29. April 2020
Überall auf der Welt war es die organisierte arbeitende Klasse, die die Einführung der Demokratie vorantrieb. Dies zeigt eine neuere Studie. Doch führt die heutige Erosion von Arbeiterorganisationen auch zu einem Verfall der Demokratie?
Demokratieproteste in Hong Kong, Dezember 2019.
2019 entwickelte sich zu einem hervorragenden Jahr für Proteste auf der ganzen Welt. Der Globale Klimastreik im September brachte Millionen Menschen auf die Straßen – schätzungsweise 2.500 Aktionen in mehr als 160 Ländern fanden statt. Es war ein historisches Ereignis, und doch nur eine von vielen Massenaktionen, die die Welt dieses Jahr erlebte.
Die Liste der Länder, die von bedeutsamen Protestbewegungen erschüttert wurden, ist lang. Sie enthält unter anderem Algerien, Brasilien, Tschechien, Ecuador, Ägypten, Frankreich, Hongkong, den Irak, Kasachstan, Puerto Rico, Russland, Serbien, Südafrika und den Sudan. Zuletzt kamen der Libanon und Chile hinzu, wo Protestierende ihre Länder in Aufruhr versetzten, aufgebracht von Ungleichheit, dem Niedergang öffentlicher Leistungen und dem Scheitern politischer Repräsentation. Ein langer Sommer ging in einen heißen Herbst über – und die Protestwelle könnte sich gut bis ins kommende Jahr hinein fortsetzen.
Konnten diese Proteste ihre Ziele effektiv erreichen? Bisher ist das Bild gemischt. Abgesehen vom Sudan, wo Massendemonstrationen und Streiks zur Absetzung von Omar al-Baschir führten und eine politische Revolution einleiteten, haben die Proteste hinsichtlich einer fundamentalen Veränderung der Verfassungsordnung nicht viel bewirkt. Es mag noch zu früh sein, ihre Wirkung zu bewerten, aber vermutlich werden viele zum selben Ergebnis führen wie die meisten Protestbewegungen: einer Mischung aus Repression und Zugeständnissen, während das herrschende politische Regime intakt bleibt.
In einem Land nach dem anderen will das Volk den Sturz des Regimes, wie es im wichtigsten Slogan des Arabischen Frühlings hieß. Ginge es bei der Absetzung einer Regierung nur ums Wünschen, wäre die Sache relativ einfach. Aber ob die Bevölkerung in der Lage ist, dies auch zu tun, und – ebenso wichtig – ob sie das Interesse hat, ein demokratischeres politisches System zu schaffen, ist eine Frage sozialer Strukturen und der Klassenzusammensetzung. Und diese Frage hängt vor allen Dingen daran, ob die arbeitende Klasse organisiert, strategisch platziert und in der Lage ist, effektiv Macht auszuüben.
Dies ist das wichtigste Ergebnis einer neuen Studie aus Norwegen zum Zusammenhang von Demokratisierung und Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung, die kürzlich von der Washington Post zusammengefasst wurde. Sie ist der jüngste Beleg für die bereits wohlbegründete These, dass die organisierte arbeitende Klasse überall auf der Welt stets die beständigste prodemokratische soziale Kraft war.
In den 1960er Jahren veröffentlichte Barrington Moore Jr. sein klassisches Werk Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, in dem er die berühmte Behauptung »ohne Bourgeoisie keine Demokratie« aufstellte. Seitdem hat eine ganze Reihe von Forscherinnen und Forschern effektiv die Vorstellung demontiert, politische Demokratie sei ein natürliches Nebenprodukt kapitalistischer Entwicklung oder dem Einsatz der Bourgeoisie zu verdanken. In einem bahnbrechenden Essay in der New Left Review argumentierte Göran Therborn, dass »keine der großen bürgerlichen Revolutionen auch tatsächlich eine bürgerliche Demokratie etablierte«. Demokratische Rechte und Freiheiten resultierten nicht aus der schrittweisen und friedlichen Verbreitung von Wohlstand, Bildung und Urbanisierung, sondern aus sozialen Umwälzungen, verursacht durch Krieg und Klassenkampf.
Therborn zufolge war es das Auftreten der arbeitenden Klasse und ihrer Bewegung, das den Weg zur Demokratisierung ebnete – nicht der Aufstieg der kapitalistischen Klasse an die Macht. Soweit grundsätzliche demokratische Rechte und Freiheiten existieren, sind sie die Frucht hart erkämpfter Siege, erstritten gegen oder verteidigt vor der Bourgeoisie.
