19. Juni 2023
Heute vor 120 Jahren wurde Hans Litten geboren. Als antifaschistischer Rechtsanwalt in der Weimarer Republik verteidigte er Sozialisten, Kommunisten und Opfer von Naziüberfällen – und brachte dabei Hitler höchstpersönlich vor Gericht.
»Der junge Assessor« Hans Litten, Datum unbekannt.
Der junge Rechtsanwalt ist fassungslos. Gerade hat er als Verteidiger zweier Journalisten erleben müssen, wie diese in einem Schnellprozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit wegen angeblichen »Landesverrats« verurteilt wurden. Alle seine Beweisanträge wurden abgeschmettert, dabei hatte er mit einem eindeutigen Freispruch gerechnet. »Der Anfang vom Ende des deutschen Rechtsstaats. Und ich war dabei!«, sagt er seufzend, und braucht nach diesem Schock erst einmal einen Schnaps.
Es ist nicht der echte Hans Litten, den man hier sieht, sondern der Schauspieler Trystan Pütter, der den jungen Anwalt in der Serie Babylon Berlin verkörpert. Das verlorene Verfahren ist dem Weltbühnenprozess vom November 1931 nachempfunden. In diesem waren Walter Kreiser, Journalist der Wochenzeitschrift Weltbühne, sowie Carl von Ossietzky als deren Herausgeber wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse angeklagt, da Kreiser die heimliche Aufrüstung der Luftwaffe aufgedeckt hatte. Verteidigt wurden sie von den renommierten Anwälten Max Alsberg, Kurt Rosenfeld, Alfred Apfel und Rudolf Olden, nicht jedoch von Hans Litten – eine kleine künstlerische Freiheit der Drehbuchautoren.
Litten erscheint hier als etwas naiver Linksliberaler, dessen Vertrauen in das Justizsystem der Weimarer Republik in diesem Moment erschüttert wird – eine Porträtierung, die ihm kaum gerecht wird. Seine Mandantschaft bestand zu einem großen Teil aus Kommunisten, Anarchisten und revolutionären Sozialisten, an deren Seite Litten politisch stand, auch wenn er selbst nicht Mitglied einer Partei war. Ein unabhängiger Kopf, undogmatisch, aber auch ein überzeugter Marxist, für den »das Recht ein Überbau der sozialen Gegebenheiten« war und die Weimarer Justiz eine Klassenjustiz. Eine Weltanschauung, die ihm keineswegs in die Wiege gelegt war.
Hans Litten wird am 19. Juni 1903 in Halle an der Saale in eine großbürgerliche, konservative Familie geboren. Sein Vater tritt bald darauf eine Professur für Rechtswissenschaft an der Universität Königsberg an, wo Hans aufwächst. Schon früh gerät er in Konflikt mit verschiedenen Autoritäten, nicht zuletzt mit seinem Vater, der die Republik ablehnt und in dessen Haus die angesehene, erzkonservative Königsberger Elite verkehrt. Hans’ Freund Max Fürst berichtet später eine vielzitierte Anekdote, nach der Hans auf die Frage, ob man ein Bild von Hindenburg in der Schule aufhängen solle, geantwortet habe, er sei schon immer dafür gewesen, ihn aufzuhängen. Das habe fast zu seinem Rauswurf aus der Schule geführt.
Als Akt der Rebellion gegen den Vater ist wohl auch seine »Rückkehr« zum Judentum zu verstehen. Sein Großvater war Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Königsberg gewesen, der Vater aber schon vor Hans’ Geburt zum Christentum konvertiert, was dieser despektierlich als »Karrieretaufe« bezeichnet. Die Konversion führt ihn in die Reihen der jüdischen Jugendbewegung, wo er sich dem nichtzionistischen deutsch-jüdischen Wanderbund Kameraden anschließt und bald eine zentrale Figur von dessen Königsberger Gruppe wird. Dort entwickelt er ein für viele seltsam anmutendes religiös-politisches Weltbild, das der sozialistische Publizist Kurt Hiller später als »Gemisch aus anarchosozialistischen, katholisch-absolutistisch-barocken und urchristlichen Elementen, aus 20., 17. und 1. Jahrhundert« bezeichnet.
