26. Juni 2023
Bei dem verheerenden Schiffbruch vor der griechischen Küste sind Hunderte von Menschen ertrunken. Die EU spricht von der »schlimmsten Tragödie aller Zeiten« im Mittelmeer. Dabei hat sie diese Katastrophe mit ihrem brutalen Grenzregime selbst verursacht.
Dieses von der griechischen Küstenwache veröffentlichte Foto zeigt, wie gedrängt die Menschen auf dem Fischerboot unterwegs waren.
IMAGO / ANE EditionAm vorletzten Mittwoch sank ein Fischerboot vor der Küste von Pylos, Griechenland. Das Schiff war überfüllt mit Menschen, die versuchten, Europa zu erreichen – Berichten zufolge befanden sich bis zu 750 Personen an Bord.
Die griechischen Behörden geben an, dass die Küstenwache 104 Überlebende rettete und 78 Tote bestätigte. Etwa 560 werden noch vermisst. Tage nach dem Schiffsunglück ist klar, dass sie wahrscheinlich ertrunken sind.
EU-Beamte haben es als »die bisher schlimmste Tragödie« im Mittelmeer bezeichnet. Doch dieses Schiffsunglück ist weder eine Ausnahme noch ein unvermeidlicher Unfall, sondern das direkte Ergebnis der griechischen und europäischen Praktiken und Verordnungen, die die Einreise nach Europa und die Suche nach Asyl zunehmend verunmöglichen und Menschen dazu zwingen, immer gefährlichere Routen zu nehmen. Es ist das Ergebnis jahrelanger politischer Entscheidungen, die das Mittelmeer in einen Friedhof verwandelt haben.
Nach Angaben des griechischen öffentlichen Rundfunks ERT war der Fischdampfer von Tobruk in Libyen aus gestartet, direkt südlich von Kreta. Die Behörden gaben an, dass die meisten Menschen an Bord aus Ägypten, Pakistan, Syrien und Palästina stammten.
Alarm Phone – eine NGO, die Seenotrettungen unterstützt und mit den Menschen kommuniziert, die auf solchen Schiffen unterwegs sind – erklärte, dass sie am frühen Dienstagnachmittag erstmals von Menschen an Bord des Schiffes kontaktiert wurde. Im Laufe des Nachmittags und bis in den frühen Abend hinein erhielt Alarm Phone mehrere Notrufe von Menschen an Bord, die berichteten, dass das Schiff überfüllt sei, dass es sich um 17 Uhr nicht mehr fortbewege, dass der Kapitän sie im Stich gelassen habe und dass das Schiff hin und her schwanke. Sie leitete diese Notrufe an die zuständigen Behörden weiter, darunter auch an die griechische Küstenwache. Die NGO war nicht in der Lage, den Kontakt mit dem Boot aufrechtzuerhalten und hatte kurz vor 1 Uhr am vorletzten Mittwoch zum letzten Mal Kontakt mit den Menschen auf dem Schiff.
In der widersprüchlichen Darstellung der griechischen Küstenwache heißt es, das Schiff sei erstmals am Dienstag, den 13. Juni, um die Mittagszeit von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, gesichtet worden. Nach der Kontaktaufnahme hätten die Menschen an Bord wiederholt erklärt, dass »das Boot nicht in Gefahr sei, dass sie keine Hilfe außer Nahrung und Wasser benötigten und dass sie nach Italien weiterfahren wollten«. Die Küstenwache gibt an, dass sich das Boot um 1:40 Uhr nicht mehr fortbewegte. Um 2:04 Uhr meldete eine schwimmende Plattform der Küstenwache, dass der Fischdampfer gekentert sei.
Internationale Rechtsexperten sagen, dass die Küstenwache verpflichtet gewesen sei, unabhängig zu prüfen, ob der Fischdampfer seetüchtig war, und einzugreifen, wenn dies nicht der Fall war – auch wenn die Menschen an Bord sagten, sie wollten nicht gerettet werden. Fotos des Dampfers zeigen, dass er eindeutig überladen war, dass die Menschen an Bord keine Rettungswesten zu tragen schienen und dass das Schiff unter keiner Flagge fuhr.
»Die Fokussierung auf Schleuser ignoriert den größeren Zusammenhang, der die Menschen dazu brachte, Tausende von Euro für diese lebensgefährliche Route zu bezahlen.«
Darüber hinaus belegen Informationen des griechischen Investigativmagazins Solomon, dass die Behörden bereits um 18 Uhr über die Notlage des Schiffes informiert wurden. Von der BBC überprüfte Video- und animierte Tracking-Daten zeigen, dass sich das Boot mindestens sieben Stunden lang nicht bewegte, bevor es kenterte.
