22. Januar 2025
Der kürzlich verstorbene Regisseur David Lynch hat in den Abgrund des amerikanischen Traums geblickt. Und ihm gelang, was nur wenige andere Filmemacher schafften: Er brachte die Avantgarde in die Mainstream-Kinos.
David Lynch am Set seines letzten Spielfilms »Inland Empire«
David Lynch verloren zu haben, ist schrecklich. Man weiß nicht, was oder wie man es am besten ausdrücken soll. Nach Inland Empire (2006) hatte er sich von der Spielfilm-Regie zurückgezogen und als sein letztes großes Werk die atemberaubende Rückkehr der Fernsehserie Twin Peaks (2017) hinterlassen. Doch solange er lebte, gab es immer Hoffnung auf einen letzten Lynch-Film. Allein das Wissen, dass er da war – lebendig und seltsam und fidel und jederzeit bereit, irgendeinen verrückten Kurzfilm, Wetterbericht oder Cartoon mit The Angriest Dog in the World zu veröffentlichen – war aufmunternd. Wenn es in dieser Welt Platz für David Lynchs Erfolg und Bewunderung gab, dann gab es doch vielleicht auch Platz für Dein eigenes, sonderbares Selbst?
Keine individuelle Erinnerung oder Würdigung – und in den kommenden Tagen und Wochen wird es davon unweigerlich Millionen geben – könnte den unglaublichen Wert von Lynchs Filmen vermitteln. Sie können nicht in Worte fassen, welche persönliche Erfahrungen und Erlebnisse er uns vermittelte, die wir dabei waren, als seine Werke zum ersten Mal in die Welt und in eine todkranke Kultur, die sich bereits auf einer rasanten Talfahrt befand, hineinplatzten. Seine erfrischende Vision vermittelte einem das Gefühl, dass er um diesen Zustand wusste und sich dem widersetzte. Er weigerte sich sogar anzuerkennen, dass etwas in diesem Sinne vorbei war – das war es nicht, wenn man bereit war, es ganz direkt zu betrachten und furchtlos genauso darzustellen, wie man es selbst wahrnahm.
Diese stille Trotzhaltung stellte eine Verbindung zwischen Lynchs Arbeit und dem Film noir her, jenem schonungslosen Genre, das das moderne amerikanische Dasein als einen einzigen Albtraum darstellt. Lynch stand dem Film noir immer zumindest nahe, er erweiterte aber auch die Grenzen des Genres und pflegte ein Leben des visionären kreativen Ausdrucks – »The Art Life«, wie er es nannte.
Lynchs Vision des Film noir war umso beeindruckender, wenn man sich seine gleichzeitige Begeisterung für Americana vor Augen hält, diese naive Sicht auf US-amerikanische Kultur. Lynch war ihr immer zugewandt und nahm sie in seine Arme. Seine kantig-harte Seite kam in seinen Filmen aber ebenfalls voll zum Ausdruck. Sie verstärkte den Schauer, der sich bei seinen verstörendsten Filmmomenten über den Zuschauer legt, nur noch weiter.
Es gibt Idioten, die Lynch als irgendeinen x-beliebigen Spinner betrachten, der ohnehin nur abgehobene Cineasten anspricht. Lynch war einer der wenigen Regisseure, die den Film-Noir-Ansatz aufnahmen und das amerikanische Leben durch eine angemessen dunkle und verzerrte Linse als eine einzige Katastrophe betrachteten. Er fand einen Weg, diese wichtige Perspektive sinnvoll umzusetzen, ohne dabei in schwache Nachahmungen und Pastiche zu verfallen, wie sie für so viele sogenannte Neo-Noir-Vertreter typisch ist.
»Wir Lynch-Fans hatten das Gefühl, einen verstörten, aber äußerst scharfsinnigen Freund kennengelernt zu haben, der ausdrückt, was wir selbst fühlen, aber nicht artikulieren können.«
Niemand außer Raymond Chandler und Mike Davis hat Los Angeles jemals so schön, erschreckend und umfassend dargestellt wie David Lynch in Mulholland Drive (2001). Ich habe den Film gesehen, als ich selbst dort lebte und irgendwas mit Independent-Film machte. Mulholland Drive fühlte sich an, als hätte jemand in meinen Kopf geschaut und genau das gesehen, was ich in LA erlebte. Erinnert sei an diese Nachtfahrten auf kurvenreichen Straßen in den samtschwarzen Hollywood Hills – auf dem Weg zu einer Party in einem beleuchteten, modernistischen Meisterwerk von einem Haus. Dies waren Filmfahrten, die sich immer gleichzeitig so schön wie ein Traum und so bedrohlich wie der eigene unvermeidliche und – vermutlich gewaltsame – Tod anfühlten.
Das Brandopfer/Monster in der Mülltonne hinter dem Café, in dem ständig Treffen der Filmindustrie stattfinden? Eine brillante Art, um das allgegenwärtige Gefühl von Angst und Untergang in den Kreisen der Filmemacher in LA zu versinnbildlichen.
Das ist die Sache mit Lynch: Er schuf keine künstlerischen Symbole. Er betrachtete die Welt um sich herum – unsere Welt – und versuchte, einen Weg zu finden, um zu vermitteln, wie es sich eigentlich anfühlt, in ihr zu leben.
