21. Februar 2022
Während Immobilienpreise absurde Höhen erreichen, planen Finanzinvestoren schon die nächste Offensive in die europäischen Wohnungsmärkte – eine tickende Zeitbombe für alle, die zur Miete wohnen.
Straßenzug im Berliner Stadtteil Moabit, 31.01.2020.
Der erfolgreiche Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen in Berlin war das bislang deutlichste Signal gegen die Übereignung von Wohnraum an die Finanzmärkte. Obwohl der Widerstand gegen die Finanzialisierung von Wohnraum wächst, setzen viele Politikerinnen und Politiker weiterhin auf eine »Kooperation statt Konfrontation« mit dem Finanzkapital. Das zeigte sich erst kürzlich wieder, als Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) den börsennotierten Immobilienriesen Vonovia zum eigens initiierten »Runden Tisch für Wohnungsneubau und bezahlbare Mieten« einlud.
Den europäischen Wohnungsmärkten droht ein neues »Zeitalter der institutionellen Vermieter«, warnt eine neue Studie, die von der Fraktion der Grünen im Europaparlament in Auftrag gegeben wurde. Denn angesichts niedriger Erträge für Staatsanleihen leiten institutionelle Investoren auf der Suche nach lukrativen Anlagen immer mehr Kapital von den Finanzmärkten in die Wohnungs- und Immobilienmärkte, wodurch die Miet- und Hauspreise weiter in die Höhe schießen. Zukünftig könnte sich das Finanzkapital verstärkt im Wohnungsbau engagieren – und wird dabei von der Politik mit offenen Armen empfangen.
Die Ökonomin Daniela Gabor und der Soziologe Sebastian Kohl haben in ihrer neuen Studie das Ausmaß der finanzialisierten Wohnungswirtschaft in Europa beleuchtet und untersucht, wie die Politik zu ihrem Aufstieg beitrug. Zur Vermessung des finanzialisierten Wohnungssektors in Europa haben Gabor und Kohl umfangreiches Material aus der Datenbank Preqin ausgewertet und graphisch aufbereitet.
Innerhalb des finanzialisierten Sektors lassen sich zwei verschiedene Akteursgruppen unterscheiden: Vermietende Unternehmen und kapitalgebende Investoren. Zu den institutionellen Vermietern zählen börsennotierte Immobilienaktiengesellschaften, Private-Equity-Unternehmen und Real Estate Investment Trusts (REITs). Einer der weltweit größten Finanzinvestmentgesellschaften, der Private-Equity-Fonds Blackstone, hält rund 730 Milliarden US-Dollar in seinen Portfolios, wovon etwa 230 Milliarden Dollar in Immobilien angelegt sind. Banken, öffentliche Pensionskassen, private Rentenfonds, Stiftungen, Family Offices und Versicherungsgesellschaften gehören als institutionelle Investoren zu den Kapitalgebern im undurchsichtigen Netz der finanzialisierten Wohnungswirtschaft. Sie kaufen die Anleihepakete und Aktien institutioneller Vermieter, im Gegenzug winken hohe Dividenden und Zinsen. Zudem halten viele institutionelle Akteure große Pakete an Hypothekendarlehen, die sie in den Jahren nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von privaten Eigentümerinnen erwarben – nach 2008 verschleuderten kriselnde Banken massenhaft faule Immobilienkredite an sogenannte »Geierfonds« wie Cerberus und Blackstone.
Gabor und Kohl schätzen den Wert europäischer Immobilienportfolios im Besitz institutioneller Investoren auf gigantische 2 Billionen US-Dollar. Darunter fallen neben Wohnimmobilien auch Gewerbeimmobilien, Industrieanlagen oder Hotels. Der genaue Wert der verwalteten Wohnimmobilien lässt sich nur schwer beziffern, da viele Investoren diese nicht separat ausweisen. Allein beim Spitzenreiter Berlin liegt er laut Gabor und Kohl bei 42 Milliarden Euro. London und Amsterdam folgen mit 27,7 Milliarden und 24,4 Milliarden Euro.
Da die Transaktionen und das Anlagevolumen weiter zunehmen, wird immer mehr Kapital in die Immobilienmärkte gespült – im bisherigen Rekordjahr 2019 lag die Summe bei 64 Milliarden Euro. Auch im Corona-Jahr 2020 ging das Anlagevolumen bedingt durch die Kapitalflucht ins vermeintlich sichere Betongold kaum zurück. In der Folge steigen Immobilienwerte in astronomische Höhen. Deutschland belegt bei den Deals mittlerweile die Spitzenposition in Europa, sowohl was die Zahl der Transaktionen als auch die Summe des investierten Kapitals anbelangt.
