29. September 2021
Das Finanzamt ließ den Steuerraub wissentlich verjähren, Olaf Scholz will sich an nichts erinnern: Der Cum-Ex-Skandal zeigt, wie die Wirtschaft die Politik für sich einspannt und Behörden versagen.
Scholz hat sich mehrmals mit Olearius getroffen. Worüber sie dabei sprachen, hat er eigenen Angaben nach einfach vergessen.
Die illegalen Finanzgeschäfte des Dividendenstrippings à la Cum-Ex sind ähnlich schwer nachvollziehbar wie die Aussagen des Finanzministers, Kanzlerkandidaten und damaligen Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz. Am 30. April dieses Jahres sagte er vor dem Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft als Zeuge aus. Er beteuerte, sich in keiner Weise in das Steuerverfahren der Warburg Bank eingemischt zu haben – das wäre schließlich eine politische Dummheit und zu solchen neige er nicht. Mit Blick auf die lange Liste seiner politischen Fehler ist diese Behauptung nicht nur völlig haltlos, sondern auch gefährlich.
Der Hamburger Untersuchungsausschuss, der seit Februar regelmäßig tagt, soll untersuchen, ob die Politik im Steuerfall Warburg Einfluss auf die Finanzverwaltung genommen hat. Dass sich dieser Ausschuss überhaupt gebildet hat, ist der Hamburger Opposition zu verdanken – also der LINKEN, CDU und FDP. Den Ausschuss nahm die SPD nur zähneknirschend hin, leiten darf sie ihn aber immerhin selbst: Drei Monate wurden überhaupt keine Sitzungen abgehalten, kritische Zeugen, wie die Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer oder die Kölner Staatsanwaltschaft, kommen erst nach der Bundestagswahl zu Wort.
Die Warburg Bank hat die illegalen Cum-Ex-Geschäfte im großen Stil betrieben – alleine für die Geschäftsjahre 2009 und 2010 ließ sie sich über 90 Millionen Euro vom Finanzamt erstatten, die sie vorher niemals gezahlt hatte. Es war ein Staatsüberfall. Spätestens 2015 war auch die rechtliche Bewertung eindeutig: Es handelte sich um Steuerraub.
Das lukrative »Geschäftsmodell« von Cum-Ex beruhte im Kern darauf, die einmalig gezahlte Kapitalertragsteuer mehrfach rückerstatten zu lassen, und zwar über Leerverkäufe. Bei Cum-Ex-Geschäften leiht sich ein Leerkäufer die Aktie vor dem Dividendenstichtag, bekommt sie nach dem Stichtag geliefert und gibt sie dann wieder an den Eigentümer zurück. Wirtschaftlicher Eigentümer der Aktie war der Leerkäufer zum Dividendenstichtag also nie, weshalb die Steuerrückzahlungen rechtswidrig sind.
Lange Zeit blieb das unentdeckt, was auch daran lag, dass die Abführung und Bescheinigung der Kapitalertragsteuer bis 2011 institutionell voneinander getrennt waren: Die Aktiengesellschaft behielt die Steuer ein und führte sie ab, die Bescheinigung stellte aber die Depotbank des Aktieninhabers aus. Im Falle Warburg stellte sich die Bank die Bescheinigungen sogar selbst aus.
Den ersten Hinweis lieferte im Jahr 2014 die Oberfinanzdirektion Frankfurt: Es bestehe der Verdacht, die Warburg Gruppe habe an sogenannten ungedeckten Leerverkäufen teilgenommen – ein starkes Indiz für Cum-Ex-Geschäfte. Die Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer gingen dem Verdacht nach und entschieden: Die Deutsche Bank, die den Leerverkauf abgewickelt hatte, hätte die Kapitalertragssteuer abführen müssen – damit war die Warburg-Bank vorerst aus dem Schneider.
Diese Einschätzung sollte sich schon bald als falsch entpuppen. Spätestens an diesem Punkt hätten bei der Finanzverwaltung alle Alarmglocken schrillen müssen. Hamburg hatte bereits Erfahrung mit dem Steuerklau durch Cum-Ex: Die HSH Nordbank, Landesbank der Länder Hamburg und Schleswig-Holstein und jetzige Hamburg Commercial Bank, zahlte bereits 2014 Steuern aus illegalen Cum-Ex-Geschäften in Höhe von 127 Millionen an den Stadtstaat zurück. Das wussten der Hamburger Senat, die Hamburger Finanzbehörde und das Hamburger Finanzamt ganz genau.
