22. Januar 2024
Die Forderung nach einem AfD-Verbot ist gut gemeint. Es ist jedoch keinesfalls sicher, dass ein Verfahren glücken würde – und bannen lässt sich die Rechtsentwicklung juristisch sowieso nicht. Man muss die AfD politisch schlagen.
Björn Höcke im Plenarsaal des Thüringer Landtags, Aufnahme vom 6. Dezember 2023.
Wie in vielen deutschen Städten demonstrierten am 16. Januar auch in meiner Stadt viele Menschen gegen die AfD. In Köln kamen circa 30.000 Menschen zum Heumarkt und zogen zur Deutzer Werft – so viele, dass mehrere Straßenbahnen nicht fahren durften und die Polizei die Demonstrationsroute mehrmals ändern musste. Viele der Demonstrierenden forderten gegenüber den Abgeordneten der demokratischen Parteien, ein Verbot der AfD auf den Weg zu bringen.
Im Raum steht diese Forderung schon eine Weile. Marco Wanderwitz, CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Ostbeauftragter der Bundesregierung, sucht seit geraumer Zeit Unterstützung für einen parteiübergreifenden Verbotsantrag. Ein Campact-Aufruf, einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung nach Artikel 18 des Grundgesetzes gegen den Thüringer AfD-Chef Björn Höcke einzureichen, erreichte am Tag der Demonstrationen bereits über eine Million Unterzeichnerinnen und Unterzeichner. Ein weiterer Aufruf, die laut Verfassungsschutzämtern als gesichert rechtsextrem geltenden AfD-Landesverbände in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen zu verbieten, sammelte am selben Tag immerhin schon über 350.000 Unterschriften.
Ihren stärkeren Rückenwind verdankt die Forderung nach einem AfD-Verbot den drohenden radikal rechten Wahlerfolgen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Herbst dieses Jahres sowie dem Bericht von Correctiv über ein Geheimtreffen von Spitzenleuten der AfD sowie ihren Unterstützern mit dem Kopf der Identitären Martin Sellner, in dem ernsthaft Pläne zur »Remigration« erörtert wurden. Solche unsäglichen Vorstellungen von ethnischer Säuberung sind im Spektrum der AfD und der Neuen Rechten keineswegs neu.
Tatsächlich neu, aber politisch unerträglich und unfassbar geschichtsvergessen ist es, wenn nun bürgerliche Stimmen dafür eintreten, die AfD an Landesregierungen zu beteiligen, um sie zu »entzaubern«. Weil in der gesamten deutschen Nachkriegsgeschichte noch nie eine extrem rechte Partei so nah an der Regierungsmacht war wie heute die AfD, erhalten die Entwicklungen eine ungekannte, erschreckende Qualität.
Das Entsetzen und die Empörung über die AfD sind ohne jeden Abstrich berechtigt. Wer für Freiheit und Demokratie ist, muss Abscheu empfinden gegenüber der Vorstellung, Menschen sollten wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe, aufgrund ihres Glaubens, ihrer sexuellen Orientierung oder des Klangs ihres Nachnamens aussortiert, diskriminiert oder gar deportiert werden.
So sehr die Inhalte der AfD, ihr Personal und ihr Vorgehen abzulehnen sind, so umsichtig muss man doch in der Wahl der Mittel im Kampf gegen sie sein. Deswegen bin ich skeptischer als mein Parteivorsitzender Martin Schirdewan, der sich auf Frage des Spiegel zuversichtlich zur Frage eines AfD-Verbots äußerte. In der Einschätzung hinsichtlich der Radikalität der heutigen AfD und des Schadens, den sie anrichten kann, werden sich viele Gegnerinnen und Gegner dieser Partei einig sein. Dennoch können die Auffassungen darüber auseinandergehen, was die Erfolgsaussichten eines Verbots angeht, was ein Verbot überhaupt brächte, was dessen Durchsetzung eigentlich bedeuten würde und wie es im Verhältnis zur politischen Auseinandersetzung mit der AfD steht.
Dass die Verbotsforderung so prominent werden konnte, ist für die demokratischen Kräfte in Deutschland Offenbarungseid und Armutszeugnis. Es ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass man durch eine originär politische Auseinandersetzung den Aufstieg dieser Partei nicht hat verhindern, nicht einmal wirksam hat bremsen können.
