22. Juni 2023
Nachdem der progressive Verfassungsentwurf 2022 im Referendum gescheitert ist, haben rechte Kräfte an Einfluss gewonnen und können die neue Verfassung nun ihrerseits prägen oder verhindern. Doch die Linke ist nicht völlig chancenlos, meint der Politologe Aldo Madariaga im JACOBIN-Interview.
Der ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast hat mit seiner rechtsextremen Partei Republicanos die Wahlen zum Verfassungsrat gewonnen.
IMAGO / Aton ChileNach Optimismus und Euphorie in den Jahren 2021/22 ist der Kampf für eine neue Verfassung in Chile auf spektakuläre Weise gescheitert. Nach dem Aufstand 2019 und dem Wahlsieg des Linken Gabriel Boric schien der Traum, die Verfassung aus der Pinochet-Ära endlich einzumotten, Realität zu werden. Entgegen der Erwartung ist dieser Traum nun wieder in weite Ferne gerückt.
Im September 2022 wurder der Verfassungsentwurf in einem Referendum abgelehnt. Viele Linke hatten sich auf einen hart umkämpften Prozess eingestellt. Ihnen war klar, dass es schwierig werden würde, die Zustimmung der Bevölkerung für einen derart radikalen Verfassungsvorschlag zu gewinnen (inklusive kontrovers diskutierter Maßnahmen wie größerer Autonomie für indigene Bevölkerungsgruppen und Rechte der Natur). Dennoch hatten nur wenige ein solch katastrophales Ergebnis erwartet: Die Ablehnung der neuen Verfassung durch 62 Prozent der Wählerinnen und Wähler war ein einschneidendes Ereignis. Sie war aber kein einzelner, vorübergehender Rückschlag, sondern nur die erste in einer Reihe von Niederlagen.
Den größten politischen Schaden erlitt dabei die Regierung von Boric. Er hatte seine Reformagenda eng an die neue Verfassung geknüpft. Entsprechend machte deren Ablehnung ihn praktisch handlungsunfähig. Ohne eigenes Verschulden läuft Boric daher Gefahr, als der linke Präsident in die Geschichte Chiles einzugehen, der in Sachen neuer Verfassung weniger erreicht hat als sein rechter Vorgänger Sebastián Piñera.
Währenddessen arbeitet man in Chile weiterhin an einer neuen Verfassung. Mit möglichst wenig Tamtam und minimaler Berichterstattung wurde die Ausarbeitung eines Verfassungstextes wieder aufgenommen – nur, dass der Prozess diesmal von einer technokratischen »Expertenkommission« und dem politischen Neuling Partido Republicano dominiert wird, einer rechtsextremen Truppe um den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Pinochet-Anhänger José Antonio Kast.
Im Interview mit JACOBIN spricht der Politikwissenschaftler Aldo Madariaga über den Einfluss der im Verfassungsrat. Madariaga, Autor des Buches Neoliberal Resilience: Lessons in Democracy and Development from Latin America and Eastern Europe, analysiert die verschiedenen Faktoren, die zu den wiederholten Niederlagen der Linken an der Wahlurne geführt haben, und unterstreicht, dass es trotzdem noch Spielraum gibt, um den Verfassungsprozess in eine progressive Richtung zu lenken.
Viele waren überrascht, als die extreme Rechte bei den Wahlen zum Verfassungsrat einen Sieg davontrug. Was ist seit der Ablehnung der Verfassung im verganenen Jahr in Chile geschehen?
Der chilenische Verfassungsprozess ist sowohl international als auch in Chile selbst weitgehend aus dem Blickfeld geraten. Zunächst dachten alle darüber nach, was das Ergebnis des Referendums zu bedeuten hatte. Dann aber verwandelte sich die Frage in eine andere: Hat die Forderung nach grundlegendem Wandel überhaupt noch Bestand? Viele Rechte behaupteten, die Ablehnung im Referendum stelle infrage, ob die Bevölkerung überhaupt noch eine neue Verfassung will.
Eine Zeit lang versuchte die Linke, den Verfassungsprozess am Leben zu erhalten und für einen neuen Anlauf die Werbetrommel zu rühren. Doch die chilenischen Bürgerinnen und Bürger sind der langwierigen Wahlkämpfe und Debatten überdrüssig geworden. Man muss sich das vorstellen: Wir haben innerhalb von zwei Jahren vier, fünf Mal abgestimmt – und das inmitten einer Pandemie.
