06. Mai 2020
Wie der marxistische Geograph David Harvey argumentiert, haben 40 Jahre Neoliberalismus das Gemeinwesen im Kampf gegen eine öffentliche Gesundheitskrise in einem desolaten und verwundbaren Zustand zurückgelassen.
David Harvey spricht auf dem Subversive Festival, 2013.
Wenn ich versuche, den täglichen Nachrichtenfluss zu interpretieren, zu verstehen und zu analysieren, neige ich dazu, das Geschehen mit zwei voneinander abgegrenzten, aber sich überschneidenden Modellen kapitalistischer Funktionsweisen abzugleichen. Das erste Modell ist eine Kartierung der inneren Widersprüche der Zirkulation und Akkumulation von Kapital, indem der Geldwert auf der Suche nach Profit durch die verschiedenen »Momente« (wie Marx sie nennt) von Produktion, Realisierung (Konsum), Verteilung und Reinvestition zirkuliert. Dies ist ein spiralförmiges Modell der kapitalistischen Wirtschaft mit endloser Expansion und Wachstum. Es wird ziemlich kompliziert, wenn man dieses unter die Lupe nimmt und zum Beispiel durch die Linse geopolitischer Rivalitäten, ungleicher geographischer Entwicklungen, Finanzorgane, staatlicher Politiken, technischen Fortschritts und des sich ständig verändernden Netzes der Arbeitsteilung und sozialen Beziehungen betrachtet.
Ich stelle mir dieses Modell eingebettet in einen breiteren Kontext der sozialen Reproduktion vor (in Haushalten und Gemeinschaften), in einer kontinuierlichen und sich ständig weiterentwickelnden stoffwechselgleichen Beziehung zur Natur (einschließlich der »zweiten Natur« der Urbanisierung und der gebauten Umwelt) und zu allen Arten von kulturellen, wissenschaftlichen (wissensbasierten), religiösen und möglichen sozialen Systemen, die die Menschheit typischerweise über Raum und Zeit hinweg geschaffen hat.
Diese letzteren »Momente« beinhalten den aktiven Ausdruck menschlicher Wünsche, Bedürfnisse und Begierden, die Sehnsucht nach Wissen und Sinnhaftigkeit und das sich stets erneuernde Streben nach Verwirklichung vor dem Hintergrund sich verändernder institutioneller Strukturen, politischer Auseinandersetzungen, ideologischer Konfrontationen, Verluste, Niederlagen, Frustrationen und Entfremdungen, die in einer Welt ausgeprägter geographischer, kultureller, sozialer und politischer Vielfalt produziert werden. Dieses zweite Modell entspricht meinem Arbeitsverständnis des globalen Kapitalismus als einem unverkennbar sozialen System, wohingegen es bei ersterem Modell um die Widersprüche innerhalb des Wirtschaftsmotors geht, der dieses soziale System auf den Pfaden seiner historischen und geographischen Entwicklungen vorantreibt.
Als ich am 26. Januar 2020 zum ersten Mal vom Coronavirus las, das in China auf dem Vormarsch war, begann ich sofort über dessen Auswirkungen auf die globale Dynamik der Kapitalakkumulation nachzudenken. Ich weiß aus meiner Forschung zu Wirtschaftsmodellen, dass Störungen und Unterbrechungen in der Kontinuität des Kapitalflusses Abwertungen zur Folge haben und dass diese, wenn sie weit verbreitet und tiefgreifend sind, den Ausbruch einer Wirtschaftskrise bedeuten. Ich bin mir auch sehr wohl bewusst, dass China die zweitgrößte Wirtschaft der Welt ist und dass es den globalen Kapitalismus nach den Ereignissen von 2007/08 wirksam rettete, so dass jede Schwächung von Chinas Wirtschaft zwangsläufig schwerwiegende Folgen für die Weltwirtschaft, die ohnehin schon in einem desolaten Zustand ist, haben wird.