Dem ungeheuren Anlagevolumen steht jedoch keine realwirtschaftliche Wertschöpfung gegenüber – eine der Eigenheiten der Finanzialisierung. Gabor und Kohl zeigen, dass die Eigentumsquote in weiten Teilen Europas seit Jahren stagniert und teilweise sogar zurückgeht, während die Verschuldungsquote privater Haushalte aufgrund der steigenden Immobilienpreise stark gestiegen ist. Für Mieterinnen und Mieter erhöht jede Transaktion den Verwertungsdruck, der auf ihrem Zuhause lastet und der zu steigenden Mieten führt.
Bislang besitzen Finanzinvestoren nur einen Bruchteil der gesamten europäischen Wohnungsmärkte. Einzelne Akteure sind aufgrund des Trends zur Monopolisierung jedoch zu großen Playern herangewachsen. Blackstone besaß Ende 2020 europaweit rund 117.000 Wohneinheiten, davon auch mehr als 3.500 in Berlin. Die börsennotierte Immobilienaktiengesellschaft Vonovia hat nach der Fusion mit der Deutsche Wohnen mehr als 500.000 Wohnungen in ihrem Bestand und ist damit der größte Wohnungskonzern Europas. In Metropolen wie Berlin, Amsterdam, Paris, Dublin, Madrid oder Kopenhagen verfügen institutionelle Akteure bereits über eine gewisse Marktmacht und erschweren zunehmend eine stärkere politische Regulierung der Wohnungsmärkte. Laut einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung sind allein in Berlin 330.000 Wohnungen im Besitz der finanzialisierten Immobilienwirtschaft.
Die institutionellen Vermieter setzen in der von Gabor und Kohl als »Finanzialisierung 2.0« beschriebenen Phase auf eine längerfristige Bewirtschaftung ihrer Immobilienbestände. Die Verwertungsstrategien reichen dabei von kontinuierlichen Mietsteigerungen, Neuvermietungen zu Höchstpreisen, massenhaften Modernisierungen bis zu gezielten Verkäufen. Manche Akteure versuchen über Insourcing, also die Wiedereingliederung ehemals ausgegliederter Dienstleistungen wie Hausmeisterdienste oder Reperaturservices, neue Verwertungsfelder zu erschließen.
Hinzu kommen die sogenannten Buchwertgewinne, die die Unternehmen aus einer stetigen Höherbewertung ihres Immobilienbesitzes erzielen. Dabei geben sie auf Basis wachsender Ertragserwartungen, in Form von steigenden Preisen und erhöhten Mieteinnahmen, neue Anleihen und Kredite aus. »Immobilien eignen sich für solche Finanzanlagen in besonderer Weise, weil die den Preis der Immobilien bestimmenden Grundrenten auf ebensolchen Erwartungen von potenziellen Erträgen in der Zukunft beruhen«, schreibt der Stadtsoziologe Andrej Holm in seinem neuen Buch Objekt der Rendite. Kalle Kunkel, einer der Sprecher der Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen, hat errechnet, dass sich der Schuldenstand der Deutsche Wohnen durch dieses Kettenbriefsystem seit 2014 von etwa 5,1 Milliarden Euro auf 10,8 Milliarden Euro mehr als verdoppelt hat und warnt vor einer tickenden Zeitbombe für die Mieterinnen und Mieter.
Eine neue Strategie ist das »Build to rent«, also der Neubau von Wohnungen zur anschließenden Vermietung. So kündigte Vonovia Chef Rolf Buch im Sommer des vergangenen Jahres den Bau von 13.000 Wohnungen in Berlin an. Auch in Hamburg plant die Vonovia Tochter Buwog ein Quartier mit rund 1.000 Neubaueinheiten. Gabor und Kohl warnen davor, dass die finanzialisierte Wohnungswirtschaft an die Stelle von gemeinnützigen Wohnungsunternehmen, wie etwa kommunale Wohnungsbaugesellschaften, treten könnte, um sich zukünftig noch stärker im Wohnungsbau zu engagieren. Selbst das geförderte Segment wird aufgrund fehlender Alternativen zunehmend zur attraktiven Anlagesphäre für langfristig orientierte institutionelle Investoren, wie Versicherungen, Pensionskassen und Versorgungswerke.
Auf einer Veranstaltung mit Immobilienvertretern sagte Arnaud Ahlborn, Geschäftsführer der Fondsgesellschaft Industria Wohnen: »Gefördertes Wohnen ist eine relativ neue Produktsparte mit noch sichereren Mieten und stabiler Wertentwicklung. Vor wenigen Jahren war gefördertes Wohnen für viele Anleger eine kleinere Beimischung. Das hat sich aus unserer Sicht vollständig verändert. Heute wollen Anleger einen Anteil von 30 bis 40 Prozent gefördertes Wohnen in einem Fonds.«
In der Politik trifft dieses Interesse auf offene Ohren, wie sich derzeit in Berlin beobachten lässt. Dort will der neue Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) den geförderten Wohnungsbau verstärkt durch private Träger vorantreiben und die Förderbedingungen für private Investoren verbessern, statt den kommunalen Wohnungsbau zu stärken, um dadurch den Bedarf an sozialem Neubau decken zu können.
