22. Juli 2022
Nach über elf Wochen Streik an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen ist klar: Ein neuer Tarifvertrag wird die Beschäftigten deutlich entlasten. Doch die Erfolge des Arbeitskampfs an den Krankenhäusern reichen weit darüber hinaus.
Krankenhausstreik in NRW
Wer sich am Abend des 19. Juli dem Streikposten am Kölner Uniklinikum nährt, kann den Jubel schon von Weitem vernehmen. »TVE für uns in NRW« rufen die Beschäftigten, die sich vor dem Herzzentrum der Klinik versammelt haben, immer wieder. Von anderen Streikenden folgt der mahnende Hinweis, zum Feiern sei es noch zu früh, die Pressekonferenz zur Einigung im Konflikt um einen »Tarifvertrag Entlastung« sei schließlich noch im Gang. Weiter hinten organisieren Mitarbeiterinnen den letzten Notdienst in diesem Arbeitskampf, unterbrochen von Sprechchören und umgeben von einer improvisierten Siegesfeier. Inmitten des Trubels blickt man in viele freudige, aber auch noch ungläubige Gesichter. Der Streik ist vorbei, jetzt, einfach so? Für viele ist das noch nicht richtig vorstellbar.
Wenige Stunden zuvor hatte sich eine breite Mehrheit der Streikenden an Nordrhein-Westfalens Unikliniken für die Annahme eines Einigungspapiers über einen Entlastungstarifvertrag ausgesprochen. Nun ist endlich klar: Die Streikenden haben gewonnen – und in vieler Hinsicht Historisches erreicht.
Das erfolgreiche Ende dieses Arbeitskampfs ist aus mehreren Gründen bedeutsam. Erstens legt der nun erkämpfte Tarifvertrag neue Maßstäbe sowohl für die Versorgung von Patienten in NRW als auch für die Arbeitsbedingungen des Krankenhauspersonals fest. Er kehrt die jahrzehntelange Sparpolitik im Gesundheitssystem um und eröffnet Chancen für weitere, zukünftige Entlastungen. Zweitens liefert dieser Arbeitskampf ein Anschauungsbeispiel für die neue Konfliktbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit der Arbeiterinnen im Gesundheitssektor. Den nordrhein-westfälischen Krankenhausbeschäftigten ist es gelungen, aufzuzeigen, was durch demokratische, kämpferische Gewerkschaftsarbeit ermöglicht werden kann. Und drittens ist dieser Sieg so wichtig, weil er mit aller Kraft errungen werden musste und in den vergangenen Wochen längst nicht immer klar war, ob er zustande kommen würde.
Die katastrophalen Arbeitsbedingungen des Krankenhauspersonals und deren dramatische Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung in Deutschland sind allgemein bekannt. Insbesondere in den vergangenen Jahren wurde öffentlich viel darüber diskutiert. Geändert hat sich jedoch nichts. Die Beschäftigten an den Unikliniken in NRW haben deshalb zu Beginn dieses Jahres beschlossen, eine Verbesserung der Situation selbst zu erkämpfen. Im Januar stellten sie ein 100-Tage-Ultimatum an die Landesregierung und die Arbeitgeberseite, mit ihnen über einen Entlastungstarifvertrag zu verhandeln, das diese verstreichen ließen. Nach Ablauf der Frist traten die Beschäftigten Anfang Mai in den Erzwingungsstreik. Dass er 77 Tage andauern sollte, damit hätte zu diesem Zeitpunkt wohl kaum jemand gerechnet.