»Ein Gefühl der Erschöpfung hat sich eingestellt und die Menschen in Chile haben neue Probleme zu bewältigen – Inflation, Rezession und so weiter.«
Chile hatte einen der längsten Lockdowns der Welt. Als wir diese Zeit endlich hinter uns hatten, war der transformative Geist des Aufstands vom Oktober 2019 nur noch eine ferne Erinnerung. Man konnte die Bevölkerung offenbar nicht mehr für eine neue Verfassung mobilisieren. Ein Gefühl der Erschöpfung hatte sich eingestellt und die Menschen in Chile hatten neue Probleme zu bewältigen – Inflation, Rezession und so weiter. Doch irgendetwas musste man tun, schließlich gab es den demokratischen Auftrag aus den Wahlen, dass die Verfassung geändert werden sollte.
Vor diesem Hintergrund kam es bei den Verhandlungen zu einem Kompromiss: Die im Kongress und im Senat vertretenen Parteien entsandten entsprechend ihrer Stärke Vertreterinnen und Vertreter in eine »Expertenkommission«, die nun ein vorläufiges Verfassungsdokument entwirft. In einer zweiten Phase soll dann ein gewählter »Verfassungsrat« auf der Grundlage dieses Dokuments einen Verfassungsvorschlag ausarbeiten, der in einer letzten Phase der Bevölkerung in einem Referendum zur Annahme oder Ablehnung vorgelegt wird. Die Expertenkommission stimmt derzeit über Artikel und Änderungen ab, die in den Entwurf einfließen sollen; der Verfassungsrat soll dann gegen Ende des Jahres seine Arbeit aufnehmen.
Nun hat die extreme Rechte im Verfassungsrat großen Einfluss. Viele sehen darin bereits den Tod der neuen Verfassung. Wird die Verfassung aus der Pinochet-Ära bestehen bleiben?
Am Tag nach der Wahl zum Verfassungsrat hätte ich diese Frage mit einem klaren »Ja« beantwortet. Es war ein sehr trauriger Tag. Politisch gesehen ist das aktuelle Szenario jedoch komplexer und stellt nicht nur die Linke vor ein großes Dilemma, sondern auch die Rechte und die gemäßigten Parteien der Mitte. So ist die »gemäßigte« Rechte heute hin- und hergerissen: Soll sie sich der Führung der extremen Rechten unterordnen und damit ihre ohnehin geringe demokratische Glaubwürdigkeit aufgeben, oder einen Teil ihrer eigenen Basis entfremden, indem sie sich der Mitte annähert?
Es ist etwas seltsam, hier von der »gemäßigten Rechten« zu sprechen, denn zu diesen Kräften gehört auch die Unabhängige Demokratische Union (UDI), eine Partei, die von ehemaligen Mitstreitern des Pinochet-Regimes gegründet wurde. Der Pinochetismus ist in dieser Partei immer noch lebendig. Allerdings scheint eine neue Generation von Führungskräften in der UDI entschlossen zu sein, die offensichtlichsten Teile des Pinochet-Erbes hinter sich zu lassen – zumindest so weit, dass sie eine neue Verfassung mittragen können. Die Republicanos haben die UDI und andere traditionell konservative Gruppen wegen deren angeblicher Mäßigung als »beschämte Rechte« kritisiert. Da die UDI einen Teil ihrer radikaleren Basis an die Republicanos verloren hat oder gerade verliert, hat sie nun noch mehr Grund, zu versuchen, die extreme Rechte zu isolieren und sich in Richtung Mitte zu bewegen.
»Es gibt bereits Stimmen, die von der Regierung verlangen, dass sie ihr Programm noch mehr abmildert, als sie es bereits getan hat, um diesen vermeintlichen Rechtsruck aufzuhalten.«
Was die Verfassung selbst angeht, so scheint es innerhalb der Expertenkommission einen breiten Konsens darüber zu geben, dass ein Vorläuferdokument benötigt wird, das eine gemeinsame Grundlage schafft. Vorausgesetzt, dass die gemäßigte Rechte im Verfassungsrat diese Grundlage respektiert, könnten die Vorschläge der Kommission tatsächlich den Rahmen für die neue Verfassung bilden. Allerdings muss diese auch einige Dinge beinhalten, die der Linken sehr am Herzen liegen, darunter die klare Benennung Chiles als ein sozialer und demokratischer Staat.
