03. Februar 2024
Eine neue Studie zeigt: Wer am Arbeitsplatz mitbestimmen kann, ist weniger rechtsextrem. Der Kampf gegen Rechts muss auch ein Kampf für die Demokratisierung der Wirtschaft sein.
Vincent van Goghs »Die Runde der Gefangenen«, 1890 (Detail).
Der Faschist ähnelt einem Radfahrer, »der sich nach oben bückt und nach unten drückt«. So fasste es einmal der Sozialpsychologe Erich Fromm zusammen. Wie viele klassische Psychoanalysen des Rechtsradikalismus beschreibt auch Fromm eine Mischung aus Aggression und Unterwerfung: Die rechte Gesinnung zelebriert Härte gegen Schwache. Doch ist sie zugleich oft Symptom einer tiefen Machtlosigkeit gegenüber den Autoritäten, die das eigene Leben beherrschen. In der Aggression gegen gesellschaftliche Außenseitergruppen wie Migrantinnen und Migranten, sexuelle Minderheiten oder Obdachlose – so die Interpretation – bricht sich auch eine Wut über jene Ohnmacht Bahn, zu der man selbst in der kapitalistischen Arbeitshierarchie verdammt ist.
Die neue Studie Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland, für die 3.000 Beschäftigte in Ostdeutschland befragt wurden, liefert nun Ergebnisse, die die Spekulationen aus dem psychologischen Ohrensessel zu bestätigen scheinen: Es zeigt sich ein robuster Zusammenhang zwischen rechtsextremen Einstellungen und dem Gefühl von Ohnmacht am Arbeitsplatz. Mit Erfahrungen von Handlungsfähigkeit in der Arbeitswelt, so der Befund, sinkt auch die Zustimmung zu rechten Aussagen, insbesondere die Muslim- und Ausländerfeindlichkeit. »Je mehr Mitbestimmung, desto weniger Nazi«, fasste es jüngst die Taz zusammen.
Gerade angesichts des Rechtsrucks im Osten sind die Ergebnisse der Studie von größter politischer Brisanz. Wie Jupp Legrand von der Otto-Brenner-Stiftung, die die Studie in Auftrag gab, in einem Vorwort schreibt, »weisen sie nach, dass Mitbestimmung und Beteiligung im Wirtschaftsleben als direkter Einsatz für die Demokratie verstanden werden müssen«.
Im Gespräch mit JACOBIN erklärt Andre Schmidt, Soziologe am Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig und Mitautor der Studie, wie Ohnmacht und Ressentiment zusammenhängen – und warum die demokratische Ermächtigung von Beschäftigten durch gewerkschaftliche Organisierung eine tragende Säule des Kampfs gegen Rechts sein muss.
In Eurer Studie untersucht Ihr, wie rechtsextreme Einstellungen mit der Erfahrung von Demokratie in der Arbeitswelt zusammenhängen. Was habt Ihr gefunden?
Unsere Analyse basiert auf den Leipziger Autoritarismus-Studien, die eine Art Barometer für rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen in Deutschland sind. Wir haben uns gefragt, wie Erfahrungen im Betrieb in diese Einstellungen mit reinspielen. Und ob wir hier auch einen Hebel finden, um dem Aufstieg der extremen Rechten etwas entgegenzusetzen.
Eine klassische These der Autoritarismusforschung ist ja, dass Ressentiments vor allem dort gedeihen, wo Menschen sich als ohnmächtig erleben. Deshalb haben wir untersucht, inwieweit Beschäftigte im Betrieb Erfahrungen von demokratischer Handlungsfähigkeit machen: Können sie mitbestimmen, zum Beispiel durch Betriebsräte und Gewerkschaften, und haben sie das Gefühl, im Unternehmen auch etwas verändern zu können? Können sie den eigenen Arbeitsalltag mitgestalten, haben sie als einzelne – aber auch kollektiv als Team oder Belegschaft – ein Mindestmaß an Kontrolle im Arbeitsalltag oder erleben sie sich vorwiegend als fremdbestimmt?
