06. Juli 2024
Dawid Rjasanow war ein Pionier der Marx-Engels-Forschung. Doch als Dissident in der Sowjetunion fiel er den Stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Sein Lebenswerk – die Publikation des Gesamtwerks von Marx und Engels – blieb zeit seines Lebens unvollendet.
Porträt von Dawid Rjasanow um 1923.
gemeinfreiIm Jahr 1870 wurde Dawid Rjasanow, eine der engagiertesten, empathischsten und relevantesten Persönlichkeiten des Marxismus in eine wohlhabende jüdische Familie aus Odessa geboren. Odessa war die Heimat einer großen jüdischen Gemeinde – im Jahr 1897 waren 37 Prozent der dortigen Bevölkerung jüdisch – und hatte am schrecklichsten unter den zaristischen Pogromen zu leiden. Rjasanow war ein nom de guerre, den er anstelle seines echten Nachnamens, Goldendach, annahm, als er sich der revolutionären Bewegung gegen das absolutistischen Regimes verschrieb.
»Rjasanows Hinrichtung führte dazu, dass innerhalb der Grenzen eines Staates, der in Marx' Namen gegründet worden war, keine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinem Werk mehr stattfand.«
Rjasanow war ein exzentrischer, sprunghafter und romantischer Gelehrter, mit einer unbegrenzten Arbeitsfähigkeit. Leo Trotzki bezeichnete ihn als »unfähig zu Feigheit und Plattitüden« und fügte hinzu, »jede demonstrative Zurschaustellung von Loyalität widerte ihn an«. Für Anatoli Lunatscharski war er »ohne jeden Zweifel der gelehrteste Mann unserer Partei«. John Reed, Autor von Zehn Tage, die die Welt erschütterten, beschrieb ihn als »eine unablässig widersprechende Ein-Mann-Opposition«.
Nach der Oktoberrevolution übte Rjasanow öffentlich Kritik an vielen von der Sowjetregierung unternommenen Maßnahmen, wie der Vollstreckung der Todesstrafe und der Einführung des Ein-Parteien-Systems. Trotz der Kritik blieb er Mitglied der herrschenden bolschewistischen Partei und baute ein staatlich gefördertes Institut zum gründlichen Studium der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels auf.
Schließlich fiel Rjasanow jedoch Josef Stalins Diktatur zum Opfer und wurde auf Grundlage erfundener Vorwürfe 1938 hingerichtet. Seine Hinrichtung führte dazu, dass innerhalb der Grenzen eines Staates, der in Marx' Namen gegründet worden war, keine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinem Werk mehr stattfand.
Rjasanow war ein geborener Revolutionär. Mit vierzehn war er bereits »Geheimkurier« für die Narodniki. Verhaftet wurde er zum ersten Mal 1887. Im Gefängnis übersetzte er die Schriften von David Ricardo. 1889 nahm er am Kongress der Sozialistischen Internationale statt, wo er mit sozialistischen Berühmtheiten wie August Bebel, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Rudolf Hilferding in Kontakt kam.
Im Jahr 1892 wurde er zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt und nach Chișinău ins Exil geschickt; im darauffolgenden Jahr floh er mit seiner Frau ins Ausland. Im Exil gründete er die Borba (»Kampf«) Fraktion, womit er außerhalb der zwei Haupttendenzen des russischen Marxismus, den Bolschewisten und Menschewisten, stand. Er kehrte während der Revolution von 1905 nach Russland zurück, wurde 1907 wieder verhaftet und ging danach ins europäische Exil.
Die folgenden zehn Jahre lebte er im Westen, wo er sich ganz dem Schreiben über die Geschichte des Anarchismus, des Sozialismus und der Arbeiterbewegung hingab. Seine Arbeiten über Marx, das zaristische Russland, Engels und die Polen-Frage wurden auf Deutsch und später auch auf Russisch veröffentlicht. Seine Freundschaft zu Bebel und Kautsky ermöglichte ihm den freien Zugang zur Bibliothek der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und den Manuskripten von Marx und Engels.