Allein das würde das Ende des aktuellen Ordnung bedeuten, die den chilenischen Staat faktisch daran hindert, verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten nachzugehen und die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen zu gewährleisten. Durch die Abschaffung einer Klausel, die die Privatisierung des Gesundheitswesens ermöglicht hatte, könnten zum Beispiel die öffentlichen Gesundheits- und Sozialversicherungsdienste gestärkt werden. Es ist also nicht alles schlecht.
Du sagst, die traditionelle Rechte will die Partido Republicano isolieren. Doch der Republicano-Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast hat 2022 gut abgeschnitten und jetzt gab es den Sieg in der Wahl zum Verfassungsrat. Ist es nicht eher so, dass die Rechtsaußen-Partei ihre Position festigt?
Ich sehe das nicht so. Aber viele Rechte wollen zumindest diesen Eindruck vermitteln. Es gibt bereits Stimmen, die von der Regierung verlangen, dass sie ihr Programm noch mehr abmildert, als sie es bereits getan hat, um diesen vermeintlichen Rechtsruck aufzuhalten. Ich denke aber, dass der Sieg der Republicanos mit negativen Wahlverhaltensmustern zusammenpasst, die Politikwissenschaftler in der ganzen Region beobachten, nicht nur in Chile. Aufgrund der weit verbreiteten Politikverdrossenheit stimmen die Menschen zunehmend gegen etwas und nicht für etwas. Damit haben Oppositionsparteien immer gute Karten, weil sie die Unzufriedenheit nutzen können – unabhängig davon, ob den Menschen ihre politischen Vorschläge gefallen.
Ein weiterer Faktor für den überraschenden Sieg der extremen Rechten war der plötzliche Absturz der Partido de la Gente, einer populistischen Partei ohne klare ideologische Linie. Die Partido de la Gente hat einen großen Teil der enttäuschten Wählerschaft angezogen, die zunehmend bezweifelt, dass die neue Verfassung die Zeit und Mühe wert ist, die besser für dringendere Probleme aufgewendet werden sollten. Das heißt, dass die Wählerinnen und Wähler, die bei der Präsidentschaftswahl 2022 der Partido de la Gente ihre Stimme gegeben hatten – damals gewann sie rund 12 Prozent – dieses Mal der Meinung waren, dass die beste Alternative eben die Republicanos sind.
Ein weiterer entscheidender Faktor bei der Wahl war die Zahl der ungültigen Stimmzettel, die mehr als 20 Prozent aller Stimmen ausmachten – der höchste Wert aller Zeiten. Das ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die ganze Verfassungsdiskussion auf die Menschen ermüdend wirkt. Man kann dies als Rechtsruck interpretieren, doch damit liegt man vermutlich falsch. So gesehen wäre es gar nicht schlecht, wenn sich die Expertenkommission jetzt schnell auf ein Dokument einigen kann, das zwar nicht so stark partizipativ oder visionär ist wie der abgelehnte Verfassungsentwurf, aber zumindest angenommen werden und somit die Pinochet-Verfassung ersetzen kann.
Das würden viele als Pyrrhussieg sehen; schließlich sind einige progressive Programmpunkte bereits auf der Strecke geblieben. Sollten wir uns nicht zumindest darüber ärgern, dass die erste Version des Verfassungsentwurfs nun von einer technokratischen »Expertenkommission« geschrieben wird?
Doch, natürlich. Aber diese Situation wartet mit einer Reihe von Überraschungen und Paradoxien auf. In der Tat wurde die Expertenkommission so konzipiert, dass sie jegliches demokratische Anteilnahme ausschließt. Das ist wirklich niederschmetternd, wenn man bedenkt, dass der gesamte Prozess von einem so starken demokratischen Geist ausging. Andererseits scheint dieser Verfassungsrat eine letzte Chance zu sein, die transformativen Kräfte erneut zu aktivieren, wenn auch in einer viel begrenzteren Form als beim ersten Verfassungskonvent.