So erschreckend die Enthüllungen von Correctiv über das Geheimtreffen in Potsdam sind, so wenig sind dessen Inhalte leider neu oder für die AfD außergewöhnlich. In Björn Höckes Buch Nie zweimal in denselben Fluss kann man unmissverständlich nachlesen, ein völkisch regiertes Deutschland müsse damit rechnen, dass »wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen«.
»Die AfD würde das Scheitern ihres Verbots nur zu gerne als Ausweis ihrer Demokratietauglichkeit ausschlachten.«
Bei den Landesverbänden in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist die extrem rechte Orientierung besonders offensichtlich, der Ausnahmefall in der Partei sind sie aber sicherlich nicht. Der Einfluss verfassungsfeindlicher Strömungen nimmt laut Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sowie nach Einschätzung fachkundiger Beobachtung aus antifaschistischen und antirassistischen Kreisen immer weiter zu. Formal noch bestehende Unvereinbarkeitsbeschlüsse etwa mit der Identitären Bewegung sind längst Makulatur. Vertreter der AfD, die früher am rechten Rand des demokratischen Spektrums zu verorten waren, wie ihr Europawahl-Spitzenkandidat Maximilian Krah, beziehen heute unmissverständlich extrem rechte Positionen. Die AfD befindet sich in einer Radikalisierungsschleife, die bislang kaum gebremst wurde, weil ihre Wählerinnen und Wähler jeden weiteren Rechtsruck nicht bestraft, sondern im Gegenteil belohnt haben.
Die Bedrohung durch die AfD betrifft zwei Ebenen: die politisch-formale und die gesellschaftspolitische. Es wäre eine ernsthafte Gefahr für die politischen Verfahren, wenn die AfD mehr als ein Drittel der Landtagssitze etwa in Thüringen erreichen würde, selbst wenn sie dann in der Opposition bliebe. Sie hätte dann eine Sperrminorität für alle Entscheidungen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern. Das betrifft etwa die bald anstehende Benennung von Richterinnen und Richtern auf Lebenszeit oder die Besetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission, die den Verfassungsschutz und damit die Beobachtung der AfD überwacht.
Den schlimmeren Fall – wenn die AfD tatsächlich an die Regierung käme – möchte man sich nicht ausmalen: »Was passiert, wenn die AfD die Richterstellen in den Bundesländern besetzt? Was passiert, wenn ein Landesverfassungsschutz einem AfD-geführten Innenministerium untersteht? Wäre dann Toleranz gegenüber rechter Gewalt, ein Nichteinschreiten in solchen Fällen, die Folge? Ginge der Staat dann gegen radikale Linke oder Grüne vor? Kann jemand mit einem migrantischen Hintergrund in einem Gerichtsverfahren mit einer von der AfD besetzten Richterbank noch einen fairen Prozess erwarten?«, fragt die Verfassungsrechtlerin Michaela Hailbronner besorgt.
Darüber hinaus ist es der AfD aber bereits gelungen, gesellschaftspolitisch zur Sperrminorität zu werden, die aus ihrer gesamtgesellschaftlichen Minderheitsposition heraus die Politik vor sich hertreibt. Wie aus Umfragen hervorgeht, ist laut Spiegel »der Anteil derer gesunken, die der Meinung sind, dass es zu viele Rechtsextreme in der AfD gebe. Im Herbst 2017 fanden das noch 85 Prozent der Befragten, im Sommer 2023 waren es lediglich 69 Prozent. Ebenso ist die Zahl an Menschen gesunken, die angeben, die Partei niemals wählen zu wollen. Waren es vor zwei Jahren knapp 70 Prozent, sind es nun 56 Prozent. Deutschland hat sich an seine AfD offenbar gewöhnt«.
Die innere Radikalisierung der AfD geht einher mit ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Normalisierung. Regional verfügt sie nach Auskunft von Beobachtern bereits in einigen Landstrichen Deutungshoheit, und gesamtgesellschaftlich gewöhnen sich die Menschen daran, dass eine relevante Partei die fundamentale Rechtsgleichheit der Bürgerinnen und Bürger beseitigen möchte. Beileibe nicht alle, die für die AfD stimmen, stimmen auch mit ihren völkischen und demokratiefeindlichen Inhalten überein. Um sie zu stärken, reicht es aber schon hin, wenn diese Inhalte sie nicht davon abhalten, ihr Kreuz bei der AfD zu machen.