Kautsky schlug Rjasanow vor, über die Geschichte der Ersten Internationale zu schreiben: »Du hast wie kein anderer ein Verständnis über die internationalen Beziehungen, bist Experte unserer sozialistischen Literatur.« Rjasanow schrieb 1914 den ersten Band, während der Überarbeitung der Korrekturen brach der Erste Weltkrieg aus, wodurch die Veröffentlichung verhindert wurde. Der Band erschien schlussendlich 1925.
Rjasanow arbeitete kontinuierlich an den Rahmenbedingungen für eine Marx-Engels-Gesamtausgabe [MEGA]. Bei einer Geheimkonferenz in Wien 1910 wurde zum ersten Mal der Vorschlag für eine Gesamtausgabe unterbreitet. Rjasanow erstellte den groben Rahmen des Plans. Seine enge Beziehung zu Marx’ Tochter Laura Lafargue gab ihm die Möglichkeit, die Familienarchive und persönlichen Korrespondenzen zu durchforsten.
1917 gelang es ihm, zwei Bände mit Schriften von Marx und Engels aus den 1850ern zu veröffentlichen. Die Bände umfassten 250 unbekannte Artikel aus Zeitungen wie der New-York Tribune und dem People’s Paper. Insgesamt veröffentlichte er zwischen 1905 und 1917 hunderte Pamphlete, Artikel, Bücher, Essays, Präsentationen, Notizen und andere Originaltexte von oder über Marx und Engels. Diese Veröffentlichungen bildeten die Grundlage für die spätere MEGA.
»Im Vorfeld der Oktoberrevolution sprach sich Rjasanow gegen den von Lenin propagierten Plan zu einem bewaffneten Aufstand aus, da er diesen als Putsch ansah.«
Die Grundidee war, die materialistische Geschichtsbetrachtung auf die Studien von Marx und Engels selbst anzuwenden, und sie als Persönlichkeiten zu behandeln, die dialektisch mit den objektiven historischen Kräften und Strukturen interagierten. Rjasanow Ziel war es, Gesamtausgaben zu veröffentlichen und diese mit Einführungen, Zitaten und Registern zu versehen. Zu diesem Zeitpunkt hätte eine Zeitgenossin behaupten können, dass Rjasanow »die Punkte und Kommata der Schriften von Marx und Engels kennt«.
Während seiner Zeit im Exil hatte Rjasanow nie seine Rolle als politischer Aktivist aufgeben. Als 1914 der Krieg ausbrach, nahm er an der Zimmerwalder Konferenz der antimilitaristischen Sozialisten teil, nachdem die Sozialistische Internationale kollabiert war. Bei Ausbruch der Februarrevolution 1917 befand er sich in der Schweiz und kehrte im Mai nach Russland zurück. In einem Brief informierte er die Kautskys über seine Abreise: »Geliebte Freunde! Lebt Wohl! Ich bin wieder auf Reise. Marx und die Wissenschaft müssen jetzt auf andere Weise praktisch werden.«
Zurück in Russland trat er der Meschrajonzy Gruppe bei, deren bekannteste Persönlichkeit Trotzki war. Im Sommer 1917 verschmolzen die Meschrajonzy mit Lenins Bolschewiki. Im Vorfeld der Oktoberrevolution wurde Rjasanow zu einem der bekanntesten Redner und Gewerkschaftsaktivisten. Er wurde zum Präsidenten des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses gewählt und wurde führendes Mitglied des Zentralen Gewerkschaftsrats in Russland.
Im Vorfeld der Oktoberrevolution sprach sich Rjasanow gegen den von Wladimir Lenin propagierten Plan zu einem bewaffneten Aufstand aus, da er diesen als »Putsch« ansah. Nach der Machtübernahme der Bolschewiki arbeitete er im Volkskommissariat für Bildung (NARKOMPROS) unter der Leitung von Anatoli Lunatscharski. In vielen wichtigen Fragen wich er von der Linie der bolschewistischen Führung ab. So war er Anfang 1918 gegen die Auflösung der konstituierende Versammlung, die Todesstrafe und sprach sich für ein Mehrparteiensystem aus. Er stellte sich außerdem gegen den Vertrag von Brest-Litowsk, der den Krieg mit Deutschland beendete.