Dieses Mal gab es zum Beispiel keine besonderen Sitze für indigene Völker mehr, und unabhängige Kandidaten durften nicht auf separaten Listen kandidieren. Das waren zwei der interessanteren Neuerungen, die mit dem Verfassungskonvent 2022 eingeführt wurden – ganz unabhängig davon, was man persönlich über die Rolle der Unabhängigen im Verfassungsrat denken mag.
Natürlich haben sich die Dinge gewandelt. Die Wahlen zum Verfassungsrat führten zu einem erdrutschartigen Sieg der extremen Rechten: 36 Prozent der Stimmen gingen an die Republicanos, eine Partei, die sich offen mit der Pinochet-Ära identifiziert. Die Regierungskoalition – bestehend aus Frente Amplio, Sozialisten und Kommunisten – verfehlte das für ein Vetorecht erforderliche Drittel der Stimmen. Das bedeutet, dass die Rechte – von der extremen bis zur »gemäßigten« Rechten – genügend Sitze im Verfassungsrat haben wird, um alles durchzusetzen, was sie will. Die Mitte-Links-Partei Concertación, die das Land seit 1990 mehr als zwanzig Jahre lang regiert hat, fuhr derweil eine vernichtende Wahlschlappe ein und ist im Rat überhaupt nicht vertreten.
»Tatsächlich ist zu befürchten, dass die Rechtsextremen darauf hinarbeiten, dass der fertige Vorschlag in der abschließenden Volksabstimmung abgelehnt wird.«
Um auf die Frage zurückzukommen: Vor diesem Hintergrund ist die Arbeit der Expertenkommission aus strategischer Sicht für die linke Mitte und die Linke plötzlich extrem wichtig geworden. Die Linke ist nämlich in der Kommission stärker vertreten als im Verfassungsrat. So kann sie möglicherweise bestimmte Schwerpunkte setzen, bevor das Papier an den Verfassungsrat übergeben wird.
Außerdem bedeutet eine Verhandlung mit der »gemäßigten« Rechten im aktuellen Kontext nicht unbedingt eine Kapitulation. Diese scheint entschlossen, die Verabschiedung einer neuen Verfassung durchzusetzen, und weiß, dass die extreme Rechte den gesamten Prozess boykottieren könnte, sobald der Verfassungsrat seine Arbeit aufnimmt. Tatsächlich ist zu befürchten, dass die Rechtsextremen darauf hinarbeiten, dass der fertige Vorschlag in der abschließenden Volksabstimmung abgelehnt wird. In diesem Fall würde Chile nach langwierigen Verhandlungen tatsächlich mit der gleichen Pinochet-Verfassung dastehen wie zuvor.
Um sich von der extremen Rechten abzugrenzen, will die »gemäßigte« Rechte also ihre demokratische Glaubwürdigkeit in den Vordergrund stellen. Das bedeutet, dass sie Zugeständnisse machen könnte, um die Verabschiedung einer neuen Verfassung zu gewährleisten. Daher dürfte sie in der Expertenkommission konsensorientiert sein, um einen Verfassungstext vorzulegen, den die Mehrheit des politischen Spektrums – von der Kommunistischen Partei bis zur rechten UDI – billigen würde.
Die Frage ist natürlich: Warum hat die Linke diesem neuen Prozess zugestimmt, nachdem klar war, dass sie durch die Niederlage im Referendum 2022 geschwächt dasteht?
Das Ablehnungsvotum kann auf verschiedene Arten gelesen werden, nicht nur als Kritik an der Linken. Ich denke nicht, dass der gesamte Prozess von den Rechten gekapert worden sei, wie viele es jetzt darstellen. Der Kongress – der ja die Expertenkommission eingesetzt hat – hat nach wie vor eine gewisse Legitimität. Schließlich wurde er mehr oder weniger zur gleichen Zeit wie der Verfassungskonvent 2022 gewählt. Ich glaube also, dass die Sache komplexer ist. Hier passiert mehr als eine einfache Verschiebung nach rechts im Verfassungsprozess.
