11. März 2021
Kurz vor seinem Tod warnte David Graeber davor, nach der Pandemie in eine Traumwelt zurückzutaumeln – eine Welt, in der es angemessen erscheint, die offensichtlich wichtigste Arbeit am schlechtesten zu entlohnen.
David Graeber im Maagdenhuis in Amsterdam, 7. März 2015.
Irgendwann in den kommenden Monaten wird die Krise für beendet erklärt werden und wir werden an unsere »nicht systemrelevanten« Arbeitsplätze zurückkehren können. Für viele wird es sich anfühlen wie das Erwachen aus einem Traum.
Die Establishments in Medien und Politik werden uns ganz bestimmt in dieser Auffassung bestärken. So war das schon nach dem Finanzcrash von 2008. Damals gab es einen kurzen Moment des Hinterfragens. (Was genau ist eigentlich dieses »Finanzwesen«? Sind das nicht einfach die Schulden anderer Leute? Was ist eigentlich Geld? Sind das nicht auch nur Schulden? Was sind überhaupt Schulden? Ist das nicht einfach nur ein Versprechen? Und wenn Geld und Schulden nur ein Haufen von Versprechen sind, die wir uns gegenseitig geben, was hält uns dann davon ab, einander andere Versprechen zu machen?) Aber dieses Fenster wurde fast augenblicklich wieder geschlossen – und zwar von denen, die darauf bestanden, dass wir die Klappe halten, nicht so viel darüber nachdenken und uns wieder an die Arbeit machen – oder uns zumindest eine Arbeit suchen.
Letztes Mal sind wir mehrheitlich darauf reingefallen. Das darf uns dieses Mal nicht wieder passieren.
In Wirklichkeit sind wir durch die Krise, die wir in den letzten Monaten durchlebt haben, aus einem Traum erwacht. Sie hat uns mit der Wirklichkeit der menschlichen Existenz konfrontiert – der Wirklichkeit, dass wir eine Ansammlung zerbrechlicher Wesen sind, die füreinander sorgen, wobei diejenigen, die den Löwenanteil dieser lebenserhaltenden Sorgearbeit leisten, überarbeitet, unterbezahlt und tagtäglichen Demütigungen ausgesetzt sind. Zugleich hat ein großer Teil der Bevölkerung nichts Besseres zu tun, als Fantasien zu ersinnen, Renditen zu extrahieren und generell den Menschen im Weg zu stehen, die Dinge herstellen, reparieren und transportieren oder sich um die Bedürfnisse anderer Lebewesen kümmern. Wir dürfen auf gar keinen Fall wieder in einen Zustand zurückfallen, in dem all dies auf eine eigenartige Weise Sinn ergibt, ganz so, wie sinnlose Dinge in Träumen häufig sinnhaft erscheinen.
Wie wäre es damit: Warum hören wir nicht damit auf, es als völlig normal hinzunehmen, dass man umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher die eigene Arbeit anderen zugute kommt; oder dass die Finanzmärkte der beste Weg seien, um langfristige Investitionen zu organisieren, selbst wenn sie uns dazu drängen, das meiste Leben auf der Erde zu vernichten?
Warum behalten wir nicht in Erinnerung, was wir gelernt haben, auch nachdem der aktuelle Notstand für beendet erklärt wird: dass »die Wirtschaft«, sofern das Wort überhaupt eine Bedeutung hat, die Art und Weise meint, wie wir uns gegenseitig mit dem versorgen, was wir zum Leben (in all seinen Facetten) benötigen; und dass das, was wir »den Markt« nennen, in der Hauptsache ein Mechanismus ist, um Ordnung in die Fülle der zum Teil pathologischen Wünsche reicher Leute bringen, von denen die mächtigsten bereits Entwürfe für Bunker fertiggestellt haben, in die sie sich flüchten können, falls wir weiterhin dumm genug sind, den Reden ihrer Günstlinge Glauben zu schenken, dass uns der gesunde Menschenverstand fehlt, um irgendetwas gegen die bevorstehenden Katastrophen zu unternehmen.
Können wir diese Reden diesmal bitte einfach ignorieren?
Die meiste Arbeit, der wir heute nachgehen, ist Traumarbeit. Sie existiert nur um ihrer selbst willen; oder um reichen Leuten ein gutes Gefühl zu geben; oder um armen Leuten ein schlechtes Gefühl zu geben. Würden wir das einfach einmal sein lassen, dann könnten wir einander weitaus vernünftigere Versprechen machen: zum Beispiel eine »Wirtschaft« zu schaffen, in der wir uns tatsächlich um die Menschen kümmern können, die sich tagtäglich um uns kümmern.