Das bestehende Modell der Kapitalakkumulation ist, so scheint es mir, bereits in großen Schwierigkeiten. Es gibt eine breite Welle von Protestbewegungen (von Santiago bis Beirut), von denen viele auf den Umstand abzielen, dass das vorherrschende Wirtschaftsmodell für die breite Masse der Bevölkerung nicht wirklich funktioniert. Dieses neoliberale Modell beruht zunehmend auf fiktivem Kapital und einer enormen Ausweitung des Geldangebots sowie auf Schuldenbildung. Es steht bereits jetzt vor dem Problem, dass die tatsächliche Nachfrage nicht ausreicht, um die Beträge, die das Kapital zu produzieren vermag, auch zu erwirtschaften. Wie könnte also das vorherrschende Wirtschaftsmodell mit seiner nachlassenden Legitimität und empfindlichen Gesundheit die unvermeidlichen Auswirkungen dessen, was eine Pandemie zu werden droht, abdämpfen und überleben? Die Antwort hängt stark davon ab, wie lange der Zusammenbruch andauern und sich ausbreiten würde, denn schon Marx wies darauf hin, dass eine Abwertung nicht deshalb erfolgt, weil Waren nicht verkauft werden können, sondern weil sie nicht rechtzeitig verkauft werden können.
Ich lehne schon seit langem die Annahme ab, die »Natur« sei etwas, das außerhalb von Kultur, Wirtschaft und alltäglichem Leben besteht. Ich nehme eine eher dialektische und relationale Sichtweise auf das metabolische Verhältnis zur Natur ein. Das Kapital modifiziert die Umweltbedingungen seiner eigenen Vermehrung, tut dies aber vor dem Hintergrund unbeabsichtigter Folgen (wie dem Klimawandel) und autonomer und unabhängiger evolutionärer Kräfte, die die Umweltbedingungen stetig verändern. Von diesem Standpunkt aus betrachtet gibt es so etwas wie eine wirklich natürliche Katastrophe nicht. Viren mutieren die ganze Zeit, das ist sicher. Aber die Faktoren, die eine Mutation lebensbedrohlich machen, hängen von menschlichem Handeln ab.
»Das bestehende Modell der Kapitalakkumulation ist, so scheint es mir, bereits in großen Schwierigkeiten.«
Dabei sind zwei Aspekte relevant. Erstens erhöhen günstige Umweltbedingungen die Wahrscheinlichkeit von starken Mutationen. So ist es zum Beispiel plausibel, davon auszugehen, dass die intensiven und eigenwilligen Nahrungsversorgungssysteme der feuchten Subtropen dazu beitragen können. Solche Systeme gibt es an vielen Orten, zum Beispiel in China südlich des Jangtse-Flusses und in Südostasien. Zweitens unterscheiden sich die Bedingungen, die eine rasche Übertragung durch die Wirtskörper begünstigen, stark voneinander. Menschliche Populationen mit einer hohen Bevölkerungsdichte scheinen leicht zugängliche Wirtskörper zu sein. Es ist bekannt, dass beispielsweise Masernepidemien nur in größeren städtischen Bevölkerungszentren gedeihen, in dünn besiedelten Regionen hingegen ebben sie schnell ab. Die Art und Weise wie Menschen miteinander interagieren, sich fortbewegen, wie sie sich disziplinieren können oder wie sie vergessen, sich die Hände zu waschen, beeinflusst die Verbreitung von Krankheiten.
In jüngster Zeit stammen Krankheiten wie SARS, Vogel- und Schweinegrippe aus China oder Südostasien. China litt im vergangenen Jahr stark unter der Schweinepest, die Massenschlachtungen und steigende Schweinefleischpreise zur Folge hatte. Ich schreibe das alles nicht, um China zu beschuldigen. Es gibt viele andere Orte, an denen die Umweltrisiken für virale Mutationen und Ausbreitungen hoch sind. Die Spanische Grippe von 1918 kam möglicherweise aus Kansas und Afrika hat wahrscheinlich HIV/AIDS, sicherlich das West-Nil-Virus und Ebola ausgebrütet, während sich der Dengue-Virus in Lateinamerika auszubreiten scheint. Aber die wirtschaftlichen und demographischen Folgen der Ausbreitung von Viruskrankheiten hängen von den bereits vorhandenen Rissen und Schwachstellen im hegemonialen Wirtschaftsmodell ab.
Es überraschte mich nicht sonderlich, dass COVID-19 zuerst in Wuhan ausgebrochen ist (ob es von dort auch stammt, ist hingegen nicht bekannt). Die lokalen Auswirkungen in Wuhan würden ganz offensichtlich erheblich sein und da es sich um ein immenses Produktionszentrum handelt, würde es mit großer Sicherheit auch immense globale wirtschaftliche Auswirkungen geben (obwohl ich noch keine Ahnung von deren Ausmaß hatte). Die drängende Frage war, wie die Ansteckungen und die Ausbreitung verlaufen und wie lange sie anhalten würden (bis ein Impfstoff gefunden ist).