Unser Fokus lag 2023 auf den ostdeutschen Bundesländern. Hier hat sich statistisch gezeigt, dass Erfahrungen von demokratischer Handlungsfähigkeit am Arbeitsplatz rechtsextreme und menschenfeindliche Ansichten verringern. Sie gehen zudem mit größerer Zustimmung zur Demokratie einher und mit größerem Optimismus, auch in der Politik Einfluss nehmen zu können. Die Demokratie wird auch am Arbeitsplatz eingeübt.
»Die Mitbestimmung ist in Ostdeutschland vielerorts keine Selbstverständlichkeit. Die Jahrzehnte nach dem Strukturbruch der 1990er Jahre waren geprägt von der Einstellung, dass man froh sein kann, überhaupt Arbeit zu haben.«
Zugleich zeigen eure Befunde, dass Betriebsdemokratie für viele Beschäftigte keine Realität ist. Rund ein Viertel der ostdeutschen Beschäftigten befürchtet etwa Nachteile, würden sie auf der Arbeit offen über Gewerkschaften oder Betriebsräte reden. Ein weiteres Viertel ist sich unsicher. Was steckt dahinter?
Im ganzen Bundesgebiet gab es große Teile der Befragten, die von einem mitbestimmungsfeindlichen Klima berichten. Die größten Bedenken äußerten aber Beschäftigte in Sachsen und Thüringen.
Die Mitbestimmung ist in Ostdeutschland vielerorts keine Selbstverständlichkeit. Die Jahrzehnte nach dem Strukturbruch der 1990er Jahre waren geprägt von der Einstellung, dass man froh sein kann, überhaupt Arbeit zu haben. Man spricht vom »ostdeutschen Arbeitsspartaner«, der im Betrieb keine Ansprüche stellt und bereit ist, vieles in Kauf zu nehmen, um seinen Job zu behalten. Betriebe waren »Notgemeinschaften«, bei denen kein Blatt zwischen Geschäftsführung und Belegschaft passte, weil es die oberste Priorität war, den Standort zu erhalten.
Noch immer ist die Betriebsratsdichte und auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Ostdeutschland geringer als im Westen. Dazu kommt eine besondere ökonomische Struktur: In Sachsen gibt es beispielsweise nur wenige große Unternehmen, wie etwa in der Automobilindustrie, die gut organisiert sind. Ansonsten ist die Region geprägt von kleineren bis mittelständischen Familienbetrieben. Dort herrscht eine ganz andere Kultur – uns wird immer wieder berichtet, dass in diesen Betrieben ein autoritäres Führungsverständnis und mitbestimmungsfeindliches Klima dominiert. Auch das ist ein Hintergrund der Ängste, die sich in den Daten zeigen.
Laut Eurer Studie gibt es auch ein sehr starkes soziales Gefälle bei der gefühlten Handlungsfähigkeit. So stimmen viel mehr Beschäftigte mit Abitur als ohne der Aussage zu, dass sie im Betrieb etwas zum positiven verändern können.
Alle Befunde weisen darauf hin, dass die Klassenlage einen starken Einfluss hat. Vor allem Beschäftigte in geringer qualifizierten Tätigkeiten und im Niedriglohnsektor erleben sich demnach viel häufiger als machtlos und fremdbestimmt. Das scheint nicht verwunderlich, wenn man zum Beispiel an die digitalen Kontrolltechniken denkt, mit denen die Arbeit in den großen Logistikzentren überwacht wird. Das findet sich natürlich auch in anderen Industrien.
In einer Betriebsstudie haben wir streikende Niedriglohnarbeiterinnen und -arbeiter in einem sächsischen Lebensmittelkonzern begleitet. Dabei wurde deutlich, wie sich das Gefühl von Kontrollverlust, Einflusslosigkeit und Abwertung durch nahezu alle Lebensbereiche zieht. Sie berichteten von ihrem Arbeitsalltag, »auf Verschleiß« zu arbeiten, weil nicht in Maschinen und Personal investiert würde. Das Management erlebten sie als autoritär und abwertend. Wegen des niedrigen Lohns konnten sie sich keine »normalen« Einkäufe im Supermarkt mehr leisten, an Zukunftsplanung war nicht zu denken. Der geringe Lohn wurde für sie auch zum Symbol dafür, dass sie offenbar weniger wert seien und im gesellschaftlichen Gefüge insgesamt etwas im Argen liege.