In der Gewerkschaftsfrage verteidigte Rjasanow die Unabhängigkeit der Gewerkschaften. Als Idealist kämpfte er für die freie Meinungsäußerung innerhalb der Partei. Sein intellektuelles und militantes Ansehen sorgte dafür, dass niemand die Autorität besaß, ihn zu zensieren oder auszuschließen – nicht einmal Lenin. Dennoch wurde er Schritt für Schritt neutralisiert.
»Rjasanow glaubte, dass der Marxismus nicht isoliert von seinem historisch-materiellen Kontext verstanden, geschweige denn erneuert werden könnte.«
Während des Parteitags 1924 erklärte er: »Ohne das Recht und die Verantwortung unsere Meinung frei zu äußern, kann dies nicht Kommunistische Partei genannt werden.« In einer Rede am Institut der Roten Professur gab er das folgende Credo aus: »Ich bin kein Bolschewist, ich bin kein Menschewist und ich bin kein Leninist. Ich bin nur Marxist, und als Marxist bin ich Kommunist.«
Das Zentralkomitee schlug 1920 vor ein »Museum des Marxismus« zu schaffen. Rjasanow schwebte etwas anderes vor: ein Forschungsinstitut, ein Labor in dem Historikerinnen und Aktivisten die Entstehung, Theorie und Praxis des Marxismus studieren könnten. Lenin genehmigte 1921 die Gründung des Marx-Engels-Institut (MEI), das im Moskauer Dolgorukow-Palast untergebracht wurde.
Rjasanow glaubte, dass der »Marxismus« (wenn sowas überhaupt existiert) nicht isoliert von seinem historisch-materiellen Kontext verstanden, geschweige denn erneuert werden könnte. Das MEI sollte marxistische Klassiker in den Kontext des Anarchismus, des Sozialismus und der europäischen Arbeiterbewegung setzen und erforschen. Dem autoritären Geist, der sich in der bolschewistischen Partei ausbreitete, erlag der Direktor des MEI nicht.
Am Marx-Engels-Institut schuf Rjasanow ein internationales Netzwerk von Korrespondenten, die in allen europäischen Hauptstädten seltene Bücher und Manuskripte suchen und erwerben sollten. Laut den Bilanzen von 1925 beinhaltete das Bücherlager 15.628 Bände. Zwischen 1925 und 1930 stieg die Anzahl von Originalkopien von 40.000 auf 175.000 an. Darunter waren 55.000 Dokumente, die entweder von Marx oder Engels geschrieben wurden.
Im Jahr 1930 gehörten 450.000 Bände zur Bibliothek des MEI. Rjasanows Arbeit und die finanzielle Unterstützung, die er dafür sichern konnte, verdeutlichen den Rückhalt, den er vonseiten des bolschewistischen Apparats genoss. Nicht nur Lenin, sondern auch Lew Kamenew, Nikolai Bucharin und Michail Kalinin unterstützen ihn vorbehaltlos.
»Innerhalb von zehn Jahren hatte Rjasanow das MEI zum globalen Zentrum der Marx-Studien und der europäischen Sozialgeschichte gemacht.«
Rjasanow setzte unverzüglich seinen Plan um, die gesammelten Werke von Marx und Engels zu veröffentlichen. Er reiste 1923 nach Berlin, um einen Kooperationsvertrag mit dem Parteiarchiv der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu unterschreiben. Auf dem fünften Kongress der Kommunistischen Internationale 1924, präsentierte er seinen Plan für das MEGA-Projekt:
»Unsere Hauptaufgabe ist es, eine vollständige und technisch perfekte Ausgabe im Umfang einiger tausender Kopien für alle großen Bibliotheken zu erstellen. Aber wir haben noch eine weitere Aufgabe vor uns, die nicht weniger wichtig ist. Wir können nicht erwarten, dass eine Ausgabe von fünfzig Bänden (weniger als das wäre kaum möglich) für jedermann zugänglich ist. Wir müssen eine Auswahl der Werke von Marx und Engels für alle Länder erstellen. Diese Auswahl wird die allermeisten wichtigen Arbeiten von Marx und Engels enthalten und alle Phasen der intellektuellen Entwicklung wiedergeben. Der erste Teil, der allgemeine Teil, soll eine Ausgabe für alle Länder sein. Dann kommt der zweite Teil, der den nationalen Bedingungen der verschiedenen Länder angepasst werden muss.«
Ein weiteres Ziel von Rjasanow war die Veröffentlichung einer ausführlichen intellektuellen Biografie von Marx. Es war ihm nicht möglich diese Arbeit zu vollenden, obwohl er 1923 eine Einführung in das Leben und Denken von Marx und Engels und eine Sammlung von Essays mit vorrevolutionären Schriften veröffentlichte.
