06. Juli 2023
Armut schadet nicht nur armen Menschen, sondern allen – mit Ausnahme derer, die von billiger Arbeit profitieren.
»Wenn du in Neukölln lebst, lebt jede vierte Person, die du siehst, in Armut.«
Du bist auf dem Weg zur Arbeit. An der Ampel begegnet dir eine Schulklasse. Sie machen einen Ausflug in den Zoo. Jedes fünfte Kind von ihnen lebt in Armut. Fünf Mütter haben ihren Wocheneinkauf unter dem Arm und unterhalten sich über ihre Kinder, zwei von ihnen leben in Armut. Auf der Terrasse des Bürgerzentrums sitzen Rentnerinnen und Rentner und spielen Karten an Sechsertischen. An jedem Tisch sitzt eine Person in Armut. Dein Weg führt dich am Uni-Campus vorbei. Jeder dritte Studierende, der gestresst an dir vorbeiläuft, um zum nächsten Hörsaal zu rennen, lebt in Armut.
Wenn du in Neukölln lebst, lebt jede vierte Person, die du siehst, in Armut. Wenn du in Ostdeutschland lebst, ist es jede fünfte. In Deutschland leben 13 Millionen Menschen in Armut – davon fast drei Millionen Kinder. Das ist jede sechste Person. Deutlich mehr Frauen sind von Armut betroffen als Männer. Und es sind mehr Menschen mit Migrationsgeschichte als ohne.
Armut hat viele Gesichter. Und sie betrifft viel mehr Menschen, als man denkt. Es sind nicht nur arbeitslose Menschen. Armut betrifft beispielsweise viele Alleinerziehende, die in Teilzeit arbeiten, um in der restlichen Zeit für ihre Kinder zu sorgen. Eigentlich arbeiten sie also so viele Stunden wie andere in Vollzeit – oder mehr. Wer würde bestreiten, was für ein harter und wichtiger Job es ist, Kinder großzuziehen?
Armut betrifft viele Kinder und Jugendliche. Kein Kind kann sich aussuchen, in welche ökonomische Situation es hineingeboren wird. Für die hohe Armut unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind häufig die viel zu geringen Ausbildungsvergütungen und zu geringen Bafög-Sätze verantwortlich, gepaart mit hohen Mieten in Städten. Rentnerinnen und Rentner leben immer häufiger in Armut, hier trifft es fast jede fünfte oder jeden fünften.
Obwohl Armutsbiografien vielfältig sind, lassen sich die Gründe immer wieder auf dieselben Zusammenhänge zurückführen. Armut hat System und Armut hat Profiteure. Dieses System wurde politisch in den letzten Jahrzehnten immer weiter verfestigt. Kaum ein Projekt steht so sehr dafür wie die Agenda 2010.
Die Agenda 2010 war eine der großen neoliberalen Reformprogramme in der deutschen Politik. Eingeführt wurde sie von Rot-Grün im Zeitraum zwischen 2003 und 2005. Hinter dem Programm steckt vor allem ein massives Lohndumping-Projekt, um Konzerngewinne aufzustocken. In der Bevölkerung führte die Agenda zu Vertrauensverlust und Politikverdrossenheit und bereitete den Nährboden für die gesellschaftliche Spaltung und das Erstarken der Rechten.
Die Agenda-Reformen hatten das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu steigern. Es sollten sich mehr Unternehmen in Deutschland ansiedeln, hier produzieren und so zum Wirtschaftswachstum beitragen. Die Strategie dafür war vor allem die Schaffung günstiger Arbeit – natürlich günstig für die Arbeitgeber. Die Unternehmen sparen Lohnkosten und haben auf der anderen Seite höhere Profitmargen. Das macht den Standort Deutschland attraktiver. Einfache Rechnung! Keiner fasst es besser zusammen als Gerhard Schröder selbst, als er das Resumeé zog: »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.«
»Fun Fact: Friedrich Merz hielt im Jahre 2008 einen Hartz-IV-Regelsatz von monatlich 132 Euro pro Person für angemessen – unser Held der kleinen Leute.«
Um diesen Niedriglohnsektor aufzubauen, bedurfte es etlicher Reformen der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder. Besonders wichtig ist hier die Reform des Arbeitslosengeldes, welche die Menschen dazu drängte, sich auf noch so schlecht bezahlte oder ungeeignete Stellen zu bewerben. Hier sind vier Reformen relevant:
Erstens: Die Bezugsdauer des ursprünglichen Arbeitslosengeldes, das sich auf 60 Prozent des vorherigen Lohnes belaufen hatte, wurde von 32 Monaten auf maximal zwölf Monate gesenkt. Das Arbeitslosengeld ist ein wichtiges Sicherheitsnetz. Dadurch, dass man sich am Lohn orientiert, fällt man bei Arbeitslosigkeit nicht direkt ins Bodenlose. Die Verkürzung der Dauer war ein herber Einschnitt. Damit steigt der Druck, sich auf die nächste freie Stelle zu bewerben, auch wenn sie womöglich gar nicht zu den eigenen Qualifikationen oder Lebensumständen passt.