Der Autoritarismus in der Betriebsorganisation übersetzt sich in einen Autoritarismus im politischen Denken?
Ganz so einfach ist es nicht. Wenn Menschen autoritäres Denken verinnerlichen, speist sich das aus verschiedenen Quellen. Als entscheidend gelten weiterhin Kindheit und familiäre Erziehung. Im Betrieb können autoritäre Veranlagungen aber entweder bekräftigt werden – oder es werden andere Handlungsoptionen deutlich, als sich rigide anzupassen, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten.
Sächsische Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben organisiert hatten, gestanden uns, dass sie erstmal lernen mussten, nicht runterzuschlucken und sich wegzuducken, wenn sie sich auf der Arbeit ungerecht behandelt fühlten. Und dass sie selbst etwas fordern und das sogar gemeinsam durchsetzen können. Das zeigt, wie tief diese Prägungen sitzen.
Man könnte ja vermuten, dass sich diese Beschäftigten einfach zurückziehen und resignieren. Stattdessen ist für einen immer größeren Teil der Rechtsextremismus eine Antwort. Warum?
Ohnmacht und Kontrollverluste zu erleben, ist für die meisten schwer auszuhalten. Es ist kaum zu vereinbaren damit, wie wir uns selbst sehen wollen und was die bürgerliche Gesellschaft von ihren Mitgliedern erwartet. Darauf hat schon Erich Fromm hingewiesen. Deshalb erleben wir das als massive Kränkung und es verunsichert uns.
»Weil sie im Alltag das genaue Gegenteil von dem erleben, was in den demokratiepolitischen Sonntagsreden propagiert wird, verwerfen die Leute dann alles, was mit Demokratie zu tun hat, und wenden sich pauschal ab – weil alles fake zu sein scheint.«
Rechtsextreme Ideologien machen Angebote, diese Kränkungen und Verunsicherungen zu kompensieren und gar nicht erst richtig zulassen zu müssen. Gruppen wie Ausländer oder Muslime werden abgewertet, um sich selbst im Gegenzug aufzuwerten. Die Idee einer Volksgemeinschaft verspricht bedingungslose Zugehörigkeit und Anerkennung. Deshalb sprach Fromm vom Autoritarismus als »Prothesen-Sicherheit«. Auch die Identifikation mit der starken deutschen Wirtschaft kann als »narzisstische Plombe« wirken, das beschreiben die Leipziger Autoritarismus-Studien seit längerem.
Teilweise ist der Schritt, die AfD zu wählen, aber auch Ausdruck eben dieser Resignation oder von einer Art politischem Nihilismus. Weil sie im Alltag das genaue Gegenteil von dem erleben, was in den demokratiepolitischen Sonntagsreden propagiert wird, verwerfen die Leute dann alles, was mit Demokratie zu tun hat, und wenden sich pauschal ab – weil alles fake zu sein scheint. Manche der Niedriglohnbeschäftigten schilderten uns, dass sie die AfD wählten, ohne sich davon irgendeine Verbesserung für ihr eigenes Leben zu erwarten. Es ist ein destruktiver Impuls, an den keinerlei Hoffnungen geknüpft sind.
Was tun Gewerkschaften, um diesen Ressentiments entgegenzuwirken?
Die Gewerkschaften unternehmen da bereits ziemliche Anstrengungen. Es gibt ein breites Angebot an politischer Bildung und viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind sehr engagiert gegen Rechts. Zwei Punkte scheinen mir aber wichtig: Die Frage ist, wie man das gewerkschaftliche Kerngeschäft von Organisierung und Interessensvertretung mit der Aufgabe, politische Orientierung zu geben, verbindet. Ermächtigung alleine ist nicht alles. Aber der Arbeit gegen Rechts fehlt ohne die Ermächtigung der Beschäftigten schnell die Substanz und auch der Biss.