Nach dem gescheiterten Referendum standen die Progressiven vor folgendem Dilemma: Angesichts einer extremen Rechten, die den gesamten Prozess zerstören wollte (und will), mussten sie verhindern, dass die Mitte und die traditionellen Konservativen sich dem rechten Flügel anschlossen. Also handelten die Progressiven eine Vereinbarung aus, die die »gemäßigten« Rechten zurück in die Mitte brachte. Das ging allerdings einher mit erheblichen Zugeständnissen in Bezug auf das transformative Potenzial des Verfassungsprozesses. Noch bevor die Expertenkommission eingesetzt wurde, erstellte der Kongress ein Dokument, in dem er »Grenzen« – so die Wortwahl – festlegte, die der Verfassungsrat zu respektieren haben wird. Rückblickend und angesichts des Sieges der Rechstextremen bei der Wahl zum Verfassungsrat scheint dieser Kompromiss nicht so schlecht.
Was bedeutet das für Boric? Er wollte der Präsident sein, der eine neue progressive Verfassung unterzeichnet.
Das Projekt, mit dem Boric die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, existiert nicht mehr. Borics Regierung stand für den Verfassungsprozess. Einige radikalere Linke mögen bezweifeln, dass er diesen Prozess gewissenhaft vertreten hat, aber niemand hat seine Verbundenheit mit dieser Angelegenheit wirklich in Frage gestellt. Der Erfolg seiner Regierung stand und fiel also mit der Verfassung. Daran hat sie die Öffentlichkeit kurz vor dem Referendum im September 2022 selbst noch erinnert.
Zur gleichen Zeit zu regieren, zu der auch der Verfassungsprozess stattfand, hat Boric große Schwierigkeiten bereitet. Denn Regierungen müssen kurzfristige, greifbare Ergebnisse liefern. Sie haben keine fünfzig Jahre Zeit, um an politischen Maßnahmen zu arbeiten, die mit einem Verfassungsprozess einhergehen – wie zum Beispiel, sich für Gerechtigkeit in indigenen Territorien einzusetzen oder der natürlichen Umwelt Rechte zu geben. Diese längerfristigen Bemühungen sind natürlich sehr wichtig, aber wenn die Inflation ein Dreißigjahreshoch erreicht hat, kann dies bei den Menschen eine gewisse kognitive Dissonanz zur Folge haben.
So war und ist Borics Regierung eine Geisel des Verfassungsprozesses. Allerdings hat sie auch selbst alles Erdenkliche getan, um mit diesem Prozess assoziiert zu werden. Von Anfang an betonten seine Ministerinnen und Minister, dass die Menschen für die neue Verfassung stimmen mussten, wenn sie zum Beispiel eine allgemeine öffentliche Gesundheitsversorgung wollten. In gewisser Weise stimmte das auch – die alte Verfassung ließ ein solches System nicht zu. Aber indem die Regierung Boric ihr Reformprogramm so stark mit der neuen Verfassung verknüpfte, hat sie sich effektiv selbst ins Bein geschossen. Sie hatte aber wohl auch keine andere Wahl.
Für Boric und seine Regierung wäre es aktuell wohl am besten, wenn gar nicht mehr über die Verfassung geredet würde. In der Tat lässt sich beobachten, dass sich der Fokus verschoben hat: Plötzlich geht es in der chilenischen Politik nur noch um Sicherheit. Es kommt nicht von ungefähr, dass eine der Gewinnerinnen bei der Wahl zum Verfassungsrat die erst kürzlich gegründete gemäßigt-rechte Koalition Chile Seguro (Sicheres Chile) war. Die extreme Rechte setzt sich derweil für eine Verfassung ein, die den Einsatz von Polizeigewalt, den Ausnahmezustand und andere repressive Maßnahmen beibehält. Als hätte sie nicht genug Probleme, hat sich Borics Regierung auch noch in diese Sicherheitsdebatten reineinziehen lassen.
Es gibt immer noch eine hohe Korrelation zwischen den Zustimmungsraten für die Verfassung und der Zustimmung zu Borics Regierung. Das bedeutet auch, dass die Regierung ihre eigene politische Arbeit nicht vorantreiben kann, ohne ständig in die Verfassungsdebatte hineingezogen zu werden. Das ursprüngliche Projekt, das die Regierung Boric an die Macht gebracht hat, ist mit der Ablehnung der Verfassung im Grunde gestorben. In der Folge ist ihre politische Agenda inzwischen sehr viel reformistischer geworden.