Rjasanow erhielt 1927 den Lenin-Preis und wurde später vollwertiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Es schien, als hätte er 1930 den Höhepunkt seiner Karriere als international anerkannte Persönlichkeit erreicht.
Innerhalb von zehn Jahren hatte er das MEI zum globalen Zentrum der Marx-Studien und der europäischen Sozialgeschichte gemacht. Das Institut war ein Mekka für Forschende aus der ganzen Welt, so auch für den US-Philosophen Sidney Hook und Friedrich Pollock von der Frankfurter Schule in Deutschland. Bekanntheiten wie Clara Zetkin, Emile Vandervelde und Henri Barbusse besuchten das Institut.
Victor Serge zeichnete in seinen Memoiren folgendes Bild von Rjasanow:
»In der bolschewistischen Partei wurde sein unabhängiger Geist respektiert. Er war der Einzige, der beständig seine Stimme gegen die Todesstrafe erhoben hat, sogar während dem Terror verlangte er unaufhörlich die strikte Begrenzung der Rechte der Tscheka und des OGPU. Häretiker aller Art, menschewistische Sozialisten oder Oppositionelle von links und rechts fanden Frieden und Arbeit an seinem Institut, solange sie eine Liebe zum Wissen hatten. Er war immer noch derjenige, der mitten in einer Konferenz aufstand und sagte: ›Ich bin nicht einer dieser Bolschewisten, die Lenin zwanzig Jahre lang wie alte Schwachköpfe behandelt hat.‹«
Serge beschrieb den Eindruck den Rjasanow machte, als er ihn das erste Mal selbst mitbekam: »Korpulent, starke Arme, dicker weißer Bart, angespannter Blick, olympische Stirn, stürmisches Temperament, ironische Sprache.«
Stalin besuchte 1927 das Institut. Als er die Portraits von Marx, Engels und Lenin sah, fragte er: » Wo ist mein Portrait?« Rjasanow antwortete: »Marx und Engels sind meine Lehrer; Lenin war mein Genosse. Aber was bist du für mich?« Bei einem Parteitag sagte er 1929: »Das Politbüro braucht keine Marxisten mehr.« Er nahm nicht Teil am Personenkult um Stalin und wählte seine Partner auf Grundlage ihrer wissenschaftlichen Fähigkeiten. Er kontaktierte sogar Trotzki, der sich im inneren Exil befand, um ihn zu fragen, ob dieser sich Übersetzungen ansehen und die MEGA-Drucke korrigieren könne.
Die sowjetische Presse feierte 1930 Rjasanows sechzigsten Geburtstag als nationales Event, zu seinen Ehren wurde sogar eine Festschrift herausgegeben. Nikolai Miljutin verglich jeden Band, der vom MEI veröffentlicht wurde, mit »einer Bombe, die über den Köpfen derjenigen explodiert, die den Marxismus verzerren, pervertieren und verfälschen«.
Ein offizielles Statement des Zentralkomitees, das von Stalin unterzeichnet wurde, pries Rjasanow als »unermüdlichen Kämpfer für den Sieg der Ideen der großen Meister des internationalen Proletariats; Marx, Engels und Lenin« an. Parteizeitungen beschrieben ihn als »den bedeutendsten Marxologen unserer Zeit«, einen Mann, »der mehr als vierzig Jahre seines Lebens der Sache der Arbeiterklasse« gewidmet hat und »ein wissenschaftliches Institut, dass der Stolz unserer revolutionären Wissenschaft ist, organisiert hat«.