Frühere Erfahrungen hatten gezeigt, dass eine der Kehrseiten der zunehmenden Globalisierung die gewaltigen Schwierigkeiten bei der Eindämmung neuer Krankheiten ist. Wir leben in einer hochgradig vernetzten Welt, in der fast jeder reist. Die menschlichen Netzwerke für mögliche Verbreitungen sind weitläufig und offen. Die Gefahr (wirtschaftlich und demographisch) besteht darin, dass die Krise ein Jahr oder länger andauern wird.
Als die ersten Meldungen über den Virus bekannt wurden, kam es zwar sofort zu einem Einbruch an den globalen Aktienmärkten, aber es folgte, überraschenderweise, eine über einen Monat andauernde Phase der Hochstände an den Märkten. Die Botschaft schien zu sein, dass überall außer in China die Geschäfte normal weiterlaufen. Es herrschte die Annahme vor, dass wir eine Wiederholung der SARS-Epidemie erleben würden, die sich als ziemlich schnell eingedämmt und von geringer globaler Auswirkung erwiesen hatte, obwohl der Virus eine hohe Sterblichkeitsrate hatte und eine (im Nachhinein) unnötige Panik an den Finanzmärkten auslöste.
Als COVID-19 auf den Plan trat, gab es die starke Tendenz, es als eine Wiederholung der SARS-Erfahrung darzustellen und damit gleichzeitig die Panik als unangebracht zu brandmarken. Die Tatsache, dass die Epidemie in China wütete und China schnell und erbarmungslos gegen ihre Auswirkungen vorging, führte auch dazu, dass der Rest der Welt das Problem fälschlicherweise als etwas behandelte, das »dort drüben« vor sich ging und damit aus den Augen und aus dem Sinn war (begleitet von beunruhigenden Anzeichen anti-chinesischer Fremdenfeindlichkeit in bestimmten Teilen der Welt). Die Delle, die der Virus in der ansonsten triumphierenden Wachstumsgeschichte Chinas verursachte, wurde in bestimmten Kreisen der Trump-Administration sogar mit Schadenfreude begrüßt.
Meldungen von Unterbrechungen in globalen Produktionsketten, die durch Wuhan gingen, begannen jedoch zu zirkulieren. Diese wurden weitestgehend ignoriert oder als Probleme von bestimmten Produktlinien oder Unternehmen (wie Apple) abgetan. Die Abwertungen waren lokal, spezifisch und nicht systemisch. Die Zeichen eines Rückgangs der Verbrauchernachfrage wurde ebenfalls bagatellisiert, obwohl Unternehmen wie McDonald’s und Starbucks, die große Geschäfte auf dem chinesischen Inlandsmarkt verbuchen, dort ihre Türen temporär schließen mussten. Die Überschneidung des chinesischen Neujahrsfestes mit dem Ausbruch des Virus überdeckte dessen Auswirkungen im gesamten Januar. Die Bequemlichkeit dieses Umstandes war äußerst ungünstig.
Die ersten Nachrichten über die internationale Ausbreitung des Virus waren vereinzelt und episodisch und bezogen sich auf den schweren Ausbruch in Südkorea und an einigen anderen Brennpunkten wie dem Iran. Es war der italienische Ausbruch, der die erste gewaltige Reaktion auslöste. Der Mitte Februar einsetzende Börsencrash schwankte zunächst, aber bis Mitte März hatte er an den Aktienmärkten weltweit zu einer Nettoabwertung von fast 30 Prozent geführt.