Die Corona-Pandemie könnte die Partnerschaft zwischen der Politik und dem Finanzkapital weiter verfestigen. Austeritätspolitik und ökonomische Krisen bieten dem Finanzkapital enorme Möglichkeiten des Machtzuwachses. Das ließ sich bereits vor und nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 beobachten. In den Hochphasen der neoliberalen Austeritätspolitik in Deutschland war es der Staat, der den Aufstieg der finanzialisierten Wohnungswirtschaft durch den politisch forcierten Rückzug aus der aktiven Wohnungspolitik, die Deregulierung der Finanzmärkte und die Privatisierungsorgien der 1990er und 2000er Jahre überhaupt erst ermöglichte. Ein Großteil der öffentlichen Wohnungsbestände, etwa in Berlin oder Dresden, wurde an Private-Equity-Fonds verscherbelt.
Nach dem Platzen der Immobilienblase im Jahr 2008 überließen die Staaten in Südeuropa den Finanzinvestoren abermals das Feld. Diese erwarben als »antizyklische Kräfte« in großem Stil Pfandbriefe strauchelnder Banken, für die Hypothekenkredite als Sicherheiten dienten und machten so Private-Equity-Fonds zu den Gläubigern hochverschuldeter Kleineigentümerinnen und Kleineigentümer in Irland, Spanien oder Griechenland.
Gabor und Kohl warnen angesichts der hohen öffentlichen Schuldenaufnahme während der Corona-Pandemie vor einer Rückkehr der Austeritätspolitik. Dabei könnte sich das Finanzkapital erneut als Retter in der Not und Partner der Politik im Wohnungsbau anbieten.
Um einen weiteren Finanzialisierungsschub auf den Wohnungs- und Immobilienmärkten zu verhindern, setzen Gabor und Kohl auf mehr Regulierung der zentralbanklichen Wohnfinanzierung, eine aktivere Rolle des Staates in der Wohnungspolitik und eine soziale Taxonomie für Wohnungsinvestitionen. Sie schlagen dabei einen europäischen Wohnungsfonds vor, der im Krisenfall oder beim Platzen einer Immobilienblase Hypothekendarlehen strauchelnder Banken aufkaufen soll, um den Geierfonds zuvorzukommen. Darüber hinaus soll der Wohnungsfonds öffentliche Mittel für eine verstärkte Wohnungsbauförderung durch gemeinnützige Träger bereitstellen. Zudem plädieren sie für eine möglichst umfangreiche soziale Taxonomie: »Wohnungsfinanzprodukte, wie etwa REITs, Aktien oder Private-Equity-Fonds erhalten ein Label, das so etwas wie das soziale Risiko einer Investition anzeigt. Eine EU-Regulierung dieses Labels gibt über Auflagen an institutionelle Investoren diesem sozialen Risiko einen Preis, so dass ein Anreiz für kapitalnachfragende Wohnungsanbieter besteht, das soziale Risiko zu minimieren, also günstige, qualitative, wenig segregierte, sozial-ökologische Wohnformen anzubieten«, erklärt Sebastian Kohl.
Angesichts des Greenwashings von Atomenergie und Gas in der EU-Taxonomie warnen Gabor und Kohl vor einem »Socialwashing« bei der sozialen Taxonomie: »Ein Wohnungsunternehmen könnte sich z.B. schon deswegen sozial nennen, weil es den Zement für Neubau nur noch nachhaltig gewinnt, seine Zulieferer gut behandelt oder weil es Kitas für die Mitarbeiter anbietet, was aber noch nichts über Miet- und Wohnbedingungen der Mieter sagt.«
Noch ist nicht entschieden, ob die EU-Kommission tatsächlich eine soziale Taxonomie einführen wird. Die neoliberale Ausrichtung der EU-Kommission macht allerdings wenig Hoffnungen auf eine wirksame Regulierung durch eine soziale Taxonomie. Davon sind wohl auch Gabor und Kohl überzeugt. Die Option der Enteignung der finanzialisierten Wohnungswirtschaft durften sie jedoch mit Rücksicht auf ihre Auftraggeber, der Grünen-Fraktion im Europarlament, nicht als Vorschlag in ihren Bericht aufnehmen, wie Daniela Gabor andeutete. Spätestens seit dem erfolgreichen Volksentscheid im vergangenen September wird die Enteignung der Finanzhaie auf dem Wohnungsmarkt und die Vergesellschaftung ihrer an der Börse gehandelten Wohnungsbestände jedoch nicht mehr so schnell aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden.
Philipp Möller ist Redakteur des MieterEcho, der Zeitschrift der Berliner MieterGemeinschaft und Co-Host des Podcast »Schöner Wohnen«, der sich mit den Wohnungsfragen unserer Zeit beschäftigt.