Warum ist das Thema Sicherheit auf einmal so zentral?
Das hat auch mit den Auswirkungen der Pandemie zu tun. Corona hat alle Länder hart getroffen, aber in Chile war es wegen der strengen Quarantänemaßnahmen besonders heftig. Die Menschen waren regelrecht eingesperrt und verängstigt und begannen zu vergessen, wie es ist, im öffentlichen Raum zu leben. Als sie in diesen zurückkehrten, besonders in Santiago, hatten sich diese Orte seit dem Aufstand von 2019 nicht verändert. Es war ein feindseliger öffentlicher Raum, der unzählige Menschenrechtsverletzungen, polizeiliche Repressionen und massive Unruhen erlebt hatte. Es war auch ein unaufgeräumter, hässlicher und vernachlässigter öffentlicher Raum.
Die Medien griffen dies auf, um ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen: Die Straßen seien voller Unordnung, Kriminalität, Gestank und so weiter. Schließlich begannen die Menschen, den Verfall des öffentlichen Raums mit dem sozialen Aufstand selbst zu assoziieren.
»Die Linke muss einen überzeugenderen Weg finden, um das Problem der Kriminalität anzugehen. Die Rechte hat kein echtes Konzept zu bieten, sondern nur Autoritarismus und Straffreiheit für die Polizei.«
Ich glaube, dass sich die Linke die Frage stellen muss, wie sie mit dem Kriminalitätsproblem umgehen soll. Wie sieht eine linke Agenda zum Thema Kriminalität aus? Es ist in Ordnung, zu sagen: »Wir werden die Ungleichheit bekämpfen, dann geht auch die Kriminalität zurück. Schließlich ist das ein strukturelles Problem.« Aber die Zunahme der Kriminalität ist real. Die unkontrollierte Einwanderung hat explosionsartig zugenommen und internationale Drogenhandelsnetze haben in Chile Fuß gefasst.
Die Linke muss einen überzeugenderen Weg finden, um das Problem der Kriminalität anzugehen, vor allem weil das Thema für die Rechte so naheliegend ist und sie dort praktisch immer punkten kann. Dabei hat die Rechte hat dem Land kein echtes Konzept zu bieten, sondern nur Autoritarismus und Straffreiheit für die Polizei.
Das scheint für die chilenische Linke ohnehin ein schwieriges Thema zu sein. Die nationale Militärpolizei, die Carabineros, hat direkte Verbindungen zur ehemaligen Pinochet-Diktatur und war auch an zahlreichen Übergriffen während des Aufstands von 2019 beteiligt. Ihr Vorgehen gegen Kriminalität trennt nicht viel von ihrem Vorgehen gegen soziale Proteste.
Mir scheint es, als habe die Ablehnung im Referendum die Debatte innerhalb der Linken einfach beendet. Die Sozialistische Partei sagt beispielsweise, die Regierung solle einfach die sicherheitspolitischen Konzepte der Rechten übernehmen. Es gibt keine Diskussion darüber, wie linke Ansätze zum Thema Kriminalität aussehen könnten. Stattdessen hechelt man den repressiven Konzepten der Rechten hinterher, weil man nicht noch mehr Wählerinnen und Wähler verlieren will.
Ich würde auch sagen, dass die Regierung sehr naiv war. Weil ihre Mitglieder aus sozialen Bewegungen hervorgegangen sind, dachten sie, sie könnten in bestimmten sozialen Fragen die absolute Legitimität beanspruchen. Mit dieser Mentalität hat die Staatsführung im Umgang mit den Mapuche-Communities im Süden Chiles einige schwere Fehler begangen. Inzwischen hat sie langsam erkannt, dass regieren eben auch bedeutet, das Gewaltmonopol zu besitzen. Egal, wie links du bist, egal, wie sehr du den Dialog mit den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen führen willst – wenn du das legitime Gewaltmonopol verlierst, hast du ein großes Problem.
Muss die chilenische Linke erst eine tiefgehende Aufarbeitung der Entwicklungen vor, während und nach dem Referendum 2022 durchführen, bevor sie wieder in die Spur kommen kann?
