06. Oktober 2022
Die Neuverfilmung von Erich Maria Remarques Im »Westen nichts Neues« erzählt das Massensterben des Ersten Weltkriegs in drastischen Bildern – ein veritabler Antikriegsfilm mit fragwürdigem Geschichtsverständnis.
Edward Bergers Filmadaption erzählt den Krieg aus der Perspektive der Soldaten.
Sturmangriff. Hans springt aus dem Schützengraben, kriegt sofort einen Kopfschuss und ist tot. Sein Freund Heinrich muss weiter, durchs gegnerische Feuer; er rennt, schießt, schreit, bis schließlich auch er getötet wird.
Später liegt Heinrich mit vielen anderen auf einem Leichenberg. Bevor sie im Massengrab verscharrt werden, ziehen ihnen sogenannte »Verwertungstrupps« noch Stiefel, Helme und Uniformen aus. Die kommen in die Reinigung und auf Arbeitstische von Näherinnen, die die von Kugeln und Granatsplittern gerissenen Löcher ausbessern.
Am Ende des Verwertungskreislaufs liegen die Kleidungsstücke in der Materialausgabe für den nächsten Jahrgang Kanonenfutter. Doch wurde vergessen, Heinrichs Namen aus dem Kragen der Uniform zu schneiden. Paul (Felix Kammerer) macht das kurz stutzig. »Die war wohl jemandem zu klein«, lügt der Armee-Arzt. Es sind gerade diese ersten Szenen, die auch eine Kriegsfilm-erfahrene Zuschauerin beklommen in den Sitz drücken.
Frühjahr 1917: Paul fälscht die Unterschrift seines Vaters, um mit nur 17 Jahren in den Krieg ziehen zu dürfen. Von ihrem Deutschlehrer angefeuert, meldet sich die ganze Gymnasialklasse geschlossen zum Einsatz. An allen Fronten hat der Krieg schon Millionen Männer ermordet. Und doch glauben Paul und seine Freunde noch immer, in wenigen Wochen Paris erobern zu können, wenn sie jetzt für »Gott, Kaiser und Vaterland« kämpfen.
Stark bebildert, mit beeindruckendem Ton zieht Regisseur Edward Berger das Publikum hinein ins sinnlose Sterben. Seine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Erich Maria Remarque von 1928 ist sehr frei. Berger verdichtet und verkürzt den Stoff, um den Überlebenskampf der jungen Soldaten in den Mittelpunkt zu stellen. Noch im Herbst 1918, als Deutschland den Krieg längst verloren hatte, wurden sie zu Hunderttausenden in den Tod getrieben.
Der Film hat seine stärksten Momente auf dem Schlachtfeld, gerade weil sie so grauenhaft sind. Berger gelingt es, das Publikum gerade durch das massenhafte Gemetzel nicht teilnahmslos werden zu lassen. Immer wieder zeigt er seine Figuren in Großaufnahmen, ohne sie zu Helden zu stilisieren. Berger vermeidet das große Schlachtengemälde, sondern rückt Leid und Schrecken des Einzelnen in den Vordergrund. Das Publikum erfährt nie, welche Armee gerade wo vorgerückt ist oder sich zurückgezogen hat. Auch Paul und seine Freunde morden bis zur letzten Filmminute am Boden liegende Franzosen, deren Truppen wiederum ähnlich brutal vorgehen. Hier machen beide Seiten buchstäblich keine Gefangenen. Umso mehr wird schonungslos und blutig gestorben. Wenn das Gewehr nicht mehr greifbar ist, benutzt Paul einen Klappspaten oder seinen Helm, um dem Gegner den Schädel einzuschlagen.
Der Film kommt fast ohne Musik aus. Umso mehr hört man die Schüsse der Gewehre, das Einschlagen der Granaten und die Schreie der Sterbenden und Verletzten. Weil zudem oft eine Handkamera benutzt wird, fühlt man sich in den bittersten und deswegen stärksten Momenten von Im Westen nichts Neues, als wäre man selbst mitten im Kampf.
Wie sinnlos der Erste Weltkrieg selbst aus militärischer Sicht war, zeigt der Film eindrücklich, als die Deutschen nach vielen Todesopfern einen französischen Schützengraben erobern. Den wiederum holen sich die Franzosen kurz darauf um den Preis vieler ermordeter Menschen zurück, sodass sich beide Seiten gegenüberstehen wie zuvor.
Zwischendurch erweitert der Film das Geschehen um die Friedensverhandlungen von 1918. Zwar werden diesem Strang nur wenige Szenen gewidmet, doch die historisch korrekten, aber naturgemäß langweiligen Bilder von Politikern und Generälen am Verhandlungstisch reißen die Zuschauerin immer wieder aus dem eigentlichen Geschehen des Krieges.
