01. Februar 2022
Das neue Buch von David Wengrow und dem verstorbenen David Graeber widerlegt fatalistische Vorstellungen der frühen Geschichte der Menschheit. Es ist eine brillante Verteidigung unserer Fähigkeit, die Welt selbst zu gestalten.
David Graeber, 24. Mai 2012.
Ursprungsmythen in aller Welt haben einen grundlegenden psychologischen Effekt: Ganz unabhängig von ihrem wissenschaftlichen Gehalt können sie auf hintertriebene Weise bestehende Verhältnisse legitimieren und zugleich unseren die Vorstellungen von der Zukunft Kontur verleihen.
Die moderne kapitalistische Gesellschaft basiert auf zwei Varianten eines solchen Mythos. Die eine Geschichte besagt, dass das Leben als primitive Jäger und Sammler »widerwärtig, vertiert und kurz« war, bis der Staat erfunden wurde, der die menschliche Entwicklung erst ermöglichte. Der anderen Erzählung zufolge waren die Menschen im kindlichen Naturzustand glücklich und frei, aber »liefen in ihre Ketten«, als die Zivilisation aufkam.
Dies sind zwei Varianten ein und desselben Mythos. Beide betrachten die Geschichte als einlinige Entwicklung, die ihren Ursprung mit einfachen und egalitären Gruppen von Jägern und Sammlern nimmt und mit zunehmender sozialer Komplexität und Hierarchie endet. Außerdem fördern sie beide einen fatalistischen Blick in die Zukunft: Ob wir nun Hobbes (der ersten Geschichte) oder Rousseau (der zweiten) folgen, müssen wir annehmen, dass wir zur Verbesserung unserer gegenwärtigen Lage höchstens ein paar bescheidene politische Korrekturen vornehmen können. Hierarchie und Ungleichheit sind demnach unabänderlich – sie sind der unvermeidliche Preis dafür, dass wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln.
Beide Versionen dieses Mythos stellen unsere Vergangenheit als Urschlamm kleiner Gruppen von Menschen dar, denen es an Visionen und kritischem Denken fehlte. Diese Phase sei praktisch ereignislos gewesen, bis mit dem Aufkommen der Landwirtschaft und der Geburt der Städte der Prozess begann, der in der modernen Aufklärung kulminierte.
Was David Graebers und David Wengrows neues Buch Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit zu einem sofortigen Klassiker macht, ist die umfassende wissenschaftliche Demontage dieser Geschichte, die sie den »Mythos vom dummen Wilden« nennen. Die Archäologie liefert uns nämlich nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass die Vergangenheit der Menschheit auch nur annähernd so aussah, wie es dieser Gründungsmythos suggeriert.
Stattdessen zeigen die uns verfügbaren archäologischen Befunde, dass der Verlauf der menschlichen Geschichte deutlich komplexer und aufregender war, als wir gemeinhin annehmen: Wir haben nie dauerhaft in kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern gelebt und wir waren auch nie dauerhaft egalitär organisiert. Tatsächlich zeichnet sich unsere prähistorische Vergangenheit durch eine erstaunlich breite Palette politischer, wirtschaftlicher und religiöser Systeme aus, die sich fast kontinuierlich im Wandel befanden.
Nach Graeber und Wengrow können wir diese kaleidoskopische Vielfalt an Gesellschaftsformen nur erklären, indem wir einsehen, dass unsere Vorfahren doch gar nicht so dumm gewesen sind, wie gemeinhin angenommen wird. Vielmehr waren sie selbstbewusste politische Akteure, die ihre sozialen Arrangements den wechselnden Bedingungen entsprechend umgestalteten. In vielen Fällen entschieden sich Menschen sogar dazu, für einen bestimmten Zeitraum ihre soziopolitischen Identitäten zu wechseln, um den Gefahren einer dauerhaften autoritären Macht zu entgehen.
Wir sollten uns somit nicht fragen »Woher kommt die Ungleichheit?«, sondern »Warum hat sie überdauert?« Das ist nur eine der vielen Fragen, denen dieses erstaunliche neue Buch nachgeht.
Es ist vor allen Dingen der eklektische Ansatz des Buches, der es so besonders macht. Wengrow ist Professor für vergleichende Archäologie am University College London und für seine Forschung über frühe kulturelle und politische Transformationen in Afrika und Eurasien bekannt. Graeber, der im September 2020 plötzlich verstarb, war Professor für Anthropologie an der London School of Economics und gilt weithin als der brillanteste Kopf seiner Generation.