»Litten will die Gerichtsverhandlung zur Bühne umfunktionieren, auf der die Weimarer Justiz als rechtslastig und Autoritäten wie Noske als die wahren Kriminellen entlarvt werden sollen.«
Von jüdischer Mystik inspiriert wendet sich Litten dem Metaphysischen zu, verlässt sich aber zugleich auf den Marxismus, um die Gesellschaft zu analysieren und Klassenkampf und Sozialismus zu propagieren. In der bald in Schwarzer Haufen umbenannten Königsberger Gruppe der Kameraden treibt er beides voran. Für ihn muss die Jugendbewegung politisch sein, was für den Schwarzen Haufen zumindest irgendeine Form von Sozialismus bedeutet, auch wenn er weit davon entfernt ist, einer einheitlichen Linie zu folgen.
So stößt es auch auf erbosten Widerspruch von Litten, als der Jugendverband der KPD versucht, den Schwarzen Haufen zum kollektiven Übertritt zu bewegen. Dieser soll parteipolitisch offen bleiben. Max Fürst, ebenfalls Mitglied im Schwarzen Haufen, meint später in seinen Lebenserinnerungen, dieser habe »zwischen Stefan George, Karl Marx und Lenin« seinen Weg gesucht. Der Bundesleitung der Kameraden gefällt das Treiben der »politisierten Königsberger Abweichler« allerdings gar nicht – nach großen Auseinandersetzungen werden diese und rund 250 sympathisierende Jugendliche 1927 ausgeschlossen. Ein Jahr später löst sich der Schwarze Haufen auf.
Viele von ihnen nehmen das zum Anlass, in die KPD und deren Jugendverband einzutreten, nicht jedoch Max Fürst und Hans Litten. Beide leben inzwischen in Berlin, wo Litten im selben Jahr sein Assessorexamen ablegt und als Rechtsanwalt in der Kanzlei des linken Anwalts Ludwig Barbasch tätig wird. Von diesem übernimmt er den Mandanten Ernst Friedrich, einen pazifistischen Anarchisten, der unter anderem das (heute wieder existierende) Berliner Anti-Kriegs-Museum gegründet hat. Friedrich hat einen Prozess wegen Beleidigung am Hals, weil er den ehemaligen Reichswehrminister der SPD, Gustav Noske, in seiner Zeitschrift Die Schwarze Fahne einen »Lump« und »Schurken« genannt hat.
Dies ist Littens erster Prozess und er trägt schon viel von der Handschrift, die ihn nach kurzer Zeit zumindest in Berlin bekannt machen soll: Litten will die Gerichtsverhandlung mit größtmöglicher Öffentlichkeit zur Bühne umfunktionieren, auf der die Weimarer Justiz als rechtslastig und Autoritäten wie Noske als die wahren Kriminellen entlarvt werden sollen. Hierzu beantragt er die Ladung zahlreicher Sachverständiger, die bekunden sollen, dass die Bezeichnungen »Lump« und »Schurke« zutreffende Wertungen seien, sowie die Ladung von Noske selbst.
Als das Gericht diesem Antrag nicht folgt und Friedrich zu einem Monat Gefängnisstrafe verurteilt wird, organisiert Litten wenige Tage nach dem Urteil eine große Demonstration, auf der die Sachverständigen sprechen. Sein Plädoyer, das sich ausführlich mit Noskes Rolle bei der Niederschlagung der Novemberrevolution befasst, wird nachfolgend in der Schwarzen Fahne abgedruckt.