Die Publikation der Kommunistischen Internationale, Inprekorr, bezog sich auf Rjasanow als »den wichtigsten und anerkanntesten marxistischen Gelehrten unserer Zeit«. Trotz des Pomps verschoben sich die tektonischen Platten der Fraktionskämpfe jedoch gegen ihn. Stalin hatte längst angefangen eine jüngere Gruppe von Akademikern zu rekrutieren, um gegen »all den Mist, der sich in der Philosophie und der Naturwissenschaften ansammelt«, vorzugehen. Auch Rjasanow wurde im Zuge der Kampagne auf die Abschussliste gesetzt: »Wir dürfen nicht vergessen, dass wir Rjasanows Abgang vom MEI bewirken müssen.«
Im Dezember 1930 begann eine groß angelegte Operation der Geheimpolizei (OGPU), die ein angebliches Zentrum von ehemaligen Menschewisten in der staatlichen Verwaltung ins Visier nahm. Ihnen wurde vorgeworfen, die Sowjetökonomie in den Bankrott führen zu wollen. Einer der ersten Verhafteten war Isaak Iljitsch Rubin, ein Historiker und Ökonom am Marx-Engels-Institut. Auf Druck seiner Vernehmer legte Rubin ein falsches Geständnis ab. Rjasanow wurde beschuldigt menschewistische Korrespondenz und anti-sowjetische Dokumente zu verstecken, die ihm Rubin übergeben haben soll.
Rjasanow war außer sich, als er von Rubins Verhaftung hörte, und verlangte ein Treffen mit Stalin. Als er am 12. Februar 1931 im Kreml ankam, wartete Stalin bereits auf ihn, gemeinsam mit seinen treuen Verbündeten Wjatscheslaw Molotow und Lasar Kaganowitsch, sowie dem Chef des OGPU, Wjatscheslaw Menschinski.
»Als Stalins Großer Terror begann, wurde Rjasanow in der Nacht des 22. Juli 1937 verhaftet.«
Rjasanow forderte Rubins Geständnis zu sehen, oder die angeblichen menschewistischen Dokumente, die nie aufgetaucht sind. Stalin wiederum forderte die Herausgabe der Dokumente, die Rjasanow angeblich versteckt habe. Dieser erwiderte, es gäbe im Archiv des Instituts keine derartigen Dokumente: »Du wirst sie nirgendswo finden, es sei denn, du hast sie selbst dorthin gebracht.«
Der OGPU steckte Rjasanow ins Moskauer Lubjanka Gefängnis und beschuldigte ihn Pakete von einem erfundenen »Internationalen Menschewistischen Zentrum« empfangen zu haben. Das Politbüro entfernte ihn von seinem Posten als Direktor des Marx-Engels-Institut. Ebenso wurden 131 der 243 Angestellten des Instituts entlassen. Im April 1931 entschied die OGPU, Rjasanow auf Grund seines Gesundheitszustands ins Exil nach Saratow an der Wolga zu schicken.
Zum Zeitpunkt von Rjasanows Untergang waren lediglich elf der vorgenommenen zweiundvierzig MEGA-Bände erschienen. Sieben weitere befanden sich in Arbeit, ebenso wie die bis dahin noch unbekannten Grundrisse.
Rjasanow wurde vom Apparatschik Wladimir W. Adoratski als Direktor des MEI ersetzt. Im Jahr von Rjasanows Verhaftung bezeichnete Adoratski die redaktionelle Arbeit seines Vorgängers in einer Rede als »einen direkten Verrat an der Sache des Proletariats«. Er bezichtigte ihn, die Veröffentlichung »der Werke als Marx und Engels noch Junghegelianer waren«, bevorzugt zu haben.
Einige der von Rjasanows Team begonnenen Arbeiten wurden unter seinem Nachfolger weitergeführt, so wurden zwischen 1931 und 1936 auch sechs Bände veröffentlicht, die am Institut bereits vorbereitet worden waren. Die Arbeit an den Publikationen kam zum Stillstand, als sich 1936 die Säuberungen intensivierten. Die separate Veröffentlichung der Grundrisse 1940 leitete das Ende ein. Stück für Stück ersetzte Stalin die kritisch-historische Verlagsarbeit mit einer Reihe isolierter und vereinzelter Veröffentlichungen. Jegliche freie und sachliche marxistische Wissenschaft fand in der UdSSR ihr Ende.