Im Februar 2016 durchsuchte die Staatsanwaltschaft Köln die Räume der Warburg Bank wegen Verdachts der Steuerhinterziehung. Die Betriebsprüferinnnen und Betriebsprüfer sammelten bei der Bank genug Indizien, um die Steuer zurückfordern zu können. Bei einem Treffen mit Warburg-Vertretern hat Frau P., Sachgebietsleiterin im Finanzamt für Großunternehmen, die Botschaft zwar überbracht, den Vermerk aber nicht offiziell übergeben – zur Wut der Betriebsprüfenden. Frau P. wollte Rückendeckung von der Finanzbehörde und schrieb daraufhin einen 28-seitigen Vermerk. In diesem listete sie akribisch auf, warum sie zu dem Entschluss kam, dass die erstattete Steuer zurückgefordert werden müsse.
Schon damals war die enge Verstrickung zwischen der Warburg-Bank und dem Cum-Ex-Architekten Hanno Berger bekannt. Frau P. listete sogar minutiös auf, warum die Bank grob fahrlässig gehandelt hatte und deshalb eine Rücknahme der Steueranrechnung legitim war. Damit war die Sache eigentlich klar: Nach Ansicht des Finanzamts müsste Warburg die zu Unrecht erhaltenen Gelder zurückzahlen.
Doch im entscheidenden Gespräch zwischen Finanzamt und Finanzbehörde vollzog sich unerwartet eine Kehrtwende: Die Finanzbehörde lehnte die Rückzahlung ab, alle Beteiligten plädierten einvernehmlich dafür, dass Warburg die Steuern behalten darf. Zeugenaussagen konnten nicht glaubwürdig begründen, was zu diesem Umschwung geführt hatte. Die Tagebücher des Mitinhabers der Warburg Bank Christian Olearius enthüllten, dass Frau P. ihm empfohlen hatte, »politischen Beistand« einzuholen. War das also der Grund, warum die Finanzbehörde entschied, der Warburg Bank die 47 Millionen zu schenken?
Obwohl Frau P. in ihrem Papier steuerrechtlich bewiesen hatte, dass die Bank illegale Cum-Ex-Geschäfte abgewickelt hatte, war der Sachverhalt angeblich nicht ausreichend geklärt. Für eine Rückforderung der Gelder hätten alle Lieferketten nachgewiesen werden müssen. Christoph Spengel, Professor für Steuerrecht und Finanzexperte, entgegnete darauf jedoch im Ausschuss: »Lieferketten vollständig nachweisen zu wollen, ist bei diesen Geschäften mit internationalem Bezug unmöglich und auch gar nicht nötig.« Denn wenn das Finanzamt Probleme hat, den Sachverhalt aufzuklären, dann muss der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungs- und Aufklärungspflicht nachkommen und beweisen, dass er die Steuern, die er sich hat rückerstatten lassen, auch tatsächlich gezahlt hat. Dass Frau P. die Warburg Bank nicht aufforderte, genau das zu tun, ist skandalös.
Genau zwischen dem ursprünglichen Entschluss des Finanzamts, die Steuer rückzufordern, und der plötzlichen Umentscheidung, dies doch nicht zu tun, liegen die beiden Treffen von Scholz und Olearius. Zu diesem Zeitpunkt wusste Scholz mindestens aus der Presse, dass die Staatsanwaltschaft gegen das Bankhaus aufgrund der Verwicklungen in Cum-Ex-Geschäfte ermittelt. Per Telefon verwies Scholz Olearius dann an seinen Finanzsenator Peter Tschentscher: Dem solle Olearius das Argumentationspapier der Bank schicken. Scholz behauptet, dies böte keinen Anlass zum Verdacht der politischen Einflussnahme, sondern entspräche dem normalen Dienstweg – dabei lag das Papier schon längst beim Finanzamt.
Die Argumente, die in diesem Papier dargelegt wurden, sollten den Finanzsenator offensichtlich überzeugen – und genau das hat auch funktioniert. Der Verdacht des politischen Einflusses von ganz oben ist also alles andere als aus der Luft gegriffen. Seitenlang erklärt die Bank, dass an den Cum-Ex-Geschäften nichts illegal sei. Falls doch, dann seien sie nicht beteiligt gewesen. Und sollten sie doch beteiligt gewesen sein, dann wussten sie davon nichts. Aus der Schlinge ziehen kann man sich mit dieser ohnehin wenig glaubwürdigen Darlegung allerdings nicht. Die Abgabenordnung, also das Gesetzbuch für Steuern, ist hier sehr eindeutig: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Das wusste auch Frau P.. Doch laut Zeugenaussagen sei die Finanzverwaltung sehr besorgt darüber gewesen, dass die Bank durch die Steuerrückforderung pleitegehen würde und die Beamten eine Amtshaftungsklage fürchteten.