»Die Folge: 33 Tote, erschossen von der Berliner Polizei – darunter auch Unbeteiligte wie ein SPD-Bezirkskassierer auf dem Heimweg und der neuseeländische Journalist Charles Mackay.«
Alle juristischen Mittel auszuschöpfen und zugleich die Öffentlichkeit zu mobilisieren, wird zu Littens Markenzeichen. Als sich am 1. Mai 1929 trotz Verbots durch den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Zörgiebel tausende Demonstrierende dem Aufruf der KPD folgend zur traditionellen Maidemonstration versammeln, setzt die Polizei auf massive Gewaltanwendung. Zahlreiche Demonstrierende und Schaulustige werden misshandelt, die Polizei setzt im Laufe des Tages immer wieder Schusswaffen ein, stürmt Häuser und nimmt über 1.200 Menschen fest. Die Folge: 33 Tote, erschossen von der Berliner Polizei – darunter auch Unbeteiligte wie ein SPD-Bezirkskassierer auf dem Heimweg und der neuseeländische Journalist Charles Mackay.
Die Ereignisse lösen bis weit ins bürgerliche Lager hinein Entsetzen aus, ein »Ausschuss zur Untersuchung der Berliner Mai-Vorgänge« wird gebildet, dem neben anerkannten Persönlichkeiten aus dem linksliberalen Spektrum der Weimarer Republik wie Carl von Ossietzky, Heinrich Mann, Alfred Döblin und Egon Erwin Kisch auch Hans Litten angehört. Er hatte selbst Polizeigewalt beobachtet und wurde beim Versuch, die Namen der Betroffenen aufzunehmen, um später ihre Zeugenaussagen einholen zu können, ebenfalls von Polizisten misshandelt.
Die »Maiereignisse« beschäftigen ihn die nächsten zwei Jahre sowohl politisch als auch beruflich. Dabei hatte er stets Zörgiebel im Visier: So stellt er gegen den Polizeipräsidenten und seinen Vize Bernhard Weiß Strafanzeige wegen Anstiftung zum Mord in 33 Fällen, worüber er auch die Öffentlichkeit informiert. Vor allem aber versucht Litten, die zahlreichen Prozesse gegen Kommunisten, die am 1. Mai auf die Straße gegangen waren, umzufunktionieren: Als es ihm gelingt, eine Ladung von Zörgiebel als Zeugen für einen exzessiven Schießbefehl an diesem Tag durchzusetzen, bezeichnet er ihn in seinem Plädoyer als Mörder und fordert ihn auf, doch einen Strafantrag wegen Beleidigung zu stellen. Zörgiebel tut ihm den Gefallen nicht, dennoch erregen diese Prozesse in Berlin schnell große Aufmerksamkeit.
»Nur weil Kollegen ihm ab und zu Mandate abgeben, die ihm etwas Einkommen bescheren, kann Litten überhaupt wirtschaftlich überleben.«
Die meisten seiner Mandate werden Litten über die Organisation Rote Hilfe vermittelt, die das Ziel verfolgt, »verhafteten und angeklagten revolutionären Kämpfern Rechtschutz zu gewähren, sie im Gefängnis vor dem Verhungern zu bewahren und für ihre Frauen und Kinder zu sorgen«. Sie ist zwar offiziell überparteilich, aber die KPD übt in ihr einen großen Einfluss aus. Viele der von ihr beauftragten Anwälte stehen der KPD nahe oder sind in dieser Mitglied, wobei Litten aber bei weitem nicht der einzige unabhängige Sozialist ist. Seine politische und wohl auch persönliche Unangepasstheit führt allerdings dazu, dass die Zusammenarbeit mit der Roten Hilfe nicht immer reibungslos vonstatten geht. Diese schätzt ihn als eine Person mit »anarchistischen Tendenzen« ein. Ein Polizeispitzel berichtet gar, dass Litten »bei der R.H. sehr unbeliebt sei. Es gäbe ewig Krach mit ihm«.
