01. Mai 2025
Die historischen Faschisten wollten die Demokratie zerstören. Die heutigen Faschisten sind da pragmatischer.
»Das macht die gefährliche Banalität des Faschismus unserer Zeit aus. Er vollzieht sich im Normalbetrieb der parlamentarischen Demokratie.«
Am 6. Januar 2021 stürmte eine rechte Menge, angeheizt von Donald Trumps Verschwörungstheorie der gestohlenen Wahl, das US-amerikanische Kapitol, um die Amtsübergabe an Joe Biden zu verhindern. Es war ein gewalttätiger Akt, bei dem fünf Menschen getötet und 140 verletzt wurden. Der Sturm auf das Kapitol war ein Scheidepunkt. Es war der Tag, an dem offenbar wurde, dass Trump mehr als nur ein gewöhnlicher autoritärer Populist war.
Der bekannte Faschismushistoriker Robert Paxton hatte sich bis dahin immer dagegen ausgesprochen, Trump als Faschisten zu kategorisieren. Nun, erklärte er, habe er seine Einschätzung geändert. Er war in dieser Hinsicht ein Nachzügler, viele andere waren sich schon lange sicher. Angesichts des rohen Rassismus, der augenzwinkernden Unterstützung von Gewalt, dem Hass auf Linke und Liberale wird der Begriff des Faschismus immer wieder aufgerufen, vor allem in der US-amerikanischen Diskussion seit dem Aufstieg von Donald Trump. Es ist ein drastischer, historisch aufgeladener Begriff, der jedoch häufig lediglich dazu dienen soll, moralisch aufzurütteln. Er will sagen: Wacht auf! Aber was soll das genau heißen?
Fast genau hundert Jahre zuvor war der Faschismus in Italien das erste Mal an die Macht gelangt. Mussolini hatte aus den lokalen paramilitärischen Squadristi (Schwarzhemden) und Fasci di Cambattimento eine Massenbewegung und Partei mit 300.000 Mitgliedern geformt. Durch ihren Marsch auf Rom, an dem 50.000 Faschisten beteiligt waren, eroberte die hoch organisierte und disziplinierte Partei die Macht.
Eine derartige Machtergreifung fand 2021 nicht statt. Trump hatte den Sturm aufs Kapitol seinen Anhängern imaginativ nahegelegt, aber nicht direkt dazu aufgerufen. Seine Anhänger verstanden ihn auch so. Sie hatten ihn weitgehend autonom und dezentral geplant. Aber als die Menge das Kapitol schlussendlich besetzten konnte, machte sie vor allem: Selfies. Es war ein anarchisches Event, dessen Protagonisten wild zusammengewürfelt schienen: rechtsextreme Milizionäre wie die Proud Boys oder Oath Keepers, QAnon-Anhänger, Tea-Party-Aktivisten aus dem mittleren Westen, Motorrad-Rocker, schlichte Funktionskleidungsträger, Steampunks, Gamer mit MAGA-Fahnen, Manosphere-Cosplayer und natürlich der ikonische Mann mit den Bison-Hörnern. Es war ein Karneval, der von den sozialen Medien orchestriert, aber nur in geringem Maße organisiert wurde. Die faschistische Bewegung der Gegenwart ist nicht vertikal integriert, sondern affektiv dezentriert.
Es ist der Situation analytisch durchaus angemessen, den Begriff des Faschismus nicht mehr zum rein historischen Vokabular zu zählen. Ein Tsunami politischer Regression bricht über die westliche Welt herein. Episoden der Gewalt nehmen zu – seien es die Schüsse auf Black-Lives-Matter-Aktivisten, der Sturm aufs Kapitol, die Unruhen in Großbritannien oder die Bedrohungen von Politikern in der deutschen Provinz.
Fragwürdig ist allerdings der Einsatz des Begriffes als Kategorie für alles, was man für unerwünscht autoritär hält. Kamala Harris hat während des Wahlkampfes Trump immer wieder einen Faschisten genannt. Sie gebrauchte den Begriff jedoch historisch unspezifisch, im Sinne von Autokrat. Ähnlich ist es bei dem Philosophen Jason Stanley, für den die USA bereits jetzt faschistisch ist. Die Demokraten sind zwar die denkbar schlechteste Opposition, aber sie sind weder verboten noch verfolgt. Bernie Sanders und AOC werden nicht von Milizionären verschleppt.
Stanley gebraucht den Begriff für alle ultranationalistischen Bewegungen »jeglicher Couleur (ethnisch, religiös, kulturell)«, in der die Nation durch eine Führungspersönlichkeit repräsentiert wird. Mit dieser Definition verliert Stanley die Spezifika des Faschismus aus dem Blick. Überzeugender und für die Faschismusdebatte sinnvoller wäre es, wenn er einfach von Ultranationalismus sprechen würde.
»Wenn der Begriff des Faschismus zu einer Catch-all-Kategorie geweitet wird, die für viele historische Ungerechtigkeiten gilt, schöpft man die Gegenwart analytisch mit einer Schaumkelle aus.«
Er betrachtet auch die historische US-Sklavenhaltergesellschaft und ihre rassistischen Rechtfertigungen als eine Form des Faschismus. Ein System, das einer Gruppe von Menschen die Freiheit und gleiche Rechte vorenthält und sie zu Zwangsarbeit verpflichtet, ist zutiefst ungerecht. Aber die amerikanische Sklavenhalterdemokratie hat gleichzeitig für die weiße, gleichwohl multiethnische Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger freie Wahlen, Gewaltenteilung und umfassende Partizipationsrechte garantiert – Elemente, die in einer faschistischen Gesellschaft nicht denkbar wären.
Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!