Gemeinsam gehen sie einer Reihe neuerer archäologischer Funde nach, die vor dem Hintergrund der gängigen Erzählung Anomalien darstellen – zum Beispiel die Existenz antiker egalitärer Großstädte. Diese waren bisher nur einer Handvoll Expertinnen und Experten bekannt, die ihre Implikationen nie ganz ergründet haben. Hier werden sie nun aus anthropologischer Sicht ausgewertet. Graeber und Wengrow nehmen ihre Leser auf eine beeindruckende Reise in die Vergangenheit, die von Kontinent zu Kontinent und von einer sozialen Sphäre in die andere springt, um Geschichten zu erzählen, die je nach Wissensstand der Leserin wie Offenbarungen wirken können.
So erfahren wir beispielsweise, dass die Einheitlichkeit der materiellen Kultur in ganz Eurasien im Jungpaläolithikum darauf hinweist, dass sich die damaligen Menschen als Teil großer Gemeinschaften begriffen, die sich über Kontinente erstreckten. Das widerlegt die gängige Vorstellung, wonach die »Primitiven« in isolierten Gruppen lebten. Auch wenn es kontraintuitiv sein mag: Die Größe der einzelnen Gesellschaften scheint im Laufe der Menschheitsgeschichte und mit zunehmender Populationsgröße abgenommen zu haben.
Monumentale Stätten wie Göbekli Tepe in der Türkei oder Hopewell in Ohio verraten uns, dass Menschen aus entlegenen Gegenden in solchen großen Zentren zusammenkamen, um Kultur und Wissen auszutauschen. Im Leben unserer Vorfahren war es ganz selbstverständlich, weite Entfernungen zurückzulegen, um in einer großen Gemeinschaft willkommen geheißen zu werden.
Graeber und Wengrow wenden sich auch dem Thema der Landwirtschaft zu. Hier besagt die landläufige Auffassung, dass das Aufkommen des Ackerbaus mehr oder weniger automatisch zur Entstehung hierarchischer Gesellschaften führte. Entgegen dieser Erzählung gab es jedoch egalitäre Gesellschaften wie zum Beispiel die Nambikwara in Amazonien, die zwar mit Techniken der Pflanzenzüchtung vertraut waren, sich aber bewusst dagegen entschieden, den Ackerbau zur Grundlage ihrer Wirtschaft zu machen. Stattdessen wechselten sie flexibel zwischen dem Sammeln und dem Anbau von Nahrung. Der Ackerbau entstand generell immer dort, wo es keine einfacheren Alternativen gabe.
Außerdem erfahren wir, dass einige der ersten landwirtschaftlichen Gesellschaften des Nahen Ostens als egalitäre und friedliche Antwort auf die räuberischen Jäger und Sammler in den umliegenden Bergen entstanden. Hier waren es vor allem Frauen, die die Agrarwissenschaft vorantrieben. An einigen dieser Orte wurden komplexe Bewässerungsarbeiten gemeinschaftlich und ohne Anführer durchgeführt – und selbst dort, wo es hierarchische Strukturen gab, wurden diese Arbeiten trotz dieser Autoritäten und nicht wegen ihnen verrichtet. Die allmähliche Ausbreitung der Landwirtschaft über den gesamten Globus verlief allgemein weit weniger geradlinig, als man bisher angenommen hat.
Das vielleicht interessanteste Kapitel des Buches befasst sich mit den Städten. Heutzutage wirkt allein die Vorstellung großer egalitärer Städte beinahe utopistisch. Graeber und Wengrow zeigen, dass es sie in der Vergangenheit jedoch wirklich gegeben hat. Bereits existierende, ausgedehnte Gemeinschaften, die ein Zugehörigkeitsgefühl, Normen und einen egalitären Ethos teilten, wuchsen in einem einzigen physischen Raum zu Städten zusammen – zunächst nur vorübergehend, dann dauerhaft, als bewusste Experimente mit der städtischen Form.
Siedlungen wie Çatalhöyük in Südanatolien liefern nicht von der Hand zu weisende Belege für die Existenz solcher Städte, in denen keine Anzeichen autoritärer Herrschaft wie etwa Paläste, Tempel oder andere Befestigungen zu finden sind. In antiken Städten wie Cahokia in Mississippi oder Shimao in China finden sich Anhaltspunkte, die darauf verweisen, dass es einen Wechsel politischer Ordnungen gab und dass diese Städte mal autoritär und mal egalitär organisiert waren. Hier sind periodische städtische Revolutionen eine wahrscheinliche Erklärung für diesen steten Wandel.