Für die Beschäftigten an den Unikliniken in Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf, Essen und Münster war es ein beschwerlicher Weg zu ihrer längst überfälligen Entlastung im Dienst. Zweimal versuchten die Arbeitgeber, den Streik auf juristischem Wege zu brechen. Die Forderungen der Streikenden seien nicht tarifierbar – dürften also gar nicht durch die Tarifparteien geregelt werden – und die Streikmaßnahmen rechtswidrig. Beide Angriffe konnten die Streikenden vor Gericht abwehren. Mehr noch: Die Arbeitgeberseite hatte sich damit einen entscheidenden Fehler geleistet. Die Eskalation des Konflikts mobilisierte die Beschäftigten nur noch stärker und die Streiks wuchsen weiter an. Darüber hinaus griffen Klinikvorstände die Streikenden in den Medien immer wieder an, versuchten, das Streikrecht einzuschränken und torpedierten mögliche Einigungen. Zuletzt versuchte die Arbeitgeberseite sogar, einem Entlastungstarifvertrag durch einen Deal mit dem Beamtenbund zu entgehen. Auch dieser Versuch schlug fehl.
In den letzten Verhandlungstagen bewegten sich die Gespräche zwischen den Tarifparteien am Rande des Scheiterns, was eine Schlichtung nach sich gezogen hätte. Lange wurde man sich bei Kernelementen des Tarifvertrags nicht einig. Die Streikenden kamen vielfach ihrer Belastungsgrenze nahe. Doch sie hielten durch. Im Ergebnis liegt nach mehr als 25 Verhandlungstagen ein Einigungspapier für einen Entlastungstarifvertrag auf dem Tisch, der seinen Namen verdient.
Zuvor war es der Krankenhausbewegung gelungen, die neu gewählte schwarz-grüne Landesregierung zu weitreichenden Zugeständnissen zu bewegen. Unter dem Druck der Streiks brachte die Regierung eine Gesetzesänderung auf den Weg, die den Tarifabschluss an allen sechs Unikliniken ermöglichte. Nach mehr als acht Wochen Streik sah sich der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Laumann (CDU) zu einer umfassenden Finanzierungszusage für den zu verhandelnden Tarifvertrag gezwungen, um eine Einigung herbeizuführen.
Die Unikliniken in NRW sind nicht die ersten Krankenhäuser, an denen ein Entlastungstarifvertrag gilt. Dieser ist ein erprobtes Mittel, um die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor zu regeln und dabei Mindeststandards zu sichern. Für die vom Tarifvertrag erfassten Bereiche werden Personalregelungen in Form von Verhältniszahlen festgehalten, die eine adäquate Versorgung von Patientinnen sowie gute Bedingungen für die Beschäftigten ermöglichen. In vielen Bereichen bedeuten die Regeln, auf die sich die Tarifparteien nun geeinigt haben, eine Verdopplung des Personals pro Schicht, teils sogar noch mehr. Die Tatsache, dass diese Verbesserungen notwendig sind, zeigt, unter welch katastrophalen Bedingungen die Pflegekräfte und andere Berufsgruppen im Krankenhaus das System bislang am Laufen gehalten haben.
Das soll sich jetzt ändern. Doch damit die Personalregelungen tatsächlich wirken, braucht es einen entsprechenden Mechanismus, der eine Überlastung der Beschäftigten ökonomisch unattraktiv macht. Diese Rolle nimmt der sogenannte Belastungsausgleich ein, der lange ein entscheidender Streitpunkt in den Verhandlungen war. Wird die tariflich festgelegte Sollbesetzung unterschritten, erhalten die Beschäftigten künftig sogenannte Entlastungspunkte. Sieben dieser Punkte können sie in einen freien Tag umwandeln. Im dritten Geltungsjahr des Tarifvertrags sollen die Beschäftigten an NRWs Unikliniken so bis zu 18 Entlastungstage im Jahr sammeln können. Ziel dieser freien Tage ist zum einen, die Überarbeitung im Dienst individuell ausgleichen zu können. Zum anderen sorgt dieses System dafür, dass die festgelegten Sollbesetzungen auch tatsächlich eingehalten werden. Es macht Unterbesetzung teuer und unwirtschaftlich. Damit stellt es die wichtigste materielle Errungenschaft des Tarifvertrags dar.
Die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung hat mit ihrem langen und intensiven Arbeitskampf gleich mehrere Meilensteine auf dem Weg zu einer Gesundheitsversorgung erreicht, die die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum stellt. Der Entlastungstarifvertrag an den Unikliniken in NRW ist der erste Flächentarifvertrag seiner Art. Die Beschäftigten setzten in der bislang größten Auseinandersetzung im deutschen Gesundheitssystem Regelungen für mehr als ein Sechstel der deutschen Unikliniken durch.