Der exponentielle Anstieg der Infektionen führte zu einer Reihe von oft inkohärenten und manchmal panischen Maßnahmen. Präsident Trump führte vor dem Hintergrund einer potentiell steigenden Zahl von Krankheiten und Todesfällen eine Imitation von König Knut dem Großen auf. Einige der Maßnahmen waren sehr merkwürdig. Die Senkung der Zinssätze durch die Federal Reserve im Angesicht des Virus erschien seltsam, selbst wenn man anerkennt, dass dies dazu diente, die Auswirkungen auf die Märkte zu lindern – und nicht die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Öffentliche Behörden und Gesundheitssysteme waren fast überall unterbesetzt. Vierzig Jahre Neoliberalismus in Nord- und Südamerika und Europa haben das Gemeinwesen völlig verwundbar gemacht und schlecht vorbereitet, eine solche Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu bewältigen – sogar obwohl frühere Schrecken wie SARS oder Ebola reichliche Warnungen und stichhaltige Hinweise dazu, was im Notfall zu tun sei, bereit hielten. In vielen Teile der vermeintlich »zivilisierten« Welt sind lokale Regierungen und regionale/staatliche Behörden, die bei Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit wie dieser zweifellos die vordere Verteidigungslinie bilden müssen, dank einer Sparpolitik ausgeblutet, die der Finanzierung von Steuersenkungen und Subventionen von Unternehmen und Reichen dient.
Die Pharmaindustrie hat wenig oder gar kein Interesse an nicht-gewinnorientierter Forschung zu Infektionskrankheiten (zu denen zum Beispiel die ganze Gruppe der Coronaviren zählt, die seit den 1960er Jahren bekannt ist). Die Pharmaindustrie investiert selten in Prävention. Sie hat wenig Interesse daran, in die Vorbeugung einer öffentlichen Gesundheitskrise zu investieren. Sie liebt es, Heilmittel zu entwickeln. Je kränker wir sind, desto mehr verdient sie. Prävention trägt nicht zum Shareholder Value bei.
Das auf die öffentliche Gesundheitsversorgung angewandte Geschäftsmodell beseitigte die Überschusskapazitäten, die im Notfall erforderlich sind. Prävention ist kein Geschäftsfeld, das lukrativ genug für öffentlich-private Partnerschaften ist. Präsident Trump hat das Budget des Center for Disease Control gekürzt und die Arbeitsgruppe zu Pandemien im Nationalen Sicherheitsrat in dem gleichen Geiste aufgelöst, in dem er auch alle Forschungsmittel, einschließlich der Mittel für den Klimawandel, gestrichen hat. Wenn ich anthropomorphisch und metaphorisch auf die Sache blicken würde, käme ich zu dem Schluss, dass COVID-19 die Rache der Natur für über vierzig Jahre brutaler und ausbeuterischer Misshandlung der Natur durch einen gewalttätigen und unregulierten neoliberalen Extraktivismus ist.
Es ist vielleicht symptomatisch, dass die am wenigsten neoliberal ausgerichteten Länder, wie China, Südkorea, Taiwan und Singapur, die Pandemie bisher besser überstanden haben als Italien, auch wenn der Iran dieses universelle Deutungsmuster widerlegt. Es gab viele Hinweise darauf, dass China mit SARS einen eher schlechten Umgang gefunden hat, mit einer Menge anfänglicher Lügen und Verleugnung; dieses Mal jedoch hat Präsident Xi sofortige Transparenz sowohl bei der Berichterstattung als auch bei den Tests verordnet, so wie auch Südkorea. Dennoch ging in China wertvolle Zeit verloren (nur einige wenige Tage können einen großen Unterschied machen). Was in China allerdings besonders war, war die Begrenzung der Epidemie auf die Provinz Hubei mit Wuhan in ihrem Zentrum. Die Epidemie hat sich nicht nach Peking, in den Westen oder noch weiter in den Süden verlagert.
Die Maßnahmen zur geographischen Eindämmung des Virus waren drakonisch. Es wäre praktisch unmöglich, sie anderswo genauso umzusetzen – aus politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründen. Aus China kommende Berichte deuten darauf hin, dass die Behandlungen und Maßnahmen alles andere als fürsorglich waren. Zusätzlich setzten China und Singapur ihre Befugnisse zur persönlichen Überwachung auf einem Niveau um, das invasiv und autoritär ist. Diese scheinen jedoch insgesamt äußerst wirksam gewesen zu sein, allerdings hätten laut Berechnungen viele Todesfälle vermieden werden können, wenn die Gegenmaßnahmen nur wenige Tage früher in Gang gesetzt worden wären. Das ist eine wichtige Erkenntnis: Bei jedem exponentiellen Wachstumsprozess gibt es einen Wendepunkt, ab dem die Anstiegsrate vollständig außer Kontrolle gerät (man beachte hier noch einmal die Bedeutung der Masse im Verhältnis zur Rate). Die Tatsache, dass Trump wochenlang getrödelt hat, kann viele Menschen das Leben gekostet haben und immer noch kosten.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen geraten nun sowohl innerhalb als auch außerhalb Chinas außer Kontrolle. Die Unterbrechungen entlang der Wertschöpfungsketten von Unternehmen und in bestimmten Sektoren erweisen sich als tiefgreifender und dauerhafter als zunächst angenommen. Die langfristige Folge könnte eine Verkürzung oder Diversifizierung von Lieferketten sein, ebenso wie ein Wandel hin zu weniger arbeitsintensiven Produktionsformen (mit enormen Auswirkungen auf die Beschäftigung) und eine stärkere Abhängigkeit von künstlich-intelligenten Produktionssystemen. Die Unterbrechung der Produktionsketten hatte die Entlassung oder Beurlaubung von Arbeiterinnen und Arbeitern zur Folge, wodurch die Endnachfrage geschmälert wird, während die Nachfrage nach Rohstoffen den wertschöpfenden Konsum verringert. Diese Auswirkungen auf der Nachfrageseite hätten für sich allein genommen schon eine leichte Rezession ausgelöst.