Der Aufstand zeigte, dass der Wunsch nach einer neuen Verfassung in der Bevölkerung tief empfunden wurde. Die Frage ist, wie wir ausgehend von einer ziemlich überzeugenden und von weiten Teilen der Gesellschaft getragenen Forderung nach Wandel bei einer Ablehnung der vorgeschlagenen Verfassung gelandet sind. Ist unser Eindruck vom großen Wunsch nach Wandel schlichtweg falsch gewesen?
Nehmen wir zum Beispiel die Bevölkerung von Petorca, einer Gemeinde, die unter Wasserknappheit leidet, weil die örtliche Agrarindustrie das gesamte Wasser in der Nähe für die Bewässerung des Avocado-Anbaus aufbraucht. Fast 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Petorca haben eine Verfassung abgelehnt, die den Zugang zu Wasser als Menschenrecht festgeschrieben und die Wasserressourcen wieder verstaatlicht hätte. Sollen wir diese Ablehnung also so interpretieren, dass die Menschen dort die Privatisierung von Wasser bevorzugen? Leider ist diese vereinfachende Analyse heute weit verbreitet.
Andererseits argumentieren Teile der radikalen Linken, dass der Prozess nicht radikal genug gewesen und von den Eliten im Verfassungskonvent kooptiert worden sei. Ich denke, auch diese Interpretation führt in die Irre. Die Ablehnung des Verfassungsvorschlags lässt sich weder als eine Verschwörung des politischen Establishments verstehen, noch kann man sie einfach dem »falschen Bewusstsein« der Wählerinnen und Wähler zuschreiben.
Meiner Meinung nach hängt das alles mit gewissen materiellen Bedingungen zusammen. Wir haben gerade über Sicherheitsbedenken innerhalb der Bevölkerung gesprochen. Die Menschen hatten das Gefühl, dass die vorgeschlagene Verfassung zu viel Unsicherheit mit sich bringen würde. Auch war ihnen unklar, wie sie sich auf ihre hart erarbeiteten Lebensstandards auswirken würde. Die Angst, das zu verlieren, was man hat, kann sehr stark sein, insbesondere in unruhigen Zeiten.
Ich stimme dem zu, dass die Linke diese Niederlage verarbeiten und verstehen muss, aber das ist gar nicht so einfach. Schon rein emotional gesehen ist es für uns alle, die wir an dem Prozess beteiligt waren, schwer, über das Thema nachzudenken. Die Menschen haben sich wirklich für die Sache eingesetzt – und nun finden wir uns sozusagen auf der falschen Seite der Geschichte wieder. Noch vor wenigen Monaten konnten die Linken in den nationalen Medien tagtäglich darüber sprechen, wie toll ihre Verfassung sei. Jetzt sind sie wie Ausgestoßene.
Wurden zu viele Hoffnungen auf einen umfassenden sozialen Wandel in die neue Verfassung gesetzt? Kann eine Verfassung allein einen solchen Strukturwandel herbeiführen?
Ich muss an etwas denken, das der Politikwissenschaftler Juan Pablo Luna sagte, als der Verfassungsprozess gerade erst begonnen hatte. Er erklärte damals, die Hauptsache sei, dass die neue Verfassung angenommen würde, unabhängig vom Endprodukt. Anders gesagt: Der Prozess, durch den die neue Verfassung entsteht, ist wichtiger als die Artikel, die am Ende im Dokument stehen.
Mir hat zum Beispiel der Umweltteil des Verfassungsentwurfs sehr gut gefallen. In Bezug auf alle Themen, die mit der Natur zu tun haben, waren diese Vorschläge wirklich bahnbrechend. Aber jetzt frage ich mich: Hätte man diese Forderungen nicht auf einige allgemeine Grundsätze reduzieren und die Details der Gesetzgebung des Kongresses überlassen können?