Zudem ist es ihnen gelungen, Entlastungsregelungen für so viele Fachgebiete und Berufsgruppen zu erstreiken wie noch nie. Denn auch wenn die stationäre Pflege während der Auseinandersetzung die größte mediale Aufmerksamkeit erhielt, haben sich bei diesem Arbeitskampf Beschäftigte aus allen Berufsgruppen im Krankenhaus zusammengeschlossen: Pflegekräfte aus Notaufnahmen, OP und Anästhesie und den Ambulanzen, aber auch Bereiche wie der Patientenservice, Therapeutinnen, Beschäftigte aus den Laboren, der Küche oder dem Transportdienst.
Der Entlastungstarifvertrag aus NRW ist zum Beispiel der erste, der auch für die Betriebskitas der Unikliniken gilt. Damit wird ein Präzedenzfall geschaffen, der große politische Signalwirkung entfalten könnte. Denn theoretisch ließen sich ähnliche Kämpfe um Entlastung am Arbeitsplatz im gesamten Sozial- und Erziehungssektor führen. Der Arbeitskampf der Streikenden in NRW kann also über das Gesundheitssystem hinaus Anstoß geben, um das gesamte Pflege- und Erziehungswesen der Profitlogik zu entziehen.
Die konkreten Ergebnisse der Verhandlungen sind aber nicht er einzige Erfolg, den die nordrhein-westfälischen Krankenhausbeschäftigten feiern können. So ist das Uniklinikum in Köln nun als erste Universitätsklinik in Deutschland mehrheitlich gewerkschaftlich organisiert. Innerhalb weniger Jahre hat sich der Organisationsgrad dort mehr als vervierfacht. Über die Hälfte der nicht-ärztlichen Beschäftigten, für die der neue Tarifvertrag gilt, ist inzwischen Mitglied der Gewerkschaft Ver.di.
Die neue Macht der wiedererstarkten Gewerkschaften im Gesundheitssektor wurde in den vergangenen Wochen eindrucksvoll sichtbar: Die jüngsten Krankenhausstreiks sind gezeichnet von einer neuen Kampfbereitschaft. Erst im vergangenen Herbst erstritten die Beschäftigten bei der Berliner Charité und beim kommunalen Betreiber Vivantes durch einen mehr als dreißig Tage andauernden Streik einen Entlastungstarifvertrag. Die Streikenden der Berliner Krankenhausbewegung nahmen so eine Vorreiterrolle ein – und wurden zum Vorbild für ihre Kolleginnen und Kollegen in NRW. Dort erreichte die Bewegung nicht nur in ihrer Stärke und ihrem Durchhaltevermögen eine neue Dimension. Sie entwickelte auch die Streikmethoden im Krankenhaus weiter.
Die Erfolge in NRW resultieren auch aus einer Erneuerung und Demokratisierung der Gewerkschaftsarbeit selbst. Der gesamte Arbeitskampf – angefangen bei der Forderungsfindung bis hin zu Entscheidungen in den Verhandlungen – wurde auf die Einbeziehung aller Beschäftigten ausgerichtet und so demokratisiert. Die Forderungen einzelner Teams wurden zusammengetragen, mit den Vorstellungen der Teams anderer Kliniken abgeglichen und durch Delegierte in die Verhandlungen getragen – stets auf Basis von Mehrheitsentscheidungen. Wenn die Verhandlungsgruppe der Arbeitgeberseite gegenüber saß, arbeiteten die Delegierten im Nebengebäude an Kompromissvorschlägen oder holten die Meinung der Beschäftigten zu bestehenden Angeboten ein. Die Vertreterinnen sprachen selbst für sich und ihre Kollegen. Das Ergebnis dieser demokratischen und kämpferischen Gewerkschaftsarbeit spricht für sich.