Die größten Schwachstellen bestehen jedoch anderswo. Die konsumistischen Produktionsweisen, die nach 2007-08 explodierten, stürzen mit verheerenden Folgen ab. Diese basieren auf der Reduktion der Absatzzeit des Verbrauchs auf möglichst nahe Null. Die Flut von konsumistischen Investitionen baut auf die maximale Abschöpfung von exponentiell wachsenden Kapitalumsätzen, die im Zeichen des Konsumismus kürzestmögliche Absatzzeiten haben.
Der internationaler Tourismus ist dafür emblematisch. Die Zahl der internationalen Reisen stieg zwischen 2010 und 2018 von 800 Millionen auf 1,4 Milliarden an. Diese Form des unmittelbaren Konsumverhaltens erforderte massive Infrastrukturinvestitionen in Flughäfen, Fluggesellschaften, Hotels, Restaurants, Themenparks, kulturelle Veranstaltungen etc. Diese Säule der Kapitalakkumulation ist nun weggebrochen: Fluggesellschaften stehen kurz vor dem Bankrott, Hotels sind leer und Massenarbeitslosigkeit in der Gastronomie steht unmittelbar bevor. Auswärts zu essen ist unratsam und Restaurants und Bars sind vielerorts geschlossen. Selbst ein Gericht zum Mitnehmen erscheint riskant. Eine Armee von Freiberuflerinnen und -beruflern oder anders prekär beschäftigter Menschen wird ohne erkennbare Unterstützung gefeuert. Kulturfestivals, Fußball- und Basketballturniere, Konzerte, Geschäfts- und Fachkongresse und sogar politische Wahlveranstaltungen werden abgesagt. Diese »ereignisbasierten« Formen des Erlebniskonsums werden eingestellt. Die Einnahmen der Kommunen sind rapide eingebrochen. Universitäten und Schulen werden geschlossen.
»Es gibt einen bequemen Mythos, der besagt, dass Infektionskrankheiten Klassen oder andere soziale Barrieren und Grenzen nicht kennen.«
Weite Teile des modernen kapitalistisch-konsumistischen Systems sind unter den aktuellen Bedingungen nicht funktionsfähig. Das Streben nach dem, was André Gorz »kompensatorischen Konsum« nannte (nach diesem sollen die Lebensgeister von entfremdeten Arbeiterinnen und Arbeitern durch eine Pauschalreise an einen tropischen Strand wieder geweckt werden), ist abgestumpft.
Die modernen kapitalistischen Volkswirtschaften sind zu 70 oder sogar 80 Prozent konsumgesteuert. Verbrauchervertrauen und -stimmung sind in den letzten vierzig Jahren zum Schlüssel für die Mobilisierung wirksamer Nachfrage und das Kapital zunehmend nachfrage- und bedarfsorientiert geworden. Diese Quellen wirtschaftlicher Energie waren keinen starken Schwankungen unterworfen (mit wenigen Ausnahmen wie des isländischen Vulkanausbruchs, der einige Wochen lang transatlantische Flüge blockierte). COVID-19 hingegen beweist keine wilde Fluktuation, sondern eine fundamentale Krise im Herzen des konsumistischen Modells, das in den wohlhabendsten Länder dominant ist. Die spiralförmige, endlos angelegte Kapitalakkumulation kollabiert von innen heraus – vom einen Teil der Welt hin zu jedem anderen Teil. Das Einzige, was sie retten kann, ist ein staatlich finanzierter und initiierter Massenkonsumismus, der aus dem Nichts heraus gezaubert werden muss. Dies erfordert zum Beispiel die Verstaatlichung der gesamten amerikanischen Wirtschaft – ohne das gleich Sozialismus zu nennen.