Auch diese Kommandeure des Krieges werden teils kritisch dargestellt. Ein zentrales Motiv ist das luxuriöses Essen, das ihnen kredenzt wird, während die Soldaten immer nur Steckrübensuppe bekommen. Doch der eigentliche Zweck dieser Nebenhandlung ist die Inszenierung von Staatssekretär Matthias Erzberger (Daniel Brühl) als Friedensstifter. Der Politiker der konservativen Zentrumspartei leitete zwar tatsächlich die Verhandlungskommission, die 1918 den Waffenstillstand unterschrieb. Jedoch war Erzberger nicht nur ein Hetzer gegen die damals linke SPD, sondern zunächst auch ein Kriegstreiber. Friedensverhandlungen zog er erst dann in Erwägung, als er den Krieg nicht mehr für gewinnbar hielt. Der Film hingegen behauptet, er habe den Massenmord an der Front abgelehnte.
Laut Regisseur Berger seien die Bilder der Verhandlungen zudem wichtig, weil sie »hinterher von den Nationalsozialisten benutzt wurden, um der Politik die Schuld in die Schuhe zu schieben, dass sie den Krieg verloren haben. Das Militär sagte einfach: ›Wir hätten gewonnen.‹ Was natürlich überhaupt nicht stimmte. Das hat am Ende zum Zweiten Weltkrieg geführt und darauf wollte ich ein Schlaglicht werfen«.
Doch scheitert der Regisseur an der Absicht, neben den Schrecken des Ersten noch gleich die Ursachen des Zweiten Weltkriegs aufzuzeigen. Zwar benutzten die Nazis den für die deutsche herrschende Klasse ungünstigen Friedensvertrag 1918 tatsächlich als nationalistisches Argument gegen andere Parteien und die gesamte Weimarer Republik. Doch dass dieser Friedensschluss »zum Zweiten Weltkrieg geführt« habe, ist bestenfalls weit hergeholt. Schließlich war dieser Friedensvertrag für die NSDAP nur ein Scheinargument, nicht der wirkliche Grund für den Krieg.
Trotzdem bittet im Film Erzberger den französischen Verhandlungsführer flehentlich darum, keine Maximalforderungen zu stellen und gnädig mit seinem Gegner umzugehen. Sonst würden die Deutschen diesen Friedensvertrag hassen. Erzberger werden hier nahezu hellseherische Fähigkeiten angedichtet – als hätte er 1918 gewusst, dass der damalige Gefreite Adolf Hitler später Hetzreden über den angeblichen »Schandfrieden« des Ersten Weltkriegs halten würde.
Trotz zweieinhalb Stunden Laufzeit findet Im Westen nichts Neues hingegen keine Zeit, um zu erwähnen, dass der Erste Weltkrieg keineswegs durch Einsicht der Politiker beendet wurde, sondern durch massenhaftes Meutern der Soldaten und die Novemberrevolution, die auch Kaiser Wilhelm II. gestürzt und kurzzeitig zur Macht von Arbeiter- und Soldatenräten geführt hatte. Das verwundert insofern, als dass sogar Remarque über das »Meutern« und die »Revolution« schreibt.
Trotz der klaren Antikriegsbotschaft befremdet es, dass der Film ausschließlich aus Sicht einer Kriegspartei, und zwar der deutschen, erzählt wird. Und doch gelingt es Berger fast hundert Jahre nach Veröffentlichung des Romans, dessen antimilitaristischen Kern mit den Mitteln des modernen Films neu zu interpretieren. Wie auch im Buch verdeutlicht sich diese Haltung weniger in Gesprächen über den Sinn des Krieges, sondern in der Darstellung seiner Sinnlosigkeit – etwa durch drastische Szenen des Horrors auf dem Schlachtfeld.
Fragwürdig ist jedoch das Geschichtsverständnis, das der Filmadaption zugrunde liegt. Einerseits nimmt der Film sich die Freiheit, Parallelhandlungen zu ergänzen und einen fiktiven General Friedrich auftreten zu lassen, dem in der letzten Schlacht eine entscheidende Rolle zufällt. Andererseits wird das Ende des Ersten Weltkriegs nur als Werk von Politikern gezeigt und nicht als Folge der Novemberrevolution, die sich nach dem Kieler Matrosenaufstand vom 3. November 1918 in ganz Deutschland ausbreitete, den Krieg beendete, den Kaiser stürzte und die parlamentarische Demokratie erkämpfte.
Bergers Im Westen nichts Neues richtet seinen Blick vor allem auf die Menschen, die im Krieg immer verlieren, egal wer ihn gewinnt – gerade dadurch zeichnet sich der Film aus. Doch er versäumt es anzuerkennen, dass Menschen auch im Krieg mehr als nur Opfer sein können. Denn sie waren es , die versucht haben, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und die Welt zu verändern.
Hans Krause arbeitet als gewerkschaftlicher Organizer in Berlin.