»Eine Verfassung kann Möglichkeiten eröffnen. Das Problem mit der vorgeschlagenen Verfassung war aber, dass ihr mehr zugemutet wurde: Sie sollte mit einem Mal eine ganze Reihe von Forderungen erfüllen.«
Es stellt sich die Frage, wofür eine Verfassung überhaupt da ist. Verfassungen legen ein grundlegendes Modell fest, das umreißt, was politisch möglich ist und was nicht. Die alte chilenische Verfassung ist einzigartig, weil sie den politischen Handlungsspielraum extrem einschränkt. Normalerweise legt eine Verfassung den Entwicklungspfad eines Landes nicht ausdrücklich fest, sondern überlässt es der Regierung, frei zu entscheiden, welche Art von sozioökonomischer Entwicklung sie verfolgen will. Die Fähigkeit einer Regierung, auf die sich ändernden Bedürfnisse und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger zu reagieren, ist schließlich das, was ein demokratisches System überhaupt erst ausmacht.
Eine Verfassung kann also Möglichkeiten eröffnen. Das Problem mit der vorgeschlagenen Verfassung war aber, dass ihr mehr zugemutet wurde: Sie sollte mit einem Mal eine ganze Reihe von Forderungen erfüllen, die über lange Zeit aufgeschoben worden waren. In der Folge wurde die sie mit Vorschriften überfrachtet.
Die Verfassung – die eine institutionelle Lösung für institutionelle Probleme sein sollte – wurde zu einem Mittel, um Probleme zu lösen, die nicht rein institutioneller Natur waren: Probleme im Zusammenhang mit der grundlegenden Wirtschaftsstruktur des Landes, der Macht der nationalen Unternehmerklasse, der Nutzung von Ressourcen und so weiter.
Der verfassungsgebende Prozess an sich wäre das Wichtigste für das Land gewesen: neue Formen der politischen Repräsentation zu erschaffen und einen unabhängigen Text zu erstellen. Letztendlich haben aber weder der Prozess noch der Inhalt überlebt. Stattdessen haben wir jetzt diese Expertenkommission, die die Grundzüge einer Verfassung entwirft – und einen von der radikalen Rechten dominierten Verfassungsrat, der letztendlich den Verfassungsentwurf aufsetzt.
Kann die chilenische Linke irgendwelche Lehren aus den Erfahrungen der vergangenen Monate und Jahre ziehen?
Der Verfassungsprozess war ein wirklich außergewöhnlicher historischer Vorgang und hält mehrere wichtige Lektionen für Progressive und Linke bereit. Zum einen glaube ich, dass er uns lehren wird, vorsichtiger zu analysieren. Wir wissen, dass wir in einem kapitalistischen System leben, aber dafür denken wir immer noch viel zu voluntaristisch. Viele waren zu schnell dabei, diesen einen politischen Prozess als den entscheidenden Schritt anzusehen, der alles verändern würde.
Das zeigte sich auch in den Debatten darüber, wie der Aufstand 2019 zu bezeichnen sei. Der Hauptstreitpunkt war, ob man ihn eine »Revolte« nennen sollte. Ich persönlich weiß nicht, ob das das richtige Wort dafür ist. Auf jeden Fall befürchte ich, dass die Verwendung solcher Sprache und die damit verbundene Erwartung einer bestimmten, quasi vordefinierten Abfolge von Ereignissen dazu führen kann, dass man den wirklichen Prozess aus den Augen verliert. Wir müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie unser Kategoriedenken uns von der gelebten Wirklichkeit entfernen kann.
Der vormalige Verfassungskonvent wurde vielfach für genau diesen Voluntarismus kritisiert. Der Konvent habe die Unterstützung der Bevölkerung verloren, weil die Mitglieder sich als einzige echte Repräsentanten des Volkes dargestellt hätten. Dabei gab es ja noch andere Formen der Repräsentation.
Ganz genau. Es gab diese Ansicht, dass der Verfassungskonvent das unmittelbare Spiegelbild des Volkes sei. Demografisch gesehen war er wohl wirklich das repräsentativste Gremium in der Geschichte des Landes, zumindest was die Vielfalt der chilenischen Bevölkerung anbelangt. Aber es hat dennoch etwas Irritierendes, wenn dieser Konvent – oder auch irgendein anderes Gremium – sagt: Ich bin das Volk. Das Wichtigste ist: Wenn das Volk selbst spricht, müssen wir das, was es sagt, richtig interpretieren können.
Aldo Madariaga ist Politologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universidad Diego Portales in Santiago de Chile und Autor des Buches Neoliberal Resilience.