Der griechische Staat hat sich jedoch dafür entschieden, die Schuld auf andere zu schieben: vermeintliche Schleuser. In den Tagen nach der Tragödie verhaftete er neun Männer, die aus Ägypten stammen sollen, und beschuldigte sie der Bildung einer kriminellen Vereinigung zum Zweck der illegalen Schleusung von Migrantinnen und Migranten, der Verursachung eines Schiffbruchs und der Gefährdung von Menschenleben. Sie sagten am Dienstag, den 20. Juni, in der Stadt Kalamata ausführlich aus. Nach Angaben von ERT erklärten acht der Angeklagten, sie seien lediglich Passagiere gewesen. Inzwischen hat der Staatsanwalt des Obersten Gerichtshofs Griechenlands eine Untersuchung des Schiffbruchs angeordnet.
Seit Jahren konzentriert sich die griechische Regierung auf die Kriminalisierung des Schleusertums, die die Todesfälle an den Grenzen und auf See lösen soll. »Wir müssen alle Schleuserringe ausmerzen, die NGOs, jeden, der diese Menschen ausbeutet und 5 Millionen Euro verdient, um ein Boot nach Griechenland zu bringen. 5 Millionen hat der Eigentümer des Bootes gemacht!«, sagte der griechische Migrationsminister in den Tagen nach der Tragödie.
Das Schleusertum ist ein Thema, über das er und andere Beamte oft sprechen und das im Mittelpunkt von Gerichtsverfahren auf den griechischen Ägäisinseln steht. Diejenigen, die beschuldigt werden, klapprige Boote über das Mittelmeer zu steuern, werden häufig wegen Menschenhandels angeklagt und zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt. In Wirklichkeit handelt es sich dabei oft um Menschen, die selbst hofften, Europa zu erreichen, und die mit einem Ruder in der Hand auf dem Meer zurückgelassen wurden.
Die Fokussierung auf Schleuser ignoriert den größeren Zusammenhang, der die Menschen dazu brachte, Tausende von Euro für diese lebensgefährliche Route zu bezahlen. »Während eine Untersuchung dringend nötig ist, um die Umstände des Vorfalls zu klären, ist diese Tragödie die jüngste in einer langen Kette von Schiffsunglücken in Griechenland und ganz Europa, die völlig vermeidbar waren«, kommentierte Adriana Tidona, Migrationsforscherin von Amnesty International. »Heute trauern Familien um geliebte Menschen und weitere suchen nach denen, die sie nicht erreichen können. Die europäischen Politiker hätten dies verhindern können, sie hätten sichere und legale Wege für Menschen nach Europa zu kommen schaffen können. Nur so lassen sich ständige Tragödien dieser Art vermeiden.«
Diese Tragödien sind in der Tat kein Unfall, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. In den letzten zehn Jahren hat die EU den Zugang zum Asylrecht eingeschränkt und die Ankunft auf dem Kontinent immer schwieriger gemacht: Sie hat die Polizei- und Überwachungsmaßnahmen entlang ihrer Grenzen verstärkt, Mauern errichtet und erweitert und Tausende von Menschen illegal zurückgeschoben.
Im Jahr 2016 unterzeichnete die EU ein Abkommen mit der Türkei, in dem Milliarden von Euro für das Versprechen gezahlt wurden, Asylsuchende leichter dorthin zurückschicken zu können. Darin wurde festgelegt, dass die Türkei alle Maßnahmen ergreift, um Menschen daran zu hindern, von der türkischen Küste zu den griechischen Inseln zu reisen. Im Jahr 2017 unterzeichnete Italien ein ähnliches, von der EU gefördertes Abkommen mit Libyen, das finanzielle und technische Unterstützung für die libysche Küstenwache in Höhe von mehreren Millionen Euro vorsieht. Im Gegenzug soll diese verstärkt Boote abfangen, die versuchen, Italien zu erreichen. Anfang dieses Monats deutete die EU an, dass sie Tunesien ein Darlehen von über 1 Milliarde Euro gewähren könnte – ein Großteil davon zur Unterstützung der Entwicklung des Landes, aber auch 100 Millionen Euro für Grenzschutz, Rückführung sowie Such- und Rettungsmaßnahmen.
Darüber hinaus sind Flüchtende gemäß der sogenannten Dublin-III-Verordnung der EU aus dem Jahr 2013 verpflichtet, in dem ersten EU-Land, in dem sie ankommen, einen Asylantrag zu stellen, theoretisch mit der Chance auf eine Umsiedlung in andere EU-Staaten. In der Praxis hat dies viele Tausende dazu gezwungen, in den zunehmend migrationsfeindlichen Ländern Griechenland und Italien Asyl zu beantragen, die auch weniger wirtschaftliche Möglichkeiten bieten.