Selbst die Stimmen, die einen Verbotsantrag gegen die AfD zum jetzigen Zeitpunkt befürworten, sind vorsichtig damit, einen Erfolg in Aussicht zu stellen. Die NPD war zum Zeitpunkt des zweiten, gescheiterten Verbotsantrags 2017 wahlpolitisch bereits irrelevant geworden. Eine quicklebendige AfD würde, obwohl dies sachlich nicht gleichbedeutend ist, das Scheitern ihres Verbots nur zu gerne als Ausweis ihrer Demokratietauglichkeit ausschlachten.
Ob bereits genügend Beweise vorliegen, um der AfD als Ganzer eine aggressiv-kämpferische Haltung gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und ein planvolles Hinarbeiten auf deren Beseitigung nachzuweisen, wie es ein Parteienverbot nach Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes erfordert, ist derzeit aber nicht klar. Dass bereits ein laufendes Verbotsverfahren und die Berichterstattung darüber die Aufklärung über den gefährlichen Charakter der AfD befördern könnten, wie es der CDU-Abgeordnete Wanderwitz erhofft, kann man bezweifeln. Denn die Skandale etwa um Alexander Gaulands berüchtigte »Vogelschiss«-Rede oder Björn Höckes Rede vom »afrikanischen Ausbreitungstyp« haben nichts dergleichen bewirkt.
Ein Verbotsantrag müsste vor allem drei Hürden überwinden. Zweifelsohne lässt sich reichlich Material über extrem rechtes Sagen und Tun von Mitgliedern und Abgeordneten der AfD sammeln. Entscheidend ist jedoch, ob dies alles als verfassungsfeindlich eingeordnet und der Partei als Ganzer zugerechnet werden kann. Tilman Steffen von der Zeit weist darauf hin, dass die Richterinnen und Richter im Verbotsverfahren gegen die NPD auf die verfassungswidrigen Ziele der Partei abstellten, ihre gesellschaftspolitische Arbeit, die natürlich viel diffuser und deren Gefährlichkeit schwieriger nachzuweisen ist, hingegen außen vor ließen.
»Je weniger man der etablierten Politik ihre Aufrichtigkeit abkauft, desto mehr erscheint ein Verbot als Einschränkung der Demokratie aus Eigeninteresse der herrschenden Kräfte.«
Ein ähnliches Vorgehen stünde einem AfD-Verbotsverfahren entgegen, da die Partei bislang klug genug war, in ihren Wahlprogrammen von offen verfassungsfeindlichen Äußerungen und Forderungen abzusehen. Das originär »verbotswürdige« der AfD zeigt sich in ihrer Zusammenarbeit mit extrem rechten Bewegungen und in den Positionen, die jenseits des Aufgeschriebenen in der AfD vertreten werden.
Dieses Zurechnungsproblem hat sich bereits vor Gericht als Achillesferse erwiesen. Ausgerechnet in Thüringen, wo bekanntlich Björn Höckes radikaler Landesverband angesiedelt ist, ist es misslungen, einem Mitglied der AfD mit Verweis auf die Ausrichtung der Landespartei seine Waffen abzunehmen. Wegen der – aus rechtsstaatlicher Sicht richtigerweise – hohen Anforderungen, Einzelnen und Parteigliederungen Verfassungsfeindlichkeit nachzuweisen, muss man auch skeptisch sein, was die zweitbeste Lösung angeht, auf die sich Befürworterinnen und Befürworter eines AfD-Verbots inzwischen konzentrieren: das Verbot von Teilverbänden wie eben der AfD in Thüringen, Sachsen oder Sachsen-Anhalt.