Natürlich ist die Bewegung mit dem Erreichten noch nicht am Ziel. Denn auf dem Weg zu einer Einigung mussten schwierige Kompromisse geschlossen werden. Für die Ambulanzen, Labore und eher klassischen »Arbeiterinnenbereiche« im Krankenhaus konnten beispielsweise keine festen Personalzahlen pro Dienst durchgesetzt werden. Stattdessen gelten pauschale Regeln zum Personalaufbau, welche Entlastung bringen sollen. Dies ist alles andere als ausreichend und eine Folge des ökonomischen Drucks, der durch das System der Fallpauschalen erzeugt wird. Kalle Kunkel fasst diesen Missstand in der Wochenzeitung Der Freitag folgendermaßen zusammen: »Durch die Finanzierung nach Fallpauschalen erhalten die Krankenhäuser nicht die realen Kosten erstattet, sondern nur einen fixen Preis pro Behandlung. Dies schafft einen beständigen Anreiz, Kosten durch Personalabbau zu senken und die Erlöse durch mehr und lukrative Behandlungen zu steigern.«
Der Pflegenotstand ebenso wie die Verweigerungshaltung der Arbeitgeberseite sind Resultate dieser Politik. Fallpauschalen sorgen also nicht nur für Sparzwang im Gesundheitssystem, sondern spalten auch die Beschäftigtengruppen innerhalb der Krankenhäuser. Die Streikenden in NRW haben diesem System getrotzt, indem sie Entlastungsregelungen für fast alle Berufsgruppen durchgesetzt haben. Doch in vielen Fällen, so ein Vertreter der Gewerkschaftsseite, sei dies nur »ein Tropfen auf den heißen Stein«. Dies verdeutlicht: Der Entlastungstarifvertrag ist nur ein erster Schritt, auf den weitere folgen müssen. Denn wer eine wirklich gute Gesundheitsversorgung ermöglichen will, muss das System der Fallpauschalen angreifen – und damit die Profitlogik aus dem Gesundheitssektor verdrängen.
Inzwischen ist es 2:30 Uhr und die improvisierte Siegesfeier am Kölner Streikposten klingt langsam aus. Viele Kolleginnen und Kollegen haben bereits den Heimweg angetreten. Sie müssen am nächsten Tag wieder zur Schicht erscheinen, denn bereits mit dem Frühdienst soll das Krankenhaus wieder zum Normalbetrieb zurückkehren – und die Streikenden in den Arbeitsalltag, der für fast drei Monate unterbrochen war. »Ein merkwürdiges Gefühl«, meint ein Beschäftigter und blickt in Richtung des großen Turms, in dem sich seine Station befindet.
Nach langen elf Wochen ist der Streik an Nordrhein-Westfalens Unikliniken vorbei. Doch die Erfahrungen, die die Streikenden gemacht haben, werden bleiben. Für viele war dieser Arbeitskampf eine neuartige Erfahrung von Selbstwirksamkeit und gemeinsamer Stärke, die sie nachhaltig verändert hat. Der Spiegel etwa berichtete über eine Beschäftigte, die bereits jahrzehntelang in der Pflege arbeitet und erst im Streik die Zeit gefunden hat, die Arbeitsumstände in ihrem Beruf mit Kolleginnen zu reflektieren. Der Streik habe sie wachgerüttelt. Das Wichtigste sei, »dass wir uns endlich gewehrt haben.« Im Streik hätte sie gelernt, unbequem zu sein. Eine andere Kollegin pflichtet ihr bei: »Wir werden alle mit mehr Selbstbewusstsein [...] zurückkehren.«
Als sich die Siegesfeier am Kölner Streikposten langsam ihrem Ende neigt, bemerkt ein Mitarbeiter aus dem Patientenservice: »Das eine ist, dass wir gewonnen haben. Darauf bin ich wahnsinnig stolz. Das andere ist, was diese Zeit mit mir gemacht hat. Ich kehre als ein anderer Mensch zurück.«
Franziska Heinisch ist Kolumnistin bei JACOBIN.