30. Juni 2021
Die häusliche Pflege in Deutschland basiert auf der Ausbeutung osteuropäischer Pflegerinnen. Eine von ihnen hat dagegen geklagt – und Recht bekommen. Justyna Oblacewicz hat die Klägerin beraten. JACOBIN sprach mit ihr über die Auswirkungen des Urteils.
Mit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts gerät des Modell der 24-Stunden-Pflege auf den Prüfstand.
Es war ein grandioser Sieg für sogenannte 24-Stunden-Pflegerinnen und -Pfleger in ganz Deutschland: Am 24. Juni entschied das Bundesarbeitsgericht, dass der bulgarischen Pflegerin Dobrina (in den Medien auch als »Frau Aleksewa« bekannt), die in Deutschland als 24-Stunden-Kraft arbeitete, eine kräftige Nachzahlung von ihrem Arbeitgeber zusteht. Dobrina hatte eigentlich einen 30-Stunden-Vertrag unterschrieben und wurde auch nur für eine 30-Stunden-Woche bezahlt – zu einem Lohn von gerade einmal 950 Euro netto. Tatsächlich betreute sie ihre Klienten aber rund um die Uhr, oft auch an den Wochenenden. An bezahlte Urlaubstage war gar nicht erst zu denken.
Dobrinas Erfahrungen in Deutschland sind kein Einzelfall. In der häuslichen Pflege sind Unterbezahlung und Überarbeitung osteuropäischer Pflegekräfte der Standard. Hinter dieser Ausbeutung steckt Kalkül. Die Arbeitgeber rekrutieren gezielt Arbeiterinnen aus Osteuropa, die die lokale Sprache oft nicht beherrschen und kaum in gewerkschaftliche Strukturen eingebunden sind, um die Löhne zu drücken und arbeitsrechtliche Bestimmungen zu umgehen. Doch Dobrina ließ sich mit den unwürdigen Arbeitsbedingungen nicht abfertigen. Sie wandte sich an eine Beratungsstelle des DGB für Arbeiterinnen und Arbeiter aus Osteuropa. Mit Unterstützung ihrer Gewerkschaft klagte sie auf angemessene Vergütung für das Jahr 2015 – zunächst ohne Erfolg. Doch mit dem jüngsten Urteil vom Bundesarbeitsgericht in Erfurt wurde ihr Recht gegeben.
Die gerichtliche Entscheidung und ihre Implikationen werden nicht nur in den deutschen Medien, sondern auch in Bulgarien diskutiert. Denn das Urteil hat einer erheblichen Verbesserung der Arbeitsverhältnisse Tausender migrantischer Pflegekräfte den Weg geebnet. Wie es im Kampf um eine ordentliche und faire Bezahlung in der Pflegebranche weitergeht und welche Rolle das Urteil zum 24-Stunden-Dienst dabei spielt, darüber sprach JACOBIN-Redakteur Loren Balhorn mit Justyna Oblacewicz von Faire Mobilität, einer Beratungsstelle des DGB, die Dobrina auf ihrem Klageweg begleitet hat.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat der Klägerin am 24. Juni Recht gegeben und entschieden, dass der deutsche Mindestlohn für ausländische Pflegekräfte gilt und auch der Bereitschaftsdienst vergütet werden muss. Welche Auswirkungen wird das Urteil haben?
Das BAG hat vergangenen Dienstag klargestellt, dass für ausländische Betreuungskräfte, die nach Deutschland entsandt werden, der in Deutschland geltende Mindestlohn für alle Arbeitszeiten zu zahlen ist. Das ist ein bahnbrechendes Urteil für die ganze Branche, denn das Modell der sogenannten 24-Stunden-Pflege basiert ja gerade darauf, dass zwar bis zu 24 Stunden pro Tag gearbeitet wird, jedoch nur ein Bruchteil dieser Arbeitsstunden tatsächlich bezahlt werden.