Es gibt einen bequemen Mythos, der besagt, dass Infektionskrankheiten Klassen oder andere soziale Barrieren und Grenzen nicht kennen. Wie in vielen solcher Weisheiten steckt auch in diesem ein Fünkchen Wahrheit. Während der Cholera-Epidemien im 19. Jahrhundert war die Überschreitung der Klassenschranken so dramatisch, dass eine Bewegung für eine öffentliche und sich professionalisierende sanitäre Grundversorgung und Gesundheit entstand, die bis heute existiert. Ob diese Bewegung dem Schutz aller oder nur der Oberschicht dienlich sein sollte, war nicht immer klar.
Heute hingegen erzählen die Klassenunterschiede und die sozialen Auswirkungen der Krise eine andere Geschichte. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen werden durch die »normalen« Diskriminierungen verstärkt, die überall zu sehen sind. So ist zum Beispiel die Gruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich um die stetig steigende Zahl der Kranken kümmern muss, in den meisten Teilen der Welt typischerweise klar geschlechts- und ethnienspezifisch markiert. Sie spiegelt die klassenspezifischen Arbeitskräfte, die z.B. in Flughäfen oder anderen Logistik-Sektoren zu finden sind.
Diese »neue Arbeiterklasse« bildet die vorderste Front und trägt die Doppelbürde, dass sie einerseits zu den Beschäftigten zählt, die sich der größten Gefahr aussetzt, sich durch ihre Arbeit mit dem Virus zu infizieren, und andererseits wegen der durch den Virus erzwungenen wirtschaftlichen Sparmaßnahmen ohne jegliche Rücklagen entlassen zu werden.
Es stellt sich zum Beispiel die Frage, wer von zu Hause arbeiten kann und wer nicht. Dies verschärft die gesellschaftliche Spaltung ebenso wie die Frage, wer es sich leisten kann im Falle eines Kontakts mit einer infizierten Person oder einer Infektion sich selbst zu isolieren und in Quarantäne zu gehen (mit oder ohne Bezahlung). Genauso wie ich gelernt habe, die Erdbeben von Nicaragua (1973) und Mexiko-Stadt (1995) als »Klassenbeben« zu bezeichnen, weist der Verlauf von COVID-19 alle Merkmale einer klassen-, geschlechts- und ethnienspezifischen Pandemie auf.
Während die Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie bequemerweise mit der Losung »Wir sitzen alle im selben Boot« verschleiert werden, deuten die Handlungsmuster, insbesondere seitens der nationalen Regierungen, auf üble Motive hin. Die Klasse der Arbeitenden in den Vereinigten Staaten (hauptsächlich bestehend aus Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern, Latinos und erwerbstätigen Frauen) steht vor der unschönen Wahl zwischen einer Ansteckung mit COVID-19, um Pflege und systemrelevante Versorgung aufrechtzuerhalten (wie Lebensmittelgeschäfte), oder Arbeitslosigkeit ohne Sozialleistungen (wie einer hinreichenden Gesundheitsversorgung). Angestellte (wie ich) arbeiten von zu Hause aus und beziehen ihr übliches Gehalt, Vorstände fliegen in Privatjets und Hubschraubern herum.
In den meisten Teilen der Welt sind die Arbeitskräfte seit langem so sozialisiert worden, dass sie sich als gute neoliberale Subjekte verhalten (was bedeutet, dass sie sich selbst oder Gott die Schuld geben, wenn etwas schief geht, es aber niemals wagen würden, dem Kapitalismus die Schuld für das Problem zu geben). Aber selbst gute neoliberale Subjekte können erkennen, dass es etwas an der Art und Weise, wie auf diese Pandemie reagiert wird, faul ist.
Die große Frage lautet: Wie lange wird das noch so weitergehen? Es könnte noch mehr als ein Jahr dauern und je länger es andauert, desto größer ist die Abwertung, auch der Arbeitskräfte. Die Arbeitslosenquote wird ohne massive staatliche Interventionen, die gegen das neoliberale Dogma verstoßen, mit ziemlicher Sicherheit auf ein Niveau vergleichbar mit dem der 1930er Jahren steigen.
Die unmittelbaren Auswirkungen für die Wirtschaft wie auch für das soziale Alltagsleben sind verschieden. Aber sie sind nicht alle schlecht. In seinem exzessiven Ausmaß grenzt unser Konsumismus an das, was Marx als »übermäßigen und wahnsinnigen Konsum« bezeichnete, was wiederum das »Ungeheuerliche und Bizarre«, den »Untergang des ganzen Systems« bedeutet. Die Rücksichtslosigkeit dieses Überkonsums hat eine große Rolle bei der Umweltzerstörung gespielt. Die Annullierung von Flügen und die radikale Eindämmung von Transport und Bewegung hat sich positiv auf Treibhausgasemissionen ausgewirkt. Die Luftqualität in Wuhan hat sich deutlich verbessert, so auch in vielen US-Städten. Ökotouristische Stätten haben Zeit, sich von den trampelnden Füßen zu erholen. Schwäne sind in die Kanäle von Venedig zurückgekehrt.
»Hierin liegt die ultimative Ironie: Die einzige Politik, die funktionieren wird, ist wirtschaftlich und politisch viel sozialistischer als alles, was Bernie Sanders jemals vorschlagen könnte.«
So wie die Tendenz zu rücksichtslosem und sinnlosem Überkonsum gerade eingedämmt wird, so könnte das langfristige Vorteile mit sich bringen. Weniger Todesfälle auf dem Mount Everest wären eine gute Sache. Und obwohl niemand es laut ausspricht, könnte die demographische Tendenz des Virus am Ende Auswirkungen auf die Alterspyramiden haben mit langfristigen Folgen für die Belastungen der sozialen Sicherungssysteme und die Zukunft der »Pflege-Industrie«. Das tägliche Leben wird sich verlangsamen und für manche Menschen wird das ein Segen sein. Die gebotenen Regeln zur sozialen Distanzierung könnten, wenn die Notlage lange genug andauert, zu kulturellen Verschiebungen führen. Die einzige Form des Konsumismus, die höchstwahrscheinlich profitieren wird, ist die »Netflix«-Ökonomie, wie ich sie nenne, die sich an »Binge-Watcher« richtet.
An der Wirtschaftsfront werden die Handlungsmaxime von der Bewältigungsstrategie des Crashs von 2007/08 geleitet. Diese beinhaltet eine ultralockere Geldpolitik, verbunden mit einer Rettungsaktion für die Banken, ergänzt durch einen dramatischen Anstieg des produktiven Verbrauchs durch eine massive Ausweitung der Infrastrukturinvestitionen in China. Letztere können nicht in dem erforderlichen Umfang wiederholt werden. Die Rettungspakete, die 2008 geschnürt wurden, konzentrierten sich auf die Banken, beinhalteten aber auch die De-facto-Verstaatlichung von General Motors. Es ist vielleicht bezeichnend, dass angesichts der Unzufriedenheit der Arbeiterinnen und Arbeiter und des Zusammenbruchs der Marktnachfrage die drei großen Autofirmen in Detroit geschlossen wurden, zumindest vorübergehend.
Wenn China seine Rolle von 2007/08 nicht wiederholen kann, dann wird die Last der Bewältigung der Wirtschaftskrise nun auf die Vereinigten Staaten umgelagert. Hierin liegt die ultimative Ironie: Die einzige Politik, die funktionieren wird, ist wirtschaftlich und politisch viel sozialistischer als alles, was Bernie Sanders jemals vorschlagen könnte. Diese Rettungsprogramme müssen unter der Ägide von Donald Trump eingeleitet werden, vermutlich unter dem Label »Make America Great Again«.
All jene Republikanerinnen und Republikaner, die sich so heftig gegen die Rettungsaktion von 2008 gewehrt haben, müssen nun entweder Kreide fressen oder sich Donald Trump widersetzen. Letzterer wird, wenn er klug ist, die Wahlen per Notfalldekret aussetzen und den Beginn einer kaiserlichen Präsidentschaft verkünden, um das Kapital und die Welt vor »Aufruhr und Revolution« zu schützen.
David Harvey ist Professor für Anthropologie und Geographie am Graduiertenzentrum der City University von New York. Sein neuestes Buch auf Deutsch ist »Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus« (Berlin, 2015).