Die große politische Frage ist, ob Länder, die einen tiefgreifenden und unumkehrbaren Niedergang der Industriearbeit erlebt haben, noch immer über eine Klassenstruktur verfügen, die stabile demokratische Politik ermöglicht.
Therborns These wurde in der Folge von historischen und soziologischen Studien zum Demokratisierungsprozess bestätigt. Eine der bedeutendsten Arbeiten in diesem Bereich ist Capitalist Development and Democracy (Kapitalistische Entwicklung und Demokratie) von Dietrich Rueschemeyer, Evelyne Huber Stephens und John D. Stephens. Ihrer Ansicht nach ist Moores Betrachtung der Ursprünge der Demokratie durch seine Vernachlässigung der Entwicklung der arbeitenden Klasse und ihrer Bewegung getrübt. Sein Fokus auf die Rolle der Bourgeoisie hielt ihn davon ab, den entscheidenen strukturellen Beitrag der Entwicklung des Kapitalismus für die Demokratie zu würdigen: das Wachstum und die Stärkung der modernen arbeitenden Klasse.
Indem sie das Wachstum des städtischen und industriellen Proletariats bewirkte und das Heer der Bauern und Landarbeiterinnen schrumpfte, versetzte die Entwicklung des Kapitalismus den Großteil der untergebenen Klassen in eine strukturelle Lage, die effektivem kollektiven Handeln förderlicher war. Die umfangreiche, länderübergreifende Studie stellte in einem Fall nach dem anderen fest, dass die organisierte arbeitende Klasse die primäre (wenn nicht sogar alleinige) Rolle bei der Errichtung politischer Demokratie spielte. Diese Erkenntnisse bestätigten die These, dass »die relative Größe und die Organisationsdichte der arbeitenden Klasse – erwerbstätige körperlich Arbeitende außerhalb der Landwirtschaft – von entscheidender Bedeutung für den Fortschritt der Demokratie sind«.
Neuere Arbeiten bauen auf den grundsätzlichen Ergebnissen auf, zu denen Rueschemeyer, Stephens und Stephens in ihrer wegweisenden Studie kamen. In seiner Analyse der Geschichte der Ausweitung des Wahlrechts stellte Adam Przeworski fest, dass die unteren Klassen sich ihren Weg in politische Systeme erkämpfen mussten, indem sie Eliten mit einer glaubhaften Revolutionsdrohung konfrontierten. Przeworski formuliert es anschaulich: »Systeme repräsentativer Regierung entstanden angesichts einer Todesangst, die Beteiligung breiter Bevölkerungsteile, von denen viele arm oder analphabetisch waren, würde das Eigentum bedrohen. Das Wahlrecht war eine gefährliche Waffe.«
Seine Schlussfolgerungen wurden kürzlich von Adaner Usmani bestätigt, der eine Fülle neuer Hinweise lieferte, die die vor dreißig Jahren vorgelegten Thesen von Rueschemeyer, Stephens und Stephens stützen. Seine Forschung zeigt, dass nicht einfach das Auftreten und Wachsen der arbeitenden Klasse an sich der entscheidende Faktor für die Ausbildung einer mehr oder weniger soliden politischen Demokratie ist, sondern die Entwicklung von Umständen, in denen sie effektiv Macht gegenüber Eliten ausüben kann.
Usmani zufolge sind diese Fähigkeiten stark von der Beschäftigungsstruktur der Wirtschaft eines Landes beeinflusst – insbesondere vom Beschäftigungsgrad der arbeitenden Bevölkerung in jenen Bereichen, die er »Hochleistungssektoren« nennt: Fertigung, Bergbau, Bau- und Transportwesen. Er argumentiert: Je stärker die arbeitende Klasse eines Landes in diesen Sektoren konzentriert ist, desto mehr ist sie in der Lage, für demokratische politische Zugewinne zu kämpfen und diese zu verteidigen.