Inwiefern diese Entscheidung auch für Betreuungskräfte gilt, die im Rahmen eines ausländischen Dienstleistungsvertrages in Deutschland arbeiten – man könnte diese Arbeitskräfte als arbeitnehmerähnliche Selbständige bezeichnen –, muss noch geklärt werden. Denn anders als bei der Klägerin, gilt das deutsche Arbeitsrecht für diese Betreuungskräfte nicht automatisch, sondern muss vor Gericht erst erstritten werden.
Genau deshalb ist dieses Modell in dieser Branche so populär. Die Vermittlungsagenturen machen so auf Kosten der Betreuungskräfte maximale Profite. Dennoch glauben wir, dass das Urteil diese Betreuungskräfte dazu ermutigen wird, vor Gericht das für Arbeitnehmerinnen geltende Recht zu erstreiten. Dazu gehört auch, dass für jede geleistete Arbeitsstunde der Mindestlohn gezahlt werden muss.
Der Fall ist dennoch nicht zu Ende, sondern geht nun zurück ans Berliner Arbeitsgericht. Was soll das Gericht in Berlin nun prüfen, und könnte die Entscheidung doch noch gekippt werden?
In Bezug auf diesen konkreten Fall hat das BAG auch entschieden, dass das ursprüngliche Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) in Berlin, in dem der Betreuungskraft knapp 40.000 Euro für 21 Stunden Arbeitszeit pro Tag zugesprochen wurden, aufgehoben wird. Daher muss das Gericht nun erneut über den Umfang der zu vergütenden Arbeitszeit entscheiden. Die Begründung des LAG war für den zugesprochenen zeitlichen Arbeitsumfang zu oberflächlich.
Nun müssen gegebenenfalls wieder Beweise für die tatsächlich geleistete Arbeitszeit vorgelegt werden. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig eine detaillierte Dokumentation der Arbeitszeiten für eine gerichtliche Auseinandersetzung ist und wie sich die Vermittlungsagenturen aus der Verantwortung stehlen – sie wälzen die Beweispflicht einfach auf die Beschäftigten ab.
Reicht diese Entscheidung, um eine faire Bezahlung in der Pflege durchzusetzen? Oder braucht es noch weitere rechtliche Instrumente, etwa ein neues Gesetz?
Die Lösung kann jedenfalls nicht darin liegen, dass die Beschäftigungsverhältnisse nun zu einer Selbstständigkeit umgelabelt werden. Dann würde sich an den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen selbst nämlich nichts ändern, aber das Modell der Betreuung rund um die Uhr durch nur eine Person würde plötzlich legal.
Aus unserer Erfahrung in der Beratungsarbeit handelt es sich bei der Betreuungsarbeit in häuslicher Umgebung um weisungsgebundene Arbeit, die auch im Wesentlichen durch die Bedürfnisse der Betreuungsperson gesteuert wird. Die Betreuungskräfte selbst agieren als Arbeitnehmerinnen und nicht als Selbständige. Deshalb wäre eine Selbständigkeit in diesem Bereich eine Scheinselbständigkeit.
Wir brauchen einen umfassenden und systemischen Wandel in der Altenpflege: bessere Arbeitsbedingungen, gute Bezahlung und eine Absicherung von Pflegebedürftigen. Das derzeitige Modell der häuslichen Betreuung ist nicht haltbar, wir brauchen eine echte Alternative – und zwar eine, die das geltende Arbeitsrecht einhält.
Wie können Arbeitgeber, die weniger als den Mindestlohn zahlen und ausbeuterische Subunternehmen beauftragen, rechtlich sanktioniert werden? Bieten sich für Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretungen da überhaupt Handlungsoptionen?
Das Geschäftsmodell ist so konstruiert, dass es sich einer Kontrolle in weiten Teilen entzieht. Auf der einen Seite sind da die Vermittlungsagenturen, die als Arbeitgeber keine Pflichten übernehmen wollen. Auf der anderen Seite sind da die Privathaushalte, die durch das Grundgesetz besonders geschützt sind. Eine Kontrolle ist da nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen möglich.