Viele fanden und finden seinen beeindruckenden ersten Spielfilm Eraserhead (1977) nach wie vor völlig unverständlich und undurchdringbar. Wir Lynch-Fans sehen das anders: Wir schauten diesen Film – höchstwahrscheinlich am späten Abend, in der Mitternachtsvorstellung – und hatten das Gefühl, einen Freund kennengelernt zu haben, einen recht verstörten, aber äußerst scharfsinnigen Freund, der ausdrückte, was wir selbst fühlen, aber nicht artikulieren können. Das ist ohnehin das vorherrschende Merkmal unserer Jugend gewesen: hilflos und entfremdet durch die betonierte, umweltzerstörende Höllenlandschaft des postindustriellen Lebens in den USA zu wandern und zu versuchen, uns ein sinnvolles System vorzustellen, und sei es eins, das von dem melancholisch hebelziehenden, offenbar kranken »Man in the Planet« regiert wird und in dem es Trost durch die herzliche, kosmische »Frau in der Heizung« gibt.
Lynch basierte Eraserhead auf seinen eigenen angsterfüllten Erfahrungen, die er als armer junger Mann mit Frau und Baby und ohne finanzielle oder berufliche Sicherheit in einem heruntergekommenen Viertel in der vor sich hin bröckelnden Stadt Philadelphia im Rust Belt machte. Er sprach von »meiner Philadelphia Story«.
»Irgendwie fühlte es sich immer an, als ob Filme wie Blue Velvet in Mainstream-Kinos einfach nicht ›erlaubt‹ wären. Und doch war dieser Film da.«
Blue Velvet (1986) sah ich in einem großen Cineplex in einem Einkaufszentrum, zusammen mit vielen anderen Menschen, die den Film zum wohl größten Kassenschlager unter den Avantgarde-Filmen machten, die jemals in Amerika produziert wurden. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Nachmittagsvorstellung, diese sensorische Überwältigung, die drückende Stille danach. Irgendwie fühlte es sich immer an, als ob solche Filme in Mainstream-Kinos einfach nicht »erlaubt« wären. Und doch war dieser Film da.
Meine Freunde und ich verließen den Saal wie benommen. Viele empörte Menschen zogen an uns vorbei und meckerten über die ungeheure, sadomasochistische Absonderlichkeit des Films. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie wir zögerten und uns dann gegenseitig zumurmelten: »Das war großartig, oder?«
Aber wir konnten nicht sofort sagen, warum. Das ist ein Markenzeichen von Lynchs Werk. Seine Filme neigen immer dazu, über das reine Klugscheißern von Cineasten und Expertinnen hinauszugehen. Nicht noch eine weitere glatte Zusammenfassung eines Meisterwerks, die es auf unsere beengten, vermeintlich klugen Vorstellungen von »Filmkunst« reduziert. Ich lese auf Letterboxd Beiträge, bei denen ich schreien möchte: Alles ist ein Meisterwerk; eure Christopher Nolans, eure Denis Villeneuves, eure Greta Gerwigs, eure Luca Guadagninos produzieren drei Meisterwerke pro Woche – zumindest, wenn man dem unerbittlich-optimistischen Geschwätz vieler Leute auf solchen Plattformen Glauben schenkt. Jeder dritte Film, der gedreht wird, reißt sie zu Begeisterungsstürmen hin. Na, dann viel Glück mit Lynch. Seine Filme lassen sich schlicht nicht so einfach oder irgendwie »clever« zusammenfassen.
Ich habe Twin Peaks (1990) damals in der Erstausstrahlung im TV gesehen. Wieder dieser Schock: Sie haben ihn tatsächlich diese Fernsehsendung machen lassen? Wir alle waren wie hypnotisiert. Gleichaltrige trafen sich am Tag nach jeder Folge, um sich über die grundlegendsten Kleinigkeiten auszutauschen. Immer wieder die Frage: »Hast du das gesehen?«
Und dann haben wir es einander beschrieben. Es war wie eine paranormale Vision. Die steifen Bewohner des roten Raums, das zickzackförmige Bodendesign, das Flüstern, die seltsamen Sprachmuster, die kaum oder eben nur fast verständlich erschienen. Man musste sich mit den anderen vergewissern, dass dieses oder jenes tatsächlich passiert war – und versuchen, sich damit abzufinden, warum es einen so tiefgreifend berührte.
Natürlich gibt es andere, wunderbar talentierte Nachwuchsregisseure, aber niemanden, der Lynch auch nur annähernd das Wasser reichen oder ihn nachahmen oder versuchen könnte, in seine Fußstapfen zu treten. Heute ist die alte Auteur-Theorie, die besagt, dass der Regisseur der alleinige »Autor« eines Films ist oder sein sollte, weitgehend verworfen worden. Doch dann muss man an Lynch denken. Er ist unersetzlich als Filmemacher, der als eine Gegenkraft zum Moloch der banalen Mainstream-Filme bezeichnet werden könnte. Ein Regisseur, dessen verwirrende und spektakuläre Filme selbst bei denen, die von dem, was sie sahen, völlig verwirrt waren, zuverlässig ein Publikum fanden. Das ist wohl das Seltenste beim Filmemachen: die Kraft, die Menschen überhaupt erst zu Cineastinnen und Filmkritikern zu machen – sie wollen verstehen, warum sie von diesen Bildern so überwältigt sind, die sie nicht sofort rational erfassen können. Danke für alles, David Lynch. Und auch wenn wir es nicht in angemessene Worte fassen können: Wir werden Dich sehr vermissen.
Eileen Jones ist Filmkritikerin bei JACOBIN, Autorin von »Filmsuck, USA« und Moderatorin des Podcasts »Filmsuck«.