Die EU hat in letzter Zeit einige Schritte unternommen, um diese Probleme zu lösen. Anfang dieses Monats unterzeichneten die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten ein Abkommen, mit dem ein neues System geschaffen wird, das darauf abzielt, die Menschen innerhalb der EU besser zu verteilen, und hohe Geldstrafen für Länder vorsieht, die keine aufnehmen.
»Wenn man eine Leiche sieht und daneben einen Serienmörder, weiß man, was passiert ist. Wenn man ein Schiffswrack sieht und daneben die griechische Küstenwache, sollte man das auch wissen.«
In Griechenland (wie auch in Italien unter Giorgia Meloni) herrscht eine offene Feindseligkeit gegenüber MIgrantinnen und Migranten. Während seines Wahlkampfs im vergangenen Monat versprach der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, eine Mauer zu errichten, die sich über fast die gesamte Landgrenze zur Türkei erstreckt, mit der Begründung, sie sei notwendig, um eine »organisierte Invasion illegaler Migranten in griechisches, sprich europäisches Territorium« zu verhindern. In letzter Zeit erwog Griechenland auch Pläne für den Bau einer Mauer im Meer.
Darüber hinaus gibt es seit Jahren Beweise dafür, dass Griechenland und Frontex regelmäßig an illegalen Push-Backs beteiligt sind und zusammenarbeiten, um Menschen ihrem Asylrecht zum Trotz über die Grenze zurückdrängen. In den letzten Jahren wurden diese Push-Backs sowohl an der Landgrenze als auch auf See verstärkt. Diejenigen, die an der Landgrenze im Norden aufgegriffen werden, werden in der Regel geschlagen, ihrer Handys und aller Wertsachen beraubt, oft nackt ausgezogen und in Boote auf dem Fluss Mariza gesetzt. Menschen, die auf den griechischen Inseln ankommen, werden in der Regel eingesammelt, in Gummiboote verfrachtet und auf dem Meer zurückgelassen. Boote, die in der Ägäis abgefangen werden, sind werden beschädigt oder ihre Motoren entfernt – oder die griechische Küstenwache schleppt sie einfach zurück in türkische Gewässer.
Einigen Berichten von Überlebenden zufolge kippte der Fischdampfer vor Pylos um, kurz nachdem die griechische Küstenwache ein Seil ausgeworfen hatte, um ihn abzuschleppen. Die griechische Küstenwache hat jeden Versuch, das Boot abzuschleppen, bestritten.
»Wenn man eine Leiche sieht und daneben einen Serienmörder, weiß man, was passiert ist. Wenn man ein Schiffswrack sieht und daneben die griechische Küstenwache, sollte man das auch wissen«, schrieb der Anwalt Dimitris Choulis auf Twitter. Er vertritt seit Jahren Asylsuchende auf den Ägäis-Inseln.
In einer Erklärung machte Alarm Phone ebenfalls die griechischen Praktiken an der Grenze dafür verantwortlich: »Die Menschen, die unterwegs sind, wissen, dass Tausende von griechischen Kräften beschossen, geschlagen und auf dem Meer ausgesetzt wurden. Sie wissen, dass die Begegnung mit der griechischen Küstenwache, der griechischen Polizei oder dem griechischen Grenzschutz oft mit Gewalt und Leid verbunden ist«, so die Organisation. »Aufgrund der systematischen Push-Backs versuchen die Boote, Griechenland zu umschiffen, indem sie viel längere Routen fahren und ihr Leben auf See riskieren.«
Laut dem Missing Migrants Project der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist das zentrale Mittelmeer die tödlichste Migrationsroute der Welt, auf der seit 2014 mehr als 17.000 Menschen gestorben oder verschwunden sind. Die Organisation gibt an, dass Verzögerungen oder das völlige Fehlen staatlich angeführter Rettungsaktionen auf der zentralen Mittelmeerroute in diesem Jahr bereits 200 Menschen das Leben gekostet hat. Insgesamt wurden im ersten Quartal dieses Jahres 441 Todesfälle im zentralen Mittelmeer verzeichnet, das tödlichste erste Quartal seit 2017.
Die Überlebenden des Schiffsunglücks werden derzeit in einem Flüchtlingslager in Griechenland festgehalten und dürfen nicht mit den Medien sprechen. Familienangehörige und Nahestehende warten weiterhin verzweifelt auf Nachrichten über den Verbleib der Vermissten. Trotz des Aufschreis der IOM und einiger Mitglieder der Vereinten Nationen bleiben die Praktiken oder Vorschriften, die zu dieser Katastrophe geführt haben, fast unverändert. Und schon bald werden noch mehr Menschen ähnlich gefährliche Überfahrten versuchen.
Moira Lavelle ist eine unabhängige Journalistin aus Athen. Sie schreibt über Migration, Grenzen, Geschlechterverhältnisse und Politik.