Die zweite Hürde bildet die sogenannte Potenzialitätsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Kurz gesagt reicht demnach ein Nachweis verfassungsfeindlicher Ziele einer Partei nicht mehr hin. Stattdessen muss es Anhaltspunkte dafür geben, dass die verfassungsfeindliche Partei mit ihrem Tun auch Erfolg haben könnte. Die NPD war zum Zeitpunkt ihres Nicht-Verbots bereits bedeutungslos, die AfD hingegen ist heute zweifelsohne einflussreich, wurde aber von den anderen Parteien weitgehend hinter eine »Brandmauer« verbannt. Auch sind die verfassungsfeindlichen unter ihren Zielen mit den durch die sogenannte Ewigkeitsklausel geschützten Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes sowie dem Europarecht unvereinbar. Deswegen ist nicht klar, welchen Maßstab das Verfassungsgericht gegenüber der AfD anlegen könnte, um ihre Erfolgschancen zu beurteilen.
Und als dritte Hürde müsste ein Verbot der AfD schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bestehen, der bisher restriktiv gegen Parteienverbote geurteilt hat.
Damit ein Verbot der AfD überhaupt die gewünschte Wirkung entfalten könnte, müsste es sich auf alle Nachfolgeorganisationen erstrecken, mit denen zu rechnen ist. Eine Repression, wie es sie nach dem Verbot der KPD im Jahr 1956 gab, einschließlich Aberkennung von Mandaten, Beschlagnahmungen, Verhaftungen und Verdacht auf Mitgliedschaft als Kündigungsgrund wäre heute nicht mehr denkbar. Die ins Verbotsverfahren gesetzten Hoffnungen stehen und fallen letztlich damit, dass die bisherige Wählerschaft der AfD den Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts nicht nur akzeptiert, sondern auch ihm auch zustimmt. Nur in diesem Fall hätte die wie ein »Spuk« betrachtete Erfolgsserie der AfD in Folge des Urteils wirklich ein Ende.
Die Reaktion auf die Abwahl Donald Trumps, die bis heute weite Teile republikanischer Wählerschaft für illegitim halten, zeigt aber, dass damit keinesfalls fest zu rechnen ist. Vielmehr ist mit der ehemaligen Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolf zu befürchten, »dass im Hinblick auf die AfD ein Verbot auch nur einzelner Landesverbände mit einem hohen Risiko belastet wäre, das schwindende Demokratievertrauen großer Teile der Bevölkerung nur noch weiter zu erschüttern, insbesondere bei dem großen Teil der AfD-Wähler, die dieser Partei nicht aufgrund einer extremistischen Haltung zuneigen, sondern weil sie Anliegen, die man haben kann, ohne mit der freiheitlichen Demokratie auf Kriegsfuß zu stehen, derzeit bei keiner anderen Partei ausreichend vertreten finden«.
»Eine sachgerechte Lösung der wichtigsten Probleme scheiterte bisher nicht an der AfD, sondern an den anderen Parteien – finanz- und verteilungspolitisch insbesondere am eisernen Griff der FDP in der Ampelkoalition.«
Ein AfD-Verbotsverfahren würde sich ohnehin über mehrere Jahre hinziehen. Die befürchteten wahlpolitischen Erfolge im Frühjahr und Herbst 2024 ließen sich dadurch sowieso nicht mehr verhindern. Im Gegenteil besteht sogar die reale Gefahr, dass Menschen, die zwar die herrschende Politik ablehnen, bisher aber noch nicht die AfD gewählt haben, die Partei unter Eindruck eines Verbotsverfahrens erst recht ankreuzen. Übersehen wird nämlich zu oft, dass bei aller Aufrichtigkeit der Sorge über die Verfassung mit einem Verbot immer auch eine politische Konkurrenz unterbunden wird. Je weniger man der etablierten Politik ihre Aufrichtigkeit abkauft, desto mehr erscheint ein Verbot als Einschränkung der Demokratie aus Eigeninteresse der herrschenden Kräfte.
Das Potenzial an Nationalismus, Ressentiments und Menschenfeindlichkeit, das die AfD kanalisiert hat, würde nicht von einem Moment auf den anderen verschwinden, wenn die Partei verboten würde. Womöglich fände es mit der angekündigten Partei des früheren Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen womöglich direkt eine neue wahlpolitische Option, die, weil keine Nachfolgeorganisation der AfD, auch nicht unter deren Verbot fiele.