Zudem ist es wichtig, dass die Gewerkschaften auch im politischen Raum eine Klassenperspektive sichtbar machen. Ein Beispiel sind die Debatten um das Bürgergeld. Hier waren auch viele Beschäftigte, etwa im Niedriglohnbereich, gegen eine Erhöhung und für härtere Sanktionen gegen angeblich »sozialschmarotzende« Ausländer und Arbeitslose. Es fehlte eine Stimme, die klarmacht, dass nicht darüber verhandelt wird, wie wohltätig die Steuerzahler gegenüber den Armen sein sollen, sondern wie viel Druck in Zukunft auf die Lohnabhängigen ausgeübt wird, jeden noch so miesen Job anzunehmen.
In Eurer Studie beschreibt Ihr den Zusammenhang von Demokratie und Handlungsfähigkeit am Arbeitsplatz als Industrial Citizenship. Was ist damit gemeint?
Das ist ein Begriff, den der britische Soziologe Thomas Marshall in den 1950er Jahren geprägt hat. Er bedeutet in etwa »Wirtschaftsbürgerschaft« oder »Betriebsbürgerschaft«. Nach der Erfahrung von Krieg und Faschismus stand man in Europa vor der Aufgabe, eine stabile demokratische Ordnung zu etablieren. Ein zentraler Gedanke, nicht nur von Marshall, war damals: Die politische Demokratie kann sich nicht von selbst tragen. Um sie zu stützen, müssen auch die anderen gesellschaftlichen Bereiche weiter demokratisiert werden. Das gilt besonders für die Wirtschaft, die im Zentrum jeder gesellschaftlichen Entwicklung steht, und für die Arbeitswelt, in der Menschen einen Großteil ihrer Lebenszeit verbringen.
Demokratisierung bedeutet für Marshall, dass Rechte ausgeweitet werden. Zivile Bürgerrechte haben Gleichheit der Individuen vor dem Gesetz begründet und damit den Feudalismus beendet. Darauf folgten politische Teilhaberechte und schließlich wurden im 20. Jahrhundert soziale Rechte erkämpft, die den Zugang zum gesellschaftlichen Wohlstand und materielle Absicherung garantieren. Bei Industrial Citizenship geht es nun darum, dass die Demokratisierung nicht am Werkstor aufhören darf und auch in der Wirtschaft Schutz-, Teilhabe- und Zugangsrechte für die Beschäftigten etabliert werden.
»Nach dem Siegeszug des Neoliberalismus galt die Mitbestimmung in Deutschland eher als ein altmodisches bürokratisches Überbleibsel.«
Aus diesem Geist heraus stritten auch im Nachkriegsdeutschland Gewerkschafter wie Otto Brenner oder Hans Böckler für eine Ausweitung der Mitbestimmung und für Wirtschaftsdemokratie. Auch in der Sozialdemokratie war dies ein weitaus zentraleres Anliegen, als das heute der Fall ist.
Selbst die CDU forderte in ihren Gründungsdokumenten der Nachkriegszeit nicht nur die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, sondern auch weitreichende Mitbestimmungsrechte.
Ja, in der jungen Bundesrepublik hielt man das durchaus in verschiedenen politischen Lagern für eine plausible Lehre aus dem Nationalsozialismus und den zwei Weltkriegen, die von Deutschland ausgegangen waren. So konnte die Gewerkschaftsbewegung die Demokratisierung der Wirtschaft in Deutschland offensiv vorantreiben. Die Mitbestimmung wurde in dieser Zeit – zumindest im internationalen Vergleich – recht deutlich ausgebaut. Das lag natürlich auch daran, dass die Systemkonkurrenz mit dem Realsozialismus das Kapital zu Zugeständnissen zwang.
Warum, meinst Du, ist dieses Thema heute in den Hintergrund getreten?
Tatsächlich schienen in den 1970er und 80er Jahren andere Fragen drängender, vor allem die nach einer humaneren Gestaltung der Arbeit und der Arbeitszeiten. Nach dem Siegeszug des Neoliberalismus galt die Mitbestimmung in Deutschland eher als ein altmodisches bürokratisches Überbleibsel, bis die kapitalistischen Krisen Ende der 2000er Jahre das Thema wieder aufs Tableau brachten.