Zweitens: Die Sozialhilfe, die arbeitssuchende und arbeitsunfähige Menschen nach Ablauf des Anspruchs auf Arbeitslosengeld unterstützt hatte, wurde abgeschafft. Sie orientierte sich auch am vorherigen Gehalt mit 50 Prozent des letzten Nettoeinkommens. An die Stelle der Sozialhilfe kam das allseits bekannte Arbeitslosengeld II, auch bekannt als: »Hartz IV«. Hartz IV wurde einkommensunabhängig für alle Bezieherinnen und Bezieher zu einem gleichen Betrag ausgezahlt und betrug 345 Euro im Jahr 2005 und 448 Euro im Jahr 2021 für eine erwachsene Person. Zusätzlich wurden die Wohnkosten übernommen. Zusammengenommen bilden sie das sogenannte »Existenzminimum«. Mit Hartz IV folgt nach den harten Einschnitten, die schon mit dem Arbeitslosengeld verbunden sind, der Fall ins Bodenlose. Fun Fact: Friedrich Merz hielt im Jahre 2008 einen Regelsatz von monatlich 132 Euro pro Person für eine angemessene Idee – unser Held der kleinen Leute.
Drittens: Um sicherzustellen, dass Menschen die schlecht bezahlten Jobs annehmen, sind Sanktionen durch das Jobcenter das Mittel der Wahl. Wenn die Leistungsempfängerinnen und -empfänger sich nicht an die ihnen auferlegten Vorgaben hielten, wurden sie mit zehn, 30, 60 oder bis zu 100 Prozent sanktioniert. So durften unter 25-Jährige, die zum ersten Termin im Jobcenter nicht erschienen sind, direkt um 100 Prozent für drei Monate gekürzt werden. Entschärft wurden diese Sanktionsmaßnahmen nicht etwa durch die Politik, sondern durch das Bundesverfassungsgericht. 2019 hat es entschieden, dass alle Sanktionen über 30 Prozent verfassungswidrig sind, weil sie die Menschenwürde zu stark beschneiden. Dass zwar nur rund 3 Prozent der Hartz-IV-Beziehenden sanktioniert werden, stimmt. Doch die Sanktionen hängen über den Bedürftigen wie das Schwert des Damokles: Schon ihre Androhung wirkt. Aus Angst vor der Sanktion sollen Menschen sich den Maßnahmen fügen.
Viertens wurden die Zumutbarkeitsregelungen verschärft. Es gab quasi keine Ausrede mehr, einen vom Jobcenter vorgeschlagenen Job abzulehnen. Auch wenn es ein 1-Euro-Job war, der gar nicht zu einem passte oder wenn nur befristet war. Das führt zu einem Drehtür-Effekt: Menschen kommen aus Hartz IV heraus, indem sie in schlechten Jobs landen, und geraten direkt danach wieder in Hartz IV.
»Nach dem neoliberalen Verständnis sind eine ordentliche Arbeitslosenversicherung, starke Gewerkschaften und ein solider Kündigungsschutz schlechte Markteingriffe.«
Neben den Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung wurde der Arbeitsmarkt weiter dereguliert. Der Kündigungsschutz wurde gelockert und unsichere Arbeitsmodelle wie Leih- und Zeitarbeit einfacher ermöglicht. Außerdem wurden Minijobs ausgeweitet, indem ihre monatliche Lohnobergrenze von 325 auf 400 Euro angehoben wurde. Minijob-Stellen sind attraktiv für Arbeitgeber, weil sie nicht sozialversicherungspflichtig und damit insgesamt deutlich günstiger sind. Für Arbeitnehmer jedoch bedeutet das, keine Rentenpunkte zu sammeln und außerdem, sich weiterhin keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld 1 zu verdienen.
Die Konsequenz dieser Reformen ist, dass immer mehr Menschen trotz Arbeit arm sind – ungefähr 20 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter landen im Niedriglohnsektor. Sie akzeptieren diese Bedingungen und bleiben darin gefangen, weil ihre Angst vor Arbeitslosigkeit zu hoch ist. Diejenigen ohne Arbeit landen ganz unten. Ein Viertel der Menschen, die Hartz IV – jetzt Bürgergeld – beziehen, sind »Aufstocker«. Sie arbeiten zusätzlich in niedrig bezahlten Jobs, aber das Einkommen reicht trotzdem nicht zum Leben. Deswegen beziehen sie zusätzlich Leistungen. Alles, was sie über 100 Euro im Monat dazu verdienen, wird zu 80 Prozent angerechnet. Die Arbeitgeber freuen sich, weil damit ihre niedrigen Löhne subventioniert werden.
Hinter all diesen Reformen stecken neoliberale Ziele. Denn damit der Markt »gut« funktioniert, soll er von Eingriffen befreit werden. Nach diesem Verständnis sind eine ordentliche Arbeitslosenversicherung, starke Gewerkschaften und ein solider Kündigungsschutz schlechte Markteingriffe. Es muss daher nicht wundern, dass im Zuge neoliberaler Politik sowohl der Arbeitsmarkt dereguliert als auch die Daseinsvorsorge zurechtgestutzt wurde. Denn auch davon profitieren die Konzerne. […]
Dies ist ein Auszug aus dem Kapitel »Das System Armut« des Sammelbands GENUG! – Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen.
Sarah-Lee Heinrich ist ehemalige Bundessprecherin der Grünen Jugend und Aktivistin für soziale Gerechtigkeit.