Nicht auszuschließen ist auch eine weitere, dann schwieriger zu beobachtende Radikalisierung der vormaligen Wählerinnen, Unterstützer und Mitglieder der AfD, die ihre politische Neutralisierung innerhalb der repräsentativen Demokratie wohl kaum ohne Widerspruch hinnehmen werden. Selbst nach einem erfolgreichen Verbotsverfahren gegen Teile der AfD oder die Partei als Ganze griffe Bertolt Brechts Warnung, dass »keiner uns zu früh da triumphiert – Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch«.
Parteienverbote wollen Demokratie und Freiheit schützen, indem sie für bestimmte Gruppen Demokratie und Freiheit empfindlich einschränken. Dies kann unter Umständen notwendig werden, aber Instrument der Wahl kann es nur sein, wenn alle anderen Mittel im demokratischen Streit gegen die AfD erfolglos versucht worden sind. Davon kann jedoch in Deutschland heute wirklich keine Rede sein.
Der Verbotsbefürworter Wanderwitz liegt mit seiner Bemerkung richtig, dass die hohe Dichte von Kriegen und Krisen radikale rechte Populisten wie ein Sauerstoffzelt beatmet. Zum vollständigen Bild gehört jedoch auch die schlechte herrschende Politik – nicht nur im Lichte der Krisen, sondern auch für den ganz banalen Alltag der Leute. Linke Sozialpolitiker können ein Lied davon singen, wie wenig sich sämtliche Bundesregierungen des laufenden Jahrtausends von der Zustimmung in Umfragen zu einer lebensstandardsichernden Rente beeindrucken lassen, sondern stattdessen ernsthaft über die Aktienrente verhandeln.
Insofern ist es kein Zufall, dass die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang – obwohl stellvertretendes Mitglied im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales – die Höhe der Durchschnittsrente deutlich überschätzte. Im Deutschland des Jahres 2024 sind die Steuersenkungen aus dem Hause Lindner Wirklichkeit, aber kein Mindestlohn in Höhe von 14 Euro, wie es der geltenden europäischen Richtlinie entspräche. Und ganz grundsätzlich werden die Krisen und Menschheitsaufgaben wie der Klimawandel von der Ampelregierung wie auch den Vorgängerregierungen nicht offensiv und mit unmissverständlicher Orientierung an sozialer Gerechtigkeit angegangen. Vielmehr bekämpft die herrschende Politik Kaufkraftverluste durch Inflation, den Klimawandel und drohende Arbeitsplatzverluste mit einer Hand hinter ihrem Rücken gefesselt, da sie auf jegliche Steuererhöhungen für Besserverdienende und Vermögende ebenso wie auf eine Abschaffung oder zumindest eine Reform der Schuldenbremse verzichtet.
Vor diesem Hintergrund ist selbst die moderatere Hoffnung der Befürworter, ein Verbot der AfD verschaffe der Demokratie in Deutschland eine »Atempause«, zwar verständlich, aber letztlich kurzsichtig. Denn eine sachgerechte Lösung der wichtigsten Probleme scheiterte bisher nicht an der AfD, sondern an den anderen Parteien – finanz- und verteilungspolitisch insbesondere am eisernen Griff der FDP in der Ampelkoalition. Wut und Abscheu gegenüber der AfD bleiben richtig. Über die Anti-AfD-Demos auf der Straße hinaus muss die Schlussfolgerung allerdings darin bestehen, umso energischer für eine bessere Politik einzutreten und gerade die demokratischen Parteien noch stärker zur Rechenschaft zu ziehen.
Dass es der AfD gelungen ist, in den Augen vieler Menschen die Migration zur »Mutter aller Probleme« zu machen, ist vielen politischen Versäumnissen der vergangenen Jahre zu verdanken. Wenn jedoch die etablierte Politik nicht bereit ist, sich aus dem Korsett von Schuldenbremse und Umverteilungsabwehr zu lösen, wird es kaum gelingen, in Abgrenzung von der Ausgrenzungs- und Abschottungspolitik der AfD die tatsächlichen Herausforderungen von Einwanderung und Integration anzupacken. So verständlich die Forderung nach einem Verbot der AfD ist, so bleibt sie letztlich hilflos, wenn nicht endlich die Gründe für den Erfolg der Rechten entschlossen angegangen werden.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.