Es ist aber aktuell eine sehr defensive Debatte. Sie dreht sich vor allem um die Gefahr, dass die Mitbestimmung durch Veränderungen in der Arbeitswelt ausgehöhlt wird und Gewerkschaften und Betriebsräte ihre Gestaltungsmacht verlieren. Wenn Leute zum Beispiel in Leiharbeit oder anderen prekären Arbeitsverhältnissen angestellt sind, haben sie weniger Ressourcen, sich zu beteiligen, und eine fragmentierte Belegschaft kann sich schwerer organisieren. Auch wenn in Unternehmen einzelne Standorte, Abteilungen oder Teams um Aufträge oder die besten Kennzahlen konkurrieren, schwächt das die Solidarität und Mitbestimmung im Betrieb.
Zuletzt wurde auch viel darüber diskutiert, dass das Tarifsystem erodiert, zum Beispiel wenn mächtige internationale Konzerne wie Tesla oder Amazon sich weigern, Gewerkschaften anzuerkennen und Tarifverträge abzuschließen. Das schwächt die Gewerkschaften, die ohnehin lange mit Mitgliederschwund zu kämpfen hatten. Vor diesem Hintergrund geht es dann viel mehr darum, wie man ein Mindestmaß an Arbeitnehmerrechten verteidigen kann, als darum, über eine demokratischere Wirtschaft nachzudenken.
Siehst Du Wege, wie die Gewerkschaften in dieser Hinsicht wieder in die Offensive kommen können?
Ich denke, dafür ist es entscheidend, dass Gewerkschaften eine größere Beteiligungs- und Konfliktorientierung an den Tag legen. Diese Erkenntnis ist nicht neu und es gibt Kräfte innerhalb der Gewerkschaften, die das bereits verstärkt in Angriff nehmen. Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie etwa die IG Metall in der Automobilbranche auf die Bedrohung durch die AfD-nahe Arbeitnehmervertretung Zentrum Automobil reagiert hat. Hier hat die Gewerkschaft einerseits eine politische Auseinandersetzung mit der extrem rechten Gruppe angestoßen. Sie ist mit ihren Vertrauensleuten und Betriebsräten aber auch wieder präsenter geworden in den Werkshallen und hat die Kolleginnen und Kollegen an der Basis beteiligt. Zudem hat sich die IG Metall in der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland mit 24-Stunden-Streiks konfliktfreudiger gezeigt und in den großen Unternehmen Durchsetzungsstärke bewiesen. Die Hauptamtlichen sehen darin einen Grund, dass der Aufstieg von Zentrum Automobil vorerst gestoppt werden konnte.
Ein zweites Beispiel sind die Organisierungserfolge und erfolgreichen Abschlüsse, die die NGG zuletzt in ostdeutschen Nahrungsmittelbetrieben verbuchen konnte. Die Sekretäre sind extrem nah dran an den Belegschaften und setzen darauf, dass die Beschäftigten Verantwortung übernehmen, dass zum Beispiel über Forderungen und Strategie gemeinsam entschieden wird. Hier ist der demokratische Prozess der Organisierung ähnlich wichtig wie das Ergebnis des Arbeitskampfes. Zudem halten sie die gesellschaftspolitische Dimension der Kämpfe nicht außen vor, sondern thematisieren Probleme wie die »Lohnmauer« zwischen Ost und West offensiv.
Ob der in Teilen der Gewerkschaften begonnene Kulturwandel gelingen kann, ist aber auch eine Ressourcenfrage. Bisher hängt es sehr an engagierten Einzelpersonen. Sowieso ist die Demokratisierung durch betriebliche Arbeit auch kein Allheilmittel, das alle politischen Verwerfungen auffangen kann. Sie muss mit einer sichtbaren, kämpferischen Politik für die Interessen von Lohnabhängigen in der Politik verbunden werden.
Andre Schmidt ist Soziologe am Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig und Mitautor der Studie Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland.