16.03.2021
Der Sozialismus schränkt die Freiheit ein, behaupten Rechte. Das Gegenteil ist der Fall.
David Harvey spricht auf dem Subversive Festival, 2013.
Foto: Robert Crc, FAL 1.3.
Von David Harvey
Übersetzung von Thomas Zimmermann
Ich hielt vor einiger Zeit einen Vortrag in Peru, als die Studierenden die Frage aufwarfen: »Erfordert der Sozialismus, dass wir unsere individuelle Freiheit aufgeben?«
Die Rechten haben es geschafft, sich den Begriff der Freiheit anzueignen und ihn als Waffe im Klassenkampf gegen uns Linke einzusetzen. Der Vorwurf lautet, Sozialismus und Kommunismus würden das Individuum der staatlichen Kontrolle unterwerfen – und das gelte es um jeden Preis zu verhindern.
Ich antwortete, wir müssten an der Idee festhalten, dass jedes sozialistische Projekt auch ein Kampf für die Freiheit sein muss. Die Erlangung individueller Freiheiten, so argumentierte ich, ist ein zentrales Ziel des emanzipatorischen Projekts des Sozialismus. Doch um das zu erreichen, müssen wir erst gemeinsam eine Gesellschaft aufbauen, in der wir alle die nötigen Voraussetzungen und Möglichkeiten haben, um unsere individuellen Potenziale zu entfalten.
Marx hatte ein paar interessante Dinge zu diesem Thema zu sagen. Etwa stellte er fest, dass das »Reich der Freiheit« da anfängt, wo wir das »Reich der Notwendigkeit« hinter uns lassen. Freiheit ist bedeutungslos, solange man nicht genug zu essen hat, oder wenn einem der Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Transportmitteln, Bildung und dergleichen verwehrt wird. Und das Ziel des Sozialismus ist es, diese grundlegenden Notwendigkeiten bereitzustellen, sodass die Menschen frei sind, zu tun, was auch immer sie wollen.
Der Endpunkt der sozialistischen Transformation ist eine Welt, in der die individuellen Fähigkeiten und Kräfte vollständig von materiellen Nöten und anderen politischen und sozialen Zwängen befreit sind. Anstatt uns damit abzufinden, dass die Liberalen ein Monopol auf den Begriff der Freiheit haben, müssen wir die Idee der Freiheit wieder für den Sozialismus zurückerobern.
Aber Marx wies auch darauf hin, dass die Freiheit ein zweischneidiges Schwert ist. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in einer kapitalistischen Gesellschaft, so schreibt er, sind in doppeltem Sinne frei: Sie sind frei, ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen, an wen auch immer sie wollen – und zwar zu den Bedingungen, die sie in freier Verhandlung erzielen können. Aber sie sind zugleich un-frei, weil sie von jeglicher Kontrolle über die Produktionsmittel »befreit« und daher gezwungen sind, ihre Arbeitskraft an das Kapital auszuliefern, um zu überleben.
Für Marx ist das der zentrale Widerspruch der Freiheit im Kapitalismus. Im Kapitel über den Arbeitstag im Kapital beschreibt er es so, dass der Kapitalist frei ist, zum Arbeiter zu sagen: »Ich will dich zu einem möglichst niedrigen Lohn für eine möglichst lange Zeit beschäftigen, in der du genau das tust, was ich dir vorschreibe. Das ist es, was ich von dir verlange, wenn ich dich einstelle.«
Auf der anderen Seite ist der Arbeiter frei zu entgegnen: »Du hast nicht das Recht, mich 14 Stunden am Tag schuften zu lassen. Und du hast nicht das Recht, mit meiner Arbeitskraft zu machen, was immer du willst – vor allem nicht, wenn das meine Gesundheit und mein Wohlbefinden gefährdet und mein Leben verkürzt. Ich bin ausschließlich dazu bereit, eine faire Tagesarbeit zu einem fairen Tageslohn zu leisten.« Das Gesetz des Austauschs, sagt Marx, gibt beiden Seiten gleichermaßen Recht. Und bei gleichem Recht, so fährt er fort, entscheidet die Gewalt. Es ist also der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit, der in dieser Frage die Entscheidung fällt. Wie dieser Kampf ausgeht, beruht somit auf dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, welches unter Umständen auch von Druck und Gewalt gezeichnet sein kann.
Es ist hilfreich, sich diese Idee der Zweischneidigkeit der Freiheit noch genauer anzusehen. Eine der besten Ausarbeitungen dieser These findet sich in dem Buch The Great Transformation von Karl Polanyi. Darin erklärt Polanyi, dass es gute und schlechte Formen der Freiheit gibt.