Stichhaltig ist dieses Argument nicht. Schon im Frühjahr 2016 schien man sich bei Warburg wegen möglicher Steuerrückforderungen Sorgen zu machen, da die beiden Bankeninhaber Olearius und Warburg einen Schuldbeitritt vollzogen – also gewissermaßen für die Bank bürgten. Außerdem darf die Angst einer Klage bei einer Ermessensentscheidung nie eine Rolle spielen. Hinzu kommt: Allen Beteiligten war bewusst, dass die Rückforderung der Steuer am Ende des Jahres verjähren wird, wenn man den Steuerbescheid nicht ändert. Warum man sich wohl wissend dagegen entschied, ist unerklärlich.
Im gesamten Prozess der Aufklärung fehlte nicht nur geschultes und spezialisiertes Personal – es fehlte grundsätzlich an Personal. Davon profitierten vor allem die Banker. Der Personalmangel in den Finanzämtern ist keine Eigenheit Hamburgs, sondern ist deutschlandweit ein Problem. Im Jahr 2018 arbeiteten in den Finanzämtern 4.500 weniger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als noch 2009 und in der ganzen Finanzverwaltung fehlen etwa 16.000 Stellen. Jeder Betriebsprüfer oder Steuerfahnder holt im Jahr durchschnittlich 1 bis 1,5 Millionen Euro ein – anstatt Stellen zu kürzen, würde es sich finanziell also viel stärker auszahlen, in den Ausbau der Behörden zu investieren. Der Sparzwang der Regierung sieht allerdings anderes vor. Die Banken danken.
Cum-Ex-Geschäfte konnten im großen Stil erst dadurch realisiert werden, dass weite Teile der Finanz- und Beratungsindustrie, darunter auch große Anwaltskanzleien, mitbeteiligt waren. Der Zeitpunkt für die An- und Verkäufe musste zwischen mehreren Akteuren präzise abgestimmt werden. Hanno Berger, der vor seiner kriminellen Karriere selbst im Finanzamt Frankfurt arbeitete, beförderte Cum-Ex-Geschäfte. Er sicherte sie vermeintlich rechtlich ab und bezahlte Wissenschaftler für Aufsätze, in denen genau das geschrieben stand, was er wollte. Mit diesem Material und angeblichen Amtshaftungsklagen wurden später Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter eingeschüchtert, die Cum-Ex-Fälle auf dem Tisch hatten.
Die Zeugenaussagen im Hamburger Untersuchungsausschuss lassen ein ähnliches Vorgehen erkennbar werden. Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) – also die oberste Bundesbehörde, die die Steuerverwaltung überwacht – versuchte 2007, Cum-Ex-Betrug durch das Jahressteuergesetz zu unterbinden. Ein Mitarbeiter des BMF baute daraufhin Formulierungen aus einem Positionspapier des Bankenverbandes in den Text ein – wofür ihn die Bankenlobby ordentlich bezahlte. Die Cum-Ex-Räuber hatten es damit nicht schwerer, sondern sogar noch leichter ihre Geschäfte für legal zu erklären. 2012 hat das Bundesministerium der Finanzen den illegalen Geschäften dann endlich einen Riegel vorgeschoben. Doch schon jetzt gibt es mehrere Hinweise darauf, dass Cum-Ex-ähnliche Modelle immer noch genutzt werden. Welche krummen Finanzprodukte momentan im Umlauf sind, werden wir vermutlich erst Jahre später erfahren.
Am Ende ist alles ziemlich leicht erklärt: Obwohl die Indizien für eine Rückforderung auf dem Tisch lagen, wurde sie von der Finanzbehörde verhindert. Das war politisch so gewollt. Wenn der aktuelle Finanzminister und Kanzlerkandidat Scholz frech behauptet, er könne sich an fast nichts erinnern – zu einer Zeit, in der sich die ganze Bankenwelt und sämtliche Steuerrechtler mit Cum-Ex auseinandersetzen –, ist das schlichtweg nicht ehrlich. Was bei der Bevölkerung bleibt, ist das Gefühl, der Korruption machtlos ausgeliefert zu sein.
Vivien Otten ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro David Stoop und arbeitet für die Linksfraktion Hamburg im Untersuchungsausschuss Cum-Ex.
Vivien Otten ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro David Stoop und arbeitet für die Linksfraktion Hamburg im Untersuchungsausschuss Cum-Ex.