11. Mai 2021
Impfen alleine ersetzt noch keine Strategie zur Bekämpfung der Pandemie. Die Corona-Politik der Bundesregierung hat die Stärksten unterstützt und die Schwächsten vertröstet.
Kurzzeitig waren im armutsbetroffenen Stadtteil Köln-Chorweiler mobile Impfteams unterwegs. Die Inzidenz war hier besonders hoch. Mittlerweile wurde die Kampagne wieder ausgesetzt – der Impfstoff fehlt.
Die Ansteckungsraten des Corona-Virus sind innerhalb der arbeitenden Klasse überdurchschnittlich hoch. Das ist nicht verwunderlich. Denn wer jeden Tag in Fabrikhallen und Großraumbüros arbeiten muss, wer auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen ist und in beengten Wohnverhältnissen lebt, kann sich einer Ansteckung nicht so leicht entziehen wie die Besitzenden.
Trotzdem hat die Regierung auch mit dem neuen Infektionsschutzgesetz, das am 23. April in Kraft trat, das Arbeits- und Wirtschaftsleben außer Acht gelassen. Wieder einmal soll das Privatleben auf ein Minimum zusammengeschrumpft werden – mit bedenklichen Grundrechtseinschränkungen wie einer Ausgangssperre – während die Regierung vor der Ansteckungsgefahr im Arbeitsalltag die Augen verschließt. Die Profite dürfen nicht geschmälert, die Maschinerie des Kapitals nicht gehindert werden. Koste es, was es wolle.
Der Ausbruch der Pandemie liegt jetzt bereits 15 Monate zurück. Anfangs war es noch nachvollziehbar, dass die Ministerpräsidentenkonferenz und die Bundesregierung auf Sicht fuhren, um sich den immer neuen Situationen anzupassen. Selbst ein schneller Lockdown wurde umgesetzt. Doch auf ähnliche Entscheidungen, die dem Verlauf der Pandemie angemessenen wären, warten wir seit Monaten vergebens. Und sollte dann doch mal eine halbherzige Entscheidung gefällt werden, kommt sie regelmäßig vier bis sechs Wochen zu spät.
Die Einschränkungen im Privatbereich wurden vollends ausgeschöpft und können nicht weiter verschärft werden. Um die Pandemie in den nächsten Wochen in den Griff zu bekommen und unnötig hohe Todeszahlen zu verhindern, muss jetzt in die Wirtschaft eingegriffen werden. Es darf nur noch das produziert, transportiert und gehandelt werden, was dem täglichen Bedarf dient. Alle anderen Wirtschaftsbereiche sollten für mindestens vier Wochen runtergefahren werden. Keine Arbeiterin darf weiter der Gefahr ausgesetzt werden, sich für die Profite der Reichen mit Corona zu infizieren.
Dies kann aber nur auf breite Akzeptanz treffen, wenn man den arbeitenden Menschen die Existenzangst nimmt und ihnen in ihrem Alltag unter die Arme greift. Dafür sind zwei Dinge wichtig: ein strukturierter und klar verständlicher Plan der Pandemiebekämpfung und ein Einkommensausgleich, damit sich niemand zwischen seiner Gesundheit und einem vollen Kühlschrank entscheiden muss.
Hätte diese Regierung der Besitzenden auch nur einen Funken Anstand, hätte sie die Löhne in der Pflege schon längst angehoben. Zehntausende Menschen, die den Pflegeberuf verlassen haben, wären bei besseren Arbeitsbedingungen bereit, wieder in ihren alten Beruf zurückzukehren. Nicht nur deshalb täten Sozialistinnen und Sozialisten gut daran, die kommenden Tarifkämpfe in der Pflegebranche entschlossen zu unterstützen.
Als über die Ostertage die Geschäfte und Lebensmittelläden kurzzeitig für fünf Tage geschlossen werden sollten, wurden wie immer zwei Gruppen vergessen: Menschen mit Armutsrenten und mit Hartz IV. Wie sollte sich jemand, der ohnehin unter der Armutsgrenze lebt, auf die Schnelle eine fünfte Woche Lebensmittel leisten können? Aber solche Fragen stellt sich diese Regierung der Reichen nicht. Deshalb sind die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze und Armutsrenten mindestens für die Zeit der Pandemie unumgänglich – schließlich werden die Lebensmittel in diesen Monaten nicht günstiger.
Gleiches gilt für die Arbeiterinnen und Arbeiter auf Kurzarbeit, insbesondere für jene mit Niedriglöhnen. Das Kurzarbeitergeld muss 90 Prozent betragen und im Niedriglohnsektor 100 Prozent. Denn bei 60 Prozent von einem ohnehin knappen Lohn, bleibt am Ende fast nichts übrig.