Dass die Rote Hilfe ihm in den Jahren vor 1933 immer weniger zahlt, hat aber einen anderen Grund: Ihre Ressourcen sind durch die vielen Prozesse stark dezimiert. Litten muss sich Geld leihen, bittet seine Mutter, ihm einen Teil einer Erbschaft zu überweisen und schimpft in einem Brief an sie auf die »Schweine von der Steuer«, die ihm keine Stundung gewähren wollen. Nur weil Kollegen ihm ab und zu Mandate abgeben, die ihm etwas Einkommen bescheren, kann er überhaupt wirtschaftlich überleben. An seinem außergewöhnlichen Engagement ändert dies nichts. Seine Freunde berichten, dass er wie ein Workaholic aus dem Bilderbuch an sieben Tagen die Woche teilweise bis tief in die Nacht hinein arbeitet, Akten wälzt, neue Zeuginnen und Zeugen sucht. Ein Pensum, das auf Dauer an seiner Gesundheit nagt.
Gefährlicher sind jedoch kurz- wie langfristig die erbitterten Feindschaften, die aus der zweiten Art von Prozessen folgen, die Litten hauptsächlich führt. Nämlich vertritt er Opfer von SA-Übergriffen, insbesondere durch Mitglieder des sogenannten Mordsturms 33. Litten versucht in den Prozessen den Nachweis zu erbringen, dass die einzelnen Übergriffe Teil einer Strategie der NSDAP sind. In einem dieser Verfahren, dem sogenannten Edenpalast-Prozess (benannt nach dem Tanzlokal, das von SA-Angehörigen überfallen wurde), gelingt ihm das, was heute meist als erstes im Zusammenhang mit seinem Namen genannt wird und ihn womöglich später das Leben kosten wird: Die Ladung und Zeugenbefragung von Adolf Hitler.
Am 8. Mai 1931 soll dieser darüber aussagen, ob Aktionen wie der Überfall auf den Edenpalast von der Parteiführung erwünscht oder verurteilt werden. Hitler hat kurz zuvor bereits einen Legalitätseid abgelegt: Am 25. September 1930 beteuerte er in einem anderen Prozess, in dem Offiziere der Reichswehr wegen Hochverrats angeklagt waren, dass die NSDAP nur auf verfassungsgemäßem Wege an die Macht kommen wolle. Nun wird er unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit inklusive versammelter Hauptstadtpresse von Litten befragt und gerät dabei zunehmend in die Defensive.
»Hitler gerät ins Schwimmen, beruft sich auf Formalitäten schreit Litten schließlich mit hochrotem Kopf an.«
Litten ist gut vorbereitet und hält Hitler zahlreiche Zitate insbesondere des Propagandachefs Joseph Goebbels vor, die so gar nicht nach dem Plan einer legalen Machteroberung klingen, sondern nach gewaltsamem Umsturz. Hitler gerät ins Schwimmen, meint, man müsse hierzu Goebbels selbst hören und beruft sich auf Formalitäten wie den Hinweis, dass dessen Schrift kein Parteiwappen trägt und deshalb nicht der Partei zuzurechnen sei. Schließlich schreit er Litten mit hochrotem Kopf an: »Wie kommen Sie dazu, Herr Rechtsanwalt, zu sagen, das ist eine Aufforderung zur Illegalität? Das ist eine durch nichts zu beweisende Erklärung!«
Insgesamt macht Hitler vielen Anwesenden zufolge in dieser Vernehmung eine ausgesprochen schlechte Figur. Sein eigener Propagandachef verbreitet Aufforderungen zum gewaltsamen Umsturz in hunderttausendfacher Auflage, und er, der unangefochtene Parteiführer, will davon nichts wissen? Dies sogar missbilligen, jedenfalls aber als Privataussage verstehen?
Die meisten Beobachter bekommen den Eindruck, dass Litten Hitler ordentlich ins Schwitzen gebracht hat. Schon bald zeigt sich, wie tief die Nazis hierdurch getroffen sind. In ihrer Presse wird ab jetzt regelmäßig gegen Litten gehetzt, bis hin zu kaum verhohlenen Mordaufrufen. Litten beantragt daraufhin die Erlaubnis zum Führen einer Schusswaffe, die mit der Begründung abgelehnt wird, dass der »allgemeine Polizeischutz« ausreichend sei. Da dies offenkundig absurd ist, stellt ihm die Rote Hilfe zeitweise Leibwächter.
