08. Dezember 2022
Es ist höchste Zeit für den nächsten Schritt hin zur Demokratie in der Wirtschaft, meint Isabelle Ferreras – und hat einen Vorschlag.
Wenn man einfach nur das Eigentum sozialisiert, ohne darüber nachzudenken, was es für eine Arbeiterin bedeutet, eine Bürgerin am Arbeitsplatz zu sein, kann das demokratische Streben völlig verloren gehen.
Isabelle Ferreras ist Professorin für Politik- und Sozialwissenschaften an der Katholischen Universität Löwen in Belgien. In ihrem Buch Firms as Political Entities argumentiert sie für ein neues Verständnis der Firma: Hinter dem privaten Rechtskonstrukt des Unternehmens verbirgt sich ein politischer Raum, den es zu demokratisieren gilt. Diese Forderung vertritt Ferreras auch in dem 2020 veröffentlichten Manifest Democratize Work, das in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlerinnen entstand. Im Interview wirft sie einen frischen Blick auf das deutsche System der Mitbestimmung und skizziert, wie die nächsten Schritte aussehen könnten.
Du hast Arbeitsumgebungen untersucht und bist zu dem Schluss gekommen, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter am Arbeitsplatz nicht nur als wirtschaftliche Akteure empfinden, wie es von ihnen erwartet wird, sondern auch als politische Akteure.
Das ist richtig, Menschen haben bei der Arbeit ein intuitives Gefühl für demokratische Gerechtigkeit. Und es sollte niemanden überraschen, dass Arbeiterinnen und Arbeiter ihre eigenen Vorstellungen davon haben, was im Zusammenhang mit ihrer Arbeit gerecht oder ungerecht ist, und erwarten, dass sich diese auch auf ihr Arbeitsumfeld auswirken. Schließlich ist arbeiten das, was Menschen tagtäglich tun, wenn sie einen Job haben.
»Am Arbeitsplatz wird von den Menschen erwartet, dass sie Entscheidungen befolgen, ohne sie zu validieren.«
Aber in den meisten Arbeitsumgebungen ist ihre Meinung nicht willkommen. Die Arbeitenden durchleben daher, was ich den Widerspruch zwischen Kapitalismus und Demokratie nenne: Sie erwarten, als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger behandelt zu werden, was natürlich der Kultur entspricht, die wir als demokratische Gesellschaften fördern. Aber gleichzeitig werden sie, sobald sie den Arbeitsplatz betreten, zu untergeordneten Agenten, von denen man nicht erwartet, dass sie sich als Gleiche in Würde und Rechten verhalten, wie es im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. Am Arbeitsplatz wird von den Menschen erwartet, dass sie Entscheidungen befolgen, ohne sie zu validieren; die Macht, die über sie ausgeübt wird, ist ihnen gegenüber nicht rechenschaftspflichtig.
Kannst Du ein Beispiel nennen?
Nehmen wir etwa eine ganz profane Angelegenheit wie die Organisation der Arbeitszeiten einer Belegschaft. Jede Person in einem gegebenen Arbeitsumfeld hat eine eigene Meinung dazu, wie das gerecht geregelt werden könnte, aber in den meisten Betrieben wird das nie diskutiert. Der Plan wird einfach von einem Vorgesetzten oder einer Software vorgegeben. Ich habe mir unter anderem einen Supermarkt angesehen, in dem es große Probleme mit Fehlzeiten und Personalfluktuation gab. Die Beschäftigten kamen einfach nicht zur Arbeit. Es ging schließlich so weit, dass die Geschäftsleitung eine Beratungsfirma einschaltete, die dann einen partizipativen Mechanismus entwickelte, um den Arbeitsplan zu erstellen. Man verstand jetzt, dass in diesem Supermarkt hauptsächlich Frauen arbeiteten, die alle möglichen familiären Verpflichtungen hatten. Und dass es vielleicht weniger Krankheitstage und unerwartete Abwesenheiten geben würde, wenn diese Arbeiterinnen ihre Arbeitszeiten besser an ihre anderen Aufgaben anpassen könnten.
Einige der Arbeiterinnen fanden, dass das Senioritätsprinzip gelten sollte – diejenigen, die schon am längsten im Supermarkt arbeiteten, sollten ihre Arbeitszeiten als erstes wählen können. Andere meinten, dass diejenigen, die kleine Kinder hatten, Vorrang haben sollten. Wieder andere argumentierten, diejenigen, die besonders gute Arbeit leisteten, sollten bevorzugt werden. Man bekommt also eine ganze Reihe von Gerechtigkeitsvorstellungen. Und wenn man diese Deliberation klug organisiert, können die Arbeitenden eine Regelung beschließen, die dann von ihnen selbst bestimmt und nicht von der Unternehmensleitung aufgezwungen ist. So haben sie es in diesem Supermarkt gemacht – und es hat die Probleme mit der Fluktuation und den Fehlzeiten für das Unternehmen gelöst und den Beschäftigten das Leben erleichtert.
In Deutschland haben wir Betriebsräte, die sich bereits mit vielen Problemen dieser Art befassen. Das System der Mitbestimmung wird hier als Institution zweifellos geschätzt. Aber es wird selten als Türöffner einer sozialen Transformation aufgefasst – genau dafür argumentierst Du aber.
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