Zu den schlechten Formen der Freiheit, gehören für Polanyi die Freiheit, seine Mitmenschen unbegrenzt auszubeuten; die Freiheit, übermäßige Gewinne zu machen, ohne der Gemeinschaft einen angemessenen Dienst zu erweisen; die Freiheit, technologische Erfindungen zum Nachteil der Allgemeinheit einzusetzen; die Freiheit, aus sozialen und natürlichen Katastrophen Profit zu schlagen – oder auch zum eigenen Vorteil Katastrophen herbeizuführen.
Aber, so Polanyi weiter, die Marktwirtschaft, unter der diese Freiheiten gedeihen, hat auch Freiheiten hervorgebracht, die wir hochhalten: Gewissensfreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und die Freiheit, den eigenen Arbeitsplatz zu wählen.
Zwar schätzen wir diese Freiheiten um ihrer selbst willen, jedoch sind sie zu einem großen Teil Nebenprodukte derselben Wirtschaft, die auch für die schlechten Freiheiten verantwortlich ist. Polanyis Lösung für diesen Widerspruch gibt angesichts der gegenwärtigen Hegemonie der neoliberalen Vorstellung von Freiheit eine ausgesprochen seltsame Lektüre ab.
Er schreibt darüber folgendermaßen: »Das Ende der Marktwirtschaft« – also deren Überwindung – »könnte den Anfang einer Ära nie da gewesener Freiheit bedeuten.« Diese Aussage, dass die wahre Freiheit erst beginnt, wenn die Marktwirtschaft Geschichte ist, mag aus heutiger Sicht einige irritieren. Er fährt fort:
»Rechtliche und praktische Freiheiten könnten größer und allgemeiner werden als je zuvor. Regelungen und Kontrolle könnten Freiheit nicht nur für die Wenigen, sondern für alle verwirklichen; Freiheit nicht nur als ein schon vom Ansatz her pervertiertes Recht der Privilegierten, sondern als ein verbrieftes Recht, das weit über die engen Grenzen des politischen Bereichs in die innere Struktur der Gesellschaft schlechthin reicht. So werden alte Freiheiten und Bürgerrechte dem Fundus der neuen Freiheit hinzugefügt, der durch die Muße und die Sicherheit geschaffen wird, die eine Industriegesellschaft allen zu bieten vermag. Eine solche Gesellschaft kann es sich leisten, gleichermaßen gerecht und frei zu sein.«
Diese Idee einer Gesellschaft, die sowohl auf Gerechtigkeit als auch auf Freiheit beruht, war Teil der politischen Agenda der Studentenbewegung der 1960er Jahre und der sogenannten 68er-Generation. Damals waren beide Forderungen weit verbreitet: Freiheit vom Zwang des Staates, Freiheit vom Zwang des Kapitals, Freiheit von den Zwängen des Marktes – aber gepaart mit einem Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit.
Die politische Antwort, die der Kapitalismus in den 1970er Jahren darauf fand, ist durchaus interessant. Diese Forderungen wurden nach und nach abgehakt, nach dem Motto: »Wir geben euch Freiheiten (wenn auch mit einigen Vorbehalten), aber im Gegenzug vergesst ihr das mit der Gerechtigkeit.«
Das Gewähren von Freiheiten hatte seine Grenzen. Im Wesentlichen bedeutete es einfach die Freiheit der Wahl auf dem Markt. Der freie Markt und die Freiheit von staatlicher Regulierung waren die Antworten des Kapitals auf die Frage der Freiheit. Aber an Gerechtigkeit war nicht zu denken – die würde der Wettbewerb auf dem Markt liefern, der angeblich so funktionieren würde, dass am Ende alle bekommen, was ihnen zusteht. In Wirklichkeit wurden damit jedoch im Namen der guten Freiheiten gerade die üblen Freiheiten (wie die Freiheit zur Ausbeutung anderer) entfesselt.
Polanyi hatte diese Wendung klar vor Augen. Er stellte fest, dass der von ihm anvisierte Weg in die Zukunft durch ein moralisches Hindernis blockiert war – den »liberalen Utopismus«. Ich denke, wir stehen heute noch immer vor den Problemen, die dieser liberale Utopismus mit sich bringt. Schließlich ist diese Ideologie in unseren medialen und politischen Diskursen allgegenwärtig.
Der liberale Utopismus gehört zu den Dingen, die der Verwirklichung tatsächlicher Freiheit im Wege stehen. »Planung und Kontrolle«, schrieb Polanyi, »werden als Verleugnung der Freiheit angegriffen. Freies Unternehmertum und Privateigentum werden als Wesensmerkmale der Freiheit deklariert, und es heißt, keine auf anderen Grundlagen errichtete Gesellschaft verdiene es, frei genannt zu werden.« Das war es, was die Ideologen des Neoliberalismus vorbrachten.