Während also die arbeitende Klasse inmitten der Corona-Pandemie hart zu kämpfen hat, geht es einigen wenigen Kapitaleignern prächtig. Konzerne wie VW und Daimler, die Millionen Euro Staatshilfen erhielten, besaßen noch die Dreistigkeit, ihren Aktionärinnen Dividenden auszuschütten. Sozialismus für die Reichen, Kapitalismus für den Rest. Das sollten wir so nicht hinnehmen. Sinnvoll wäre es daher, für die Unternehmen, die Staatshilfen erhalten haben, einen Dividenden-Lockdown zu verhängen und bei großen Krisengewinnern die Profite durch Steuern abzuschöpfen. Ein solcher Notfallfonds könnte Gelder an wirklich bedrohte Unternehmen weiterleiten und damit die Arbeiterinnen und Arbeiter schützen.
Die zweite Gruppe, die sich dieser Tage eine goldene Nase verdient und bisher keinerlei Beitrag zum Allgemeinwohl geleistet hat, sind die Immobilienkonzerne. Hier wäre es das Mindeste einen generellen Kündigungsschutz sowie einen Mietendeckel für Mieterinnen und Gewerbetreibende einzuführen. Aber dem stehen wohl die vielen Parteispenden der Immobilienhaie an die CDU entgegen. Man wird sicherlich auch verhindern wollen, dass solche mieterfreundlichen Initiativen Schule machen und das Blatt in der Wohnungspolitik wenden könnten.
Für Kinder, Jugendliche und deren Eltern sind diese Monate besonders hart. Neben all den schönen Dingen, die man in seiner Jugend jetzt erleben könnte, geht gerade den Kindern der arbeitenden Klasse ihr Recht auf Bildung abhanden. Gleichzeitig etablieren sich wieder vorsintflutliche Geschlechternormen und an den Frauen bleibt ein Großteil der Erziehungsarbeit hängen. Es ist vollkommen unverständlich, wieso nicht in großem Stil in die digitale Ausstattung der Schulen investiert wurde. Dass noch nicht einmal für ausreichende Belüftungssysteme gesorgt wurde, ist noch weniger verständlich. Dennoch müssen bei hohen Inzidenzzahlen die Schulen und Kindergärten geschlossen und die Notbetreuung sichergestellt werden. Wir können uns glücklich schätzen, dass nun die wärmeren Frühlingstage beginnen, sodass zeitnah über Unterricht unter freiem Himmel in Kleingruppen mit genügend Testkapazitäten nachgedacht werden kann. Dennoch wird es ohne Homeschooling die nächsten Wochen nicht gehen. Dafür brauchen aber Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen, von der Regierung finanzielle Unterstützung. Zusätzliche Urlaubstage und ein Corona-Kindergeld könnten hier Abhilfe schaffen.
Während all diese Maßnahmen uns ein wenig Luft verschaffen und die Ansteckungszahlen bedeutend senken könnten, ist es nun wichtig bei den Impfungen und der Impfstoffproduktion weiter voranzukommen. Dafür müssen die Impfstoffpatente freigegeben werden, denn privatwirtschaftlich macht es keinen Sinn, jetzt kurzfristig die Produktionskapazitäten hochzufahren. Es ist außerdem kaum vermittelbar, warum erst hunderte Millionen Euro öffentlichen Fördergelds in die Erforschung von Impfstoffen gepumpt wurden, nur um dann keinen Zugriff zum Wohle der Allgemeinheit darauf zu haben. Manch einer im liberalen Blätterwald befürwortet mittlerweile sogar eine staatlich gelenkte Impfstoffproduktion.
Das Problem der Impfstoffpatente trifft in noch höherem Maße auf die Länder des Globalen Südens zu, die bei dem Preiswettbewerb um die Impfstoffe regelmäßig den Kürzeren ziehen. Denn das Corona-Virus macht nicht vor Ländergrenzen halt. Es ist daher sowohl aus humanistischer Verpflichtung aber auch aus schnödem Egoismus dringend geboten, die Lizenzen freizugeben. Das wäre übrigens nicht das erste Mal, dass Medikamente durch Zwangslizenzen mehr Menschen zur Verfügung gestellt würden. Der Vorgang ist in Ausnahmesituationen so von der Welthandelsorganisation vorgesehen. Brasilien und Thailand haben im Kampf gegen AIDS in den Jahren 2006 und 2007 bereits von einer solchen Regelung Gebrauch gemacht. Die betroffenen Pharmakonzerne Abbot, Sanofi-Aventis und Merck sind daran nicht zugrunde gegangen.
Der Kampf gegen das Corona-Virus ist also auch ein internationalistischer. Dieser erfordert aber eine Regierung, die sich an Solidarität und Allgemeinwohl orientiert und nicht daran, das Leben der Reichen und Mächtigen so bequem wie möglich zu machen.
Martin Neise ist politischer Bildner und Bundestagskandidat der LINKEN für Berlin-Mitte.
Politikwissenschaftler, arbeitet in Berlin in der politischen Bildung