Und schließlich haben wir es hier mit Betreuungskräften zu tun, die zum größten Teil nicht wissen, dass sie ihre Rechte auch in Deutschland einklagen können. Erschwerend kommt hinzu, dass jede Betreuungskraft eigenständig ihren Lohnanspruch durchsetzen muss. Denn die wenigsten von ihnen sind in einer Gewerkschaft.
Einige Sozialverbände haben auf die Entscheidung negativ reagiert. Sie behaupten, der Mindestlohn wird vor allem zu mehr Schwarzarbeit in der Branche führen. Sie argumentieren, dass es sich viele Familien in Deutschland schlicht nicht leisten können, eine Pflegekraft zu beschäftigen, die ihren Anspruch auf den Mindestlohn geltend macht. Stimmt das? Und wie können wir vermeiden, dass die Interessen von ausgebeuteten Arbeitskräften aus dem Ausland gegen die Interessen von pflegebedürftigen Menschen und ihren Familien ausgespielt werden?
Ein System, das auf Ausbeutung basiert, aufrecht erhalten zu wollen, weil es sonst zu teuer würde, halte ich für kein stichhaltiges Argument. Das Urteil zwingt die Politik zum Handeln. Das Problem der Altenpflege wurde zu lange vernachlässigt. Das Urteil hat lediglich Missstände offenbart, die schon lange existieren.
Jetzt muss das Pflegesystem neu ausgerichtet werden. Es müssen endlich gute Arbeitsbedingungen mit entsprechender Entlohnung und eine Absicherung für Pflegebedürftige entstehen.
Seit Jahren versuchen die Gewerkschaften und die politische Linke, die verheerenden Zustände in der Pflege in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Wurden dahingehend in letzter Zeit Fortschritte gemacht?
Ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Urteil auch weitere Betreuungskräfte darin bestärken wird, auch für sich den Mindestlohn für die tatsächlich gearbeiteten Stunden – und nicht nur für die vertraglich vereinbarten – einzufordern. Um das zu erreichen, wird es Gewerkschaften brauchen, damit die Betreuungskräfte nicht für sich allein kämpfen müssen. Der Fall von Dobrina ist so weit gekommen, weil sie bei der ver.di Mitglied ist und ihre Gewerkschaft sie auf dem Weg unterstützt hat.
Das Urteil hat in jedem Fall eine Debatte angestoßen, weil es bis ins Mark der Altenpflege vorgedrungen ist. Es hat ein Problem in unserem Pflegeversicherungssystem sichtbar gemacht, das von der Politik viel zu lange ignoriert wurde. Nun ist sie aufgefordert, Lösungen zu finden.
Was muss aus Sicht der Gewerkschaften politisch getan werden, um faire Arbeitsbedingungen in der Altenpflege zu garantieren, ohne dass Pflegebedürftige alleine auf den Kosten sitzen bleiben?
Was wir brauchen, ist eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung. Die Kosten der Altenpflege müssen voll finanziert werden, damit die Pflegebedürftigen erst gar nicht in die Lage kommen, ein Modell in Anspruch nehmen zu müssen, das auf der Ausbeutung der Frauen aus Osteuropa basiert.
Wir brauchen zudem insgesamt ein vielfältigeres Angebot an ambulanten Betreuungsmöglichkeiten für Menschen, die in den eigenen vier Wänden bleiben möchten. Im Moment kommt es mir häufig so vor, als wäre die Betreuung durch eine Osteuropäerin die einzige Alternative. Und schließlich brauchen Familienangehörige genug Sicherheit und Zeit, um die Pflege ihrer Angehörigen organisieren zu können, ohne dass es zu Lohneinbußen kommt.
Justyna Oblacewicz ist Branchenkoordinatorin im Bereich der häuslichen Pflege und Beraterin bei der DGB-Beratungsstelle Faire Mobilität in Berlin.