Eine der Schlüsselfragen unserer Zeit ist für mich folgende: Werden wir die begrenzten Freiheiten des Marktes und die Regulierung unseres Lebens durch die Gesetze von Angebot und Nachfrage hinter uns lassen, oder werden wir, wie Margaret Thatcher es ausdrückte, akzeptieren, dass es keine Alternative gibt? Dann mögen wir zwar von der Kontrolle des Staates befreit sein, bleiben aber dem Markt unterworfen. »Dazu gibt es keine Alternative, jenseits davon gibt es keine Freiheit« – so predigen es die Rechten, und viele Menschen haben gelernt, das zu glauben.
Das Paradoxe an unserer gegenwärtigen Situation ist, dass wir im Namen der Freiheit eine liberal-utopische Ideologie übernommen haben, die der Verwirklichung wahrer Freiheit im Wege steht. Ich für meinen Teil glaube jedenfalls nicht, dass wir in einer Welt der Freiheit leben, wenn man zum Beispiel – wie es vielerorts der Fall ist – immense Summen aufbringen muss, um sich Bildung leisten zu können, und am Ende seines Studiums mit Schulden dasteht.
Ich bin in Großbritannien aufgewachsen. In den 1960er Jahren war ein Großteil des Wohnraums noch in öffentlicher Hand. Der soziale Wohnungsbau wurde in meiner Jugend als Bereitstellung einer gesellschaftlichen Notwendigkeit erachtet. Wohnen war dadurch erschwinglich. Dann kam Margaret Thatcher, privatisierte alles, und sagte den Menschen gewissermaßen: »Ihr werdet viel freier sein, wenn ihr Eigentum besitzt, und ihr werdet Teil einer auf Eigentum gegründeten Demokratie sein.«
So kommt es, dass sich in Großbritannien nicht mehr 60 Prozent, sondern nur noch 20 Prozent des Wohnraums – oder sogar weniger – in der öffentlichen Hand befinden. Wohnraum wird zur Ware, und die Ware wird Gegenstand spekulativer Aktivitäten. In dem Maße, in dem er zu einem Objekt der Spekulation wird, steigt der Preis für Immobilien und die Kosten für Wohnraum gehen durch die Decke, ohne dass sich die Versorgungslage verbessert hätte.
Unsere Art des Wohnungs- und Städtebaus verschafft der Oberschicht enorme Freiheit, während sie zugleich für den Rest der Bevölkerung Unfreiheit produziert. Ich denke, das meinte Marx, als er sagte, dass wir das Reich der Notwendigkeit überwinden müssen, um in das Reich der Freiheit einzutreten.
Auf diese Weise schränken die Marktfreiheiten unsere Möglichkeiten ein. In Anbetracht dessen muss die sozialistische Perspektive Polanyis Vorschlag folgen und die Frage des Zugangs zur Freiheit, des Zugangs zum Wohnen, kollektivieren. Wir übertragen also die Frage dieses Zugangs vom Markt in die öffentliche Hand. Wohnen im öffentlichen Sektor ist unser Slogan. Die Dinge in die öffentliche Hand zu geben, ist einer der Grundzüge sozialistischer Politik in unserem heutigen System.
Oft wird behauptet, wir müssten unsere Individualität aufgeben und auf etwas verzichten, um zum Sozialismus zu kommen. Zu einem gewissen Grad mag das stimmen; aber wir können, wie Polanyi betonte,eine tiefere Freiheit erlangen, wenn wir nur über die grausame Wirklichkeit der individualisierten Freiheiten des Marktes hinausgehen.
Ich verstehe Marx so, dass unsere Aufgabe darin besteht, den Bereich der individuellen Freiheit zu maximieren – aber das kann nur gelingen, wenn die lebensnotwendigen Grundbedürfnisse gedeckt sind. Es ist nicht die Aufgabe des Sozialismus, alles zu regeln, was in der Gesellschaft vor sich geht. Vielmehr soll er dafür sorgen, dass alle Menschen mit den grundlegenden Notwendigkeiten des Lebens versorgt sind – dass sie ihnen frei zur Verfügung stehen –, sodass sie frei sind, zu tun, was sie wollen, und wann sie es wollen.
Fragt man heute eine Person, wie viel Freizeit sie hat, lautet die Antwort in der Regel: »Praktisch gar keine. Alle Zeit ist eingenommen von diesem und jenem.« Wirkliche Freiheit bedeutet, in einer Welt zu leben, in der wir alle freie Zeit haben, mit der wir anfangen können, was immer wir wollen. Das steht im Zentrum der Agenda des emanzipatorischen Projekts des Sozialismus. Darauf können und sollten wir alle hinarbeiten.
Dies ist ein Auszug aus David Harveys neuem Buch »The Anti-Capitalist Chronicles«, erschienen bei Pluto Press.
David Harvey ist Professor für Anthropologie und Geographie an der City University of New York.
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