02. Oktober 2024
Unsere Politiker inszenieren sich in Wahlkämpfen und auf der Weltbühne als Schutzherren der Demokratie. Doch eigentlich stehen sie für ein System ein, das nur so viel Mitbestimmung zulässt, wie die Reichen verkraften können.
»Die Schuldenbremse, das ist der Mast, an den Politikerinnen und Politiker sich selbst ketten.«
Schon wieder sind Wahlen. Und wieder steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die Demokratie selbst – glaubt man den Menschen, die mit Politik ihr Geld verdienen. Populisten, so warnen sie, mobilisieren mit immer größerem Erfolg den Unmut der Bevölkerung gegen »die da oben«. Zugleich trachten despotische Regime anderer Länder danach, unsere schönen demokratischen Systeme zu zerstören. Es könnte einem wirklich bange werden um die Demokratie, hätte sie nicht so gute Freunde in so hohen Positionen.
Die neue Anführerin im Kampf gegen die Feinde der Demokratie heißt Kamala Harris. Ihre Demokratische Partei war von ihr als Kandidatin derart überzeugt, dass sie die innerparteiliche Demokratie einfach umging. Sie tritt damit das Erbe Joe Bidens an, der seinerseits so offensichtlich der richtige Kandidat war, dass die Demokraten einen demokratischen Vorwahlprozess unterbanden und so lange zu ihrem Präsidenten hielten, bis sich seine unübersehbare Altersschwäche nicht mal mehr vor professionellen politischen Beobachtern verbergen ließ.
Diesseits des Atlantiks hat die Christdemokratie schon zur Europawahl die Brandmauer modernisiert, mit der sie das demokratische Haus ursprünglich vor faschistischen Feuern bewahren sollte. Da EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sich offenhalten wollte, mit Italiens Rechtsaußen-Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zu paktieren, wurden die Einlassbedingungen angepasst, »pro-europäisch, pro-NATO, pro-Rechtsstaat und pro-Ukraine« müsse man sein. Als gute Demokratin weiß man schließlich, dass man Widersprüche aushalten muss – etwa dass pro-demokratisch zu sein bedeutet, die EU abzufeiern, auch wenn diese weniger demokratisch ist als die Staaten, die ihr angehören.
Der starke Mann in Deutschland, Finanzminister Christian Lindner, hat ebenfalls Profundes zum Demokratieverständnis beizutragen, und es betrifft den anderen großen Schutzmechanismus der deutschen Politik, die Schuldenbremse. Seine Lektion geht zurück bis auf die alten Griechen und verdient es, ausführlich zitiert zu werden: »Schuldenbremsen, das sind Instrumente der Disziplinierung der Politik selbst. Man kann sich das vorstellen, wie bei Homer: Odysseus hat sich einst an den Mast seines Schiffes angekettet, um den Sirenenklängen nicht zu erliegen. Und die Schuldenbremse, das ist der Mast, an den Politikerinnen und Politiker sich selbst ketten, damit sie in Wahlkämpfen nicht der Versuchung erliegen, nach dem Applaus des Tages ihre Forderungen auszurichten.«
»Misst man sie an altgriechischen Maßstäben, klingen einige der lautesten Demokratiefans von heute eher wie die Demokratiekritiker von damals.«
Die großen demokratischen Führungsfiguren unserer Zeit wissen also: Im Zweifel muss man an demokratischen Prozessen vorbei entscheiden, wer am besten geeignet ist, die Demokratie zu verteidigen. Auch die Bündnistreue zu den größten Demokratieverteidigern auf der Weltbühne darf nicht durch Wahlausgänge infrage gestellt werden. Und wenn die Sirenen singen: »Lasst uns in die öffentliche Infrastruktur investieren«, dann kann die demokratische Politik zwar zuhören, darf aber bitte keinen Finger rühren. Es ist fast so, als würden die großen Demokratieverteidiger »unsere politische Kultur« nicht zuletzt vor der Demokratie verteidigen.
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Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.