Sowohl Usmani als auch die norwegische Forschungsgruppe machen eine wichtige Entdeckung: Insbesondere die organisierte industrielle arbeitende Klasse war die beständigste und effektivste soziale Kraft für demokratische Politik. Sie sind natürlich nicht die ersten, die die potenzielle politische Macht des Industrieproletariats erkennen. Marx und Engels argumentierten 1848: »Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie immer mehr.«
Ihre Macht leitete sich nicht nur von der strategischen Platzierung im Herzen des Produktionsprozesses ab. Historische Muster der Industrialisierung neigten auch dazu, Arbeiterinnen und Arbeiter aus gleichen oder ähnlichen Arbeitsstätten auch in denselben städtischen Wohnvierteln zu konzentrieren, was ihre Möglichkeiten verbesserte, Gewerkschaften, politische Parteien und andere Organisationen zu bilden.
Kurz, das Industrieproletariat war historisch in der Lage, Störungspotenzial mit Organisationsfähigkeit auf eine Weise zu kombinieren, wie es andere Fraktionen der arbeitenden Klasse nicht vermochten. Diese einzigartige Kombination ermöglichte viele der Siege, die arbeitende Menschen in den wichtigen kapitalistischen Ländern im 18. und 19. Jahrhundert erringen konnten.
Die große politische Frage, auf die diese Art der Forschung verweist, ist, ob Länder, die einen tiefgreifenden und unumkehrbaren Niedergang der Industriearbeit erlebt haben, noch immer über eine Klassenstruktur verfügen, die stabile demokratische Politik ermöglicht. Es gibt noch immer ziemlich viele Industriearbeiterinnen und -arbeiter in den USA, und der Streik bei General Motors hat gezeigt, dass sie mit einem Produktionsstopp noch immer beträchtlichen wirtschaftlichen Einfluss nehmen können.
Aber US-amerikanische Produktionsbetriebe wurden in hohem Maße aus den Stadtzentren heraus in dünn besiedelte und ländliche Gebiete entlang von Autobahnen verlegt – eine geographische Verteilung, die es deutlich schwieriger zu machen scheint, breit gefächerte politische und Klassensolidarität aufzubauen. Mehr noch, einige Fraktionen des verbleibenden Industrieproletariats im Herzen des Kapitalismus haben sich national-populistischen Figuren wie Donald Trump oder Marine Le Pen zugewandt, damit diese sie und ihre Betriebe vor dem Druck des globalen Wettbewerbs und der vermeintlichen Gefahr durch Arbeitsmigration beschützen.
Außerhalb des traditionellen kapitalistischen Kernlands springen viele Länder ohne eine nennenswerte Periode industrieller Entwicklung direkt von der Landwirtschaft in die Dienstleistungsgesellschaft. Der Ökonom Dani Rodrik nennt diesen Prozess »unausgereifte Deindustrialisierung«. Rodrik zufolge hat dies negative Auswirkungen auf ihre wirtschaftliche Entwicklung, da die industrielle Fertigung historisch gesehen der dynamischste Sektor hinsichtlich Wachstum und technologischer Innovation gewesen sei. Doch es gibt auch wichtige politische Auswirkungen. Rodrik argumentiert:
Politische Massenparteien waren traditionell ein Nebenprodukt der Industrialisierung. Politik funktioniert deutlich anders, wenn die städtische Produktion weitgehend informell und um ein diffuses Set kleiner Unternehmen und einflussloser Dienstleistungsbetriebe herum organisiert ist. Die gemeinsamen Interessen der Nicht-Eliten sind schwieriger zu bestimmen, politische Organisation steht vor höheren Hürden und personalistische sowie ethnische Identitäten dominieren gegenüber der Klassensolidarität.
Diese Beschreibung der Politik in Entwicklungsländern könnte in etwas abgewandelter Form leicht auf die politische Situation im kapitalistischen Kernland übertragen werden. Und es ist vermutlich kein Zufall, dass diese politische Konvergenz entsteht, während sich insgesamt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes in beiden Regionen dem gleichen Level nähert.
Können organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter im Dienstleistungssektor ein hinreichendes Maß sozialer Macht ausüben, um das Kapital herauszufordern und politische Systeme zu demokratisieren? Oder verurteilt die Erosion des Industrieproletariats und seine geographische Zerstreutheit uns alle zu einem mehr oder weniger großen Maß oligarchischer Herrschaft? Es ist noch zu früh, diese Fragen endgültig zu beantworten. Sicher ist nur, dass sich das klassische soziale Fundament demokratischer Politik aufgelöst hat – und dass es für die neue, höchst schwierige Phase, die vor uns liegt, erneut umgestaltet werden muss.
Chris Maisano ist Redakteur bei Jacobin und Mitglied der Democratic Socialists of America.