In den letzten Kapiteln des Buches befassen sich Graeber und Wengrow mit dem »Staat« – oder besser gesagt damit, wie irreführend es ist, Gesellschaften wie die Inka oder die Azteken als »frühe Staaten« zu charakterisieren. Deren soziale Ordnungen waren nämlich weitaus vielschichtiger, als es dieser enge Begriff vermuten lässt. Von den Olmeken und den Chavin in Mesoamerika bis zu den Shilluk im Südsudan liefern uns Graeber und Wengrow ein Panorama der Vielfalt autoritärer Strukturen der Geschichte.
Zu guter Letzt kommen sie auf das minoische Kreta zu sprechen – ein archäologisches Juwel oder eine »schöne Irritation für die Archäologie«. Hier weist alles auf die Existenz eines antiken Systems matriarchaler politischer Herrschaft hin – höchstwahrscheinlich eine Theokratie, die von Priesterinnen verwaltet wurde.
Und das ist noch längst nicht alles. Wie ein roter Faden zieht sich durch dieses Buch die Einsicht, dass wir den Faktor kollektiver Intentionalität wieder in unser Bild der Menschheitsgeschichte einführen müssen, um allen diesen Phänomenen Rechnung zu tragen. In anderen Worten: Wir müssen davon ausgehen, dass unsere Vorfahren erfinderische Wesen waren, die ihre sozialen Gefüge selbstbewusst gestalteten.
Die Autoren leugnen dabei jedoch keineswegs die Bedeutung ökologischer Determinanten. Vielmehr versuchen sie, eine ausgewogene Position im Kontinuum zwischen Handlungsfähigkeit und Determinismus zu finden, anstatt sich nur auf eine Seite zu schlagen, wie es die meisten herkömmlichen Darstellungen tun. Am wichtigsten ist jedoch, dass diese neue Perspektive auf unsere Vergangenheit den Möglichkeitsrahmen unserer Zukunft entscheidend erweitert. Fatalistische Ansichten über die Natur des Menschen schmelzen beim Lesen dieser Seiten förmlich dahin.
Getreu dem Ostromschen Gesetz – »was in der Praxis funktioniert, muss auch in der Theorie funktionieren« – skizzieren Graeber und Wengrow auf Grundlage ihrer empirischen Erkenntnisse einen neuen Rahmen für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit.
Erstens fordern sie uns dazu auf, Begriffe wie »einfache« oder »komplexe« Gesellschaften, »Ursprung des Staates« oder »Ursprung der sozialen Komplexität« aufzugeben. Denn diese Konzepte setzen bereits die Art von teleologischem Denken voraus, die dieses Buch in Frage stellt. Das Gleiche gilt für den Begriff der »Produktionsweisen«: Ob eine Gesellschaft auf Ackerbau oder auf Fischfang beruht, ist ein schlechtes Kriterium für ihre Klassifizierung, weil es so gut wie nichts über ihre sozialen Dynamiken aussagt.
Zweitens erarbeiten die Autoren eigene deskriptive Kategorien. Sie zeigen zum Beispiel, dass soziale Herrschaft aus drei Elementen besteht – Kontrolle über Gewalt, Kontrolle über Wissen und charismatische Macht – und dass Anordnungen dieser Elemente im Laufe der Geschichte konsistente Muster ergeben. Während der moderne Nationalstaat alle drei Elemente umfasst, beinhalteten die meisten hierarchischen Gesellschaften in der Vergangenheit nur eines oder zwei von ihnen, was den Menschen ein Maß an Freiheit einräumte, das wir uns heute kaum vorstellen können.
Diesen letzteren Aspekt reflektieren Graeber und Wengrow in aller Ausführlichkeit. Anfänge ist mehr als ein Werk über die Geschichte der Ungleichheit – es ist eine Abhandlung über die Freiheit des Menschen. Bei der Analyse der anthropologischen Aufzeichnungen identifizieren die Autoren drei Arten der Freiheit, die für unsere Vorfahren gegeben waren, heute aber weitestgehend verloren gegangen sind: die Freiheit, die eigene Gemeinschaft zu verlassen (in dem Wissen, dass man an fernen Orten willkommen geheißen wird), die Freiheit, das eigene politische System (in vielen Fällen saisonal) umzugestalten, und die Freiheit, Autoritäten zu missachten, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Allerdings ziehen sie daraus eine ganz andere Schlussfolgerung als Rousseau: Dieser Verlust ist keineswegs unvermeidlich!
Die Frage, die wir uns bezüglich der historischen Entwicklung von Hierarchien stellen sollten, ist folgende: »Das eigentliche Rätsel ist nicht, wann die Anführer zum ersten Mal auftauchten«, so die Autoren, »sondern wann es nicht mehr möglich war, sie einfach davonzujagen.«
Was dieses Buch so faszinierend macht, ist die Fremdartigkeit der Phänomene, denen wir darin begegnen: Potlatsch, Kopfjagd und Schädelporträts, fremde Könige, Revolutionen, schamanische Kunst, Visionen. Anfänge liest sich wie Science-Fiction – nur dass das, was sich als fiktiv herausstellt, unsere bisherige Sicht auf die menschliche Geschichte ist. Der Schreibstil ist oft witzig, manchmal urkomisch. Gleichzeitig ist es ein Buch, das man geduldig lesen muss, denn es gibt kaum einen Absatz, der keine neue Erkenntnis bereithält. Es gehört in eine andere Klasse als die vielen bisherigen Bücher über die Weltgeschichte, die wir zu lesen gewohnt sind.
Anfänge lässt die Werke von Steven Pinker, Jared Diamond, Yuval Noah Harari oder Francis Fukuyama unbedeutend und eindimensional erscheinen. Wann immer sich Fachfremde an der Geschichte der Menschheit versuchen, reproduzieren sie unweigerlich die gleichen alten Mythen, mit denen wir aufgewachsen sind. Pinker etwa verliert zwar viele Worte über den wissenschaftlichen Fortschritt, jedoch könnten seine Bücher genauso gut zu Zeiten von Thomas Hobbes geschrieben worden sein, als die aktuelle archäologische Beweislage noch unter der Erde begraben war.
Graeber und Wengrow entlarven nebenbei die verblüffende Inkompetenz dieser populären Autoren im Umgang mit anthropologischen Fakten. Nur ein solides Verständnis des gesamten dokumentierten Spektrums der menschlichen Möglichkeiten kann einen tauglichen Rahmen zur Interpretation der fernen Vergangenheit bieten. Denn es stattet die Forschenden mit einem verfeinerten Gespür für die Rhythmen der Geschichte der Menschheit aus.
Dieses Buch ist eine intellektuelle Kuriosität, die in der gegenwärtigen Landschaft der Gesellschaftstheorie nur schwer zu verorten ist. Indem es die »große Erzählung« aufgreift, vollzieht es einen klaren Bruch mit dem in der akademischen Welt vorherrschenden Poststrukturalismus und Posthumanismus. Wir wissen, dass zumindest Graeber sich selbst gerne als einen »Prä-Humanisten« bezeichnet hat, der der vollen Entfaltung der Potenziale der Menschheit entgegensehnte.
In diesem Sinne lässt sich auch Anfänge verstehen. Man könnte dieses Buch auch der Tradition der Aufklärung zuordnen – allerdings lautet eine andere Hauptaussage des Buches, dass sich das aufklärerische Denken weitgehend als Reaktion auf die Kritik indigener Intellektueller an der europäischen Gesellschaft jener Zeit entwickelt hat. Im Verhältnis zur aktuellen archäologischen und anthropologischen Theorie ist dieses Buch von so umfangreicher Tragweite, dass sich kaum Vergleichbares finden lässt.
Aber wenn schon Vergleiche gezogen werden müssen, dann wohl am ehesten mit Werken ähnlichen Kalibers aus anderen Disziplinen, wie etwa den Arbeiten von Darwin oder Galilei. Was diese beiden für die Biologie beziehungsweise die Astronomie vollbracht haben, leisten Graeber und Wengrow für die Geschichte der Menschheit. Anfänge hat einen ähnlichen dezentrierenden Effekt: Das Buch setzt uns von unserer selbsterklärten Position an der Spitze der sozialen Evolution herab und untergräbt damit jenes teleologische Denken, das unser Verständnis von der Geschichte so sehr prägt.
Doch während Werke wie der Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme und Über die Entstehung der Arten auf die relative Bedeutungslosigkeit des Menschen im Angesicht des Kosmos hinwiesen, erkundet Anfänge die Bandbreite der Möglichkeiten, die uns offen stehen. Wenn schon Galilei und Darwin für Aufruhr sorgten, so wird dies bei diesem Buch aus demselben Grund erst recht der Fall sein. Denn eine Gesellschaft, die die hier ausgebreitete Geschichte als ihre offizielle Ursprungsgeschichte akzeptiert, sie in Schulen lehrt und ins allgemeine Bewusstsein aufnimmt, wird eine radikal andere sein, als die, in der wir heute leben.
Giulio Ongaro ist Postdoktorand der Anthropologie an der London School of Economics.