Währenddessen lebte Rjasanow an den Ufern der Wolga, wo er dem Elend und dem Hunger ausgesetzt war und mental wie physisch verfiel. Bibliotheken und Verlage wurden angewiesen, seine Arbeiten und Veröffentlichungen zu beseitigen, um alle Spuren der Person auszulöschen, die im vermeintlich ersten marxistischen Staat das Studium von Marx und Engels institutionalisiert hatte.
»Erst im März 1990, während des Niedergangs der Sowjetunion, wurde Rjasanow posthum wieder in die Akademie der Wissenschaften der UdSSR aufgenommen.«
Mit der Übersetzung kleinerer Texte für örtliche Universitäten konnte er kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten, seine geringen Rationen teilte er während der Hungersnot von 1932-33 mit bedürftigen Menschen. Das Politbüro erlaubte es Rjasanow 1934 kurzzeitig nach Moskau zu reisen, um sich um seine kranke Frau zu kümmern. Laut Kalinin, seinem früheren Beschützer und Bewunderer, bot Stalin Rjasanow einen Kompromiss an, der darin bestand, dass Rjasanow ein öffentliches Reuegeständnis ablegen sollte, in dem er seine Mitschuld an der »menschewistisch-trotzkistischen« Verschwörungen eingestehen sollte. Im Gegenzug sollte er vollständig rehabilitiert werden.
Rjasanow lehnte dies ab und verlangte eine sofortige Revision seines Falls. Als Stalins Großer Terror begann, wurde Rjasanow in der Nacht des 22. Juli 1937 verhaftet. Die Aufzeichnungen seines Verhörs beim Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD) zeigen, dass Rjasanow sich weigerte das Spiel der Denunziation gegen angebliche Spione und Verräter mitzuspielen. Immer wieder wies er die falschen Anschuldigungen gegen ihn zurück.
Am 19. Januar 1938 veröffentlichte der Generalstaatsanwalt in Saratow eine sechsseitige Anklageschrift gegen Rjasanow: Neben anderen Anschuldigungen wurde er der »extremen persönlichen Feindseligkeit gegen Genosse Stalin« bezichtigt. Am 21. Januar wurde sein Prozess hinter verschlossenen Türen verhandelt. Die Verhandlung dauerte kaum fünfzehn Minuten. Er wurde wegen der angeblichen Mitgliedschaft in einer »trotzkistischen Terrororganisation« und der »Verbreitung von verleumderischen Interventionen gegen die Partei und die Sowjetmacht« zum Tode verurteilt und noch am selben Tag exekutiert.
Seine Frau Anna Lwowna wurde ebenfalls verhaftete und in einen Gulag gesperrt. Ohne je vom Schicksal ihres Ehemanns erfahren zu haben, wurde sie 1943 freigelassen. Im Juli 1957 schrieb sie einen Brief an Nikita Chruschtschow, worin sie sich nach dem Verbleib ihres Mannes erkundigte. Beide Rjasanows wurden 1958 offiziell rehabilitiert. Erst im März 1990, während des Niedergangs der Sowjetunion, wurde Rjasanow posthum wieder in die Akademie der Wissenschaften der UdSSR aufgenommen.
Am Tag nach seiner Exekution kamen NKWD-Agenten zu seiner bescheidenen Datscha, um seinen persönlichen Besitz zu konfiszieren, und zu zerstören, was als nutzlos angesehen wurde. Sie luden alle seine Bücher in einen Lastwagen, schmissen seine verbliebenen Papiere und Notizen, mit allem, was sich auf seinem Schreibtisch befand, auf den Boden und entzündeten ein Feuer.
Darunter befand sich auch ein Portrait des jungen Engels, mit einer Inschrift von Marx’ Tochter, Laura Lafargue, mit der er vor dem Krieg zusammengearbeitet hatte. »Wer ist das?« fragte einer der Milizionäre Rjasanows Enkelin. »Das ist Friedrich Engels«, antwortete sie. »Und wer ist Engels?« erwiderte der NKWD-Mann, während er das Foto in die Flammen warf.
Nicolás González Varela ist Essayist and Übersetzer.