlechte Bedingungen dafür bot. Dass es für einen solchen Staat durchaus Befürworter und vor allem Befürworterinnen gab, ist die eine Sache. Aber wie der unermüdliche Journalist Emran Feroz darlegt, schufen die USA und die NATO »nicht eine einzige demokratische Institution in Afghanistan. Stattdessen dominierten Warlords und Korruption die politische Kultur des Landes mehr noch als je zuvor … Und nach zwanzig Jahren des Scheiterns ziehen es westliche Beobachter immer noch vor, in einer Blase zu leben«.
Der Afghanistan-Einsatz war der längste in der Geschichte der Bundeswehr. Er vollzog sich ohne größeres Interesse der Öffentlichkeit. Dieses entfachte erst dann, als nach zwanzig Jahren vergeblichem Krieg der Abzug nahte und eine Katastrophe hinterließ.
In ihrer Regierungserklärung ließ Angela Merkel eine kritische Auseinandersetzung mit dem Afghanistan-Experiment vermissen. »Gut gemeint, aber nicht geglückt«, lautete die Botschaft. Wolfgang Schäuble befand gar, dass in den vergangenen zwanzig Jahren in Afghanistan »die Saat der Freiheit« gesät worden sei. Am Anfang wie am Ende des Krieges stehen dieselben hilflosen Phrasen.
Das Scheitern des Westens im »War on Terror« hat die klaffende Lücke zwischen der Selbstdarstellung des Westens und dem Agieren des Westens offengelegt. Diese Lücke zu schließen, ist eine Generationenaufgabe. Gelingen wird sie nur durch verbale Abrüstung und eine Außenpolitik, die auf Stabilisierung zielt, menschenrechtskonform ist, aber im Zweifel auch Menschenrechte schützt. Es wäre gut, wenn für eine solche Politik in Deutschland eine Partei zur Wahl stünde.
Daniel Marwecki arbeitet im Department of Politics and Public Administration der University of Hong Kong. Er hat zuvor in England promoviert und gelehrt.
Daniel Marwecki arbeitet im Department of Politics and Public Administration der University of Hong Kong. Er hat zuvor in England promoviert und gelehrt.