Spätestens ab 1932 wird die rechtsstaatliche Luft für engagierte Strafverteidiger wie Litten dünner. In einem weiteren Prozess zu einem Nazi-Überfall auf eine Arbeitersiedlung, in dem er erneut die Nebenklage vertritt, wird er wegen angeblichen »Missbrauchs der Rechte des Verteidigers zu politischen Zwecken« von dem Prozess ausgeschlossen. Er würde den Prozess in die Länge ziehen und »hemmungslose parteipolitische Propaganda« treiben.
Litten versucht, am nächsten Verhandlungstag trotzdem zu erscheinen, wird aber durch die Justizpolizei daran gehindert. Der Ausschluss wird bald darauf von der nächsthöheren Instanz kassiert, weil eine Störungsabsicht bei Litten nicht offenkundig sei, allerdings erklären sich die Richter nunmehr selbst für befangen und setzen den Prozess aus. In einem neuen Prozess wird er erneut ausgeschlossen, nun wegen einer angeblichen strafbaren Begünstigung eines Mandanten. Dieses Mal hält die Entscheidung in der höheren Instanz. Die angeklagten SA-Männer werden bald darauf verurteilt, aber aufgrund einer Weihnachtsamnestie für politische Straftaten im Dezember 1932 alle entlassen.
Im August 1932 werden durch eine Notverordnung Sondergerichte für politisch motivierte Gewalttaten geschaffen. Diese sollen schneller urteilen und zu härteren Strafen (bis hin zur Todesstrafe) führen, was unter anderem dadurch gewährleistet werden soll, dass die Verteidigungsrechte stark eingeschränkt und die Möglichkeit, Rechtsmittel gegen Urteile einzulegen, ausgeschlossen wird. »Schnelljustiz«, »Terrorverordnung«, »Justizmord« – so klingen nicht nur die Urteile der kommunistischen Presse, sondern auch von liberalen Beobachtern.
»Die Justiz hat schon längst die Kommunisten als die Hauptfeinde ausgemacht und nimmt SA-Männer höchstens als tumbe Schläger, nicht aber als Teil einer politischen Großgefahr wahr.«
Umso sensationeller, dass Litten in einem Prozess wegen einer Schießerei zwischen Kommunisten und der SA vor dem Sondergericht noch ein letztes Mal einen großen Erfolg erzielt. Durch seine Befragungen kommt heraus, dass nicht die angeklagten Kommunisten, denen die Todesstrafe droht, sondern die SA-Männer die Angreifer waren, zahlreiche Belastungszeugen der NSDAP nahestehen und ihre Aussagen abgesprochen haben. Im Oktober 1932 erfolgt der Freispruch für alle Angeklagten. Ein letzter Sieg des engagierten Verteidigers über eine Justiz, die schon längst die Kommunisten als die Hauptfeinde ausgemacht hat und SA-Männer höchstens als tumbe Schläger, nicht aber als Teil einer politischen Großgefahr wahrnimmt.
Angesichts dessen wird es verständlicher, dass Litten und seine Kollegen die Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 zunächst nicht als große Zäsur empfinden. Littens Freund Max Fürst beschreibt dies später so: »Es waren so viele, zum Teil furchtbare Regierungen gekommen und gegangen. […] Wir lebten schon längst unter einer Diktatur, und es waren dieselben Kräfte, die hinter Papen, Hugenberg und Hitler standen.« Litten selbst hatte schon kurz zuvor erklärt, er sehe keinen Sinn darin, seinen Stil zu mäßigen, da es »ohnehin nicht lange mehr mit unserem Rechtswesen dauern« werde. Zunächst unterscheidet sich die Arbeit von Justiz und Anwaltschaft auch nicht groß von den Monaten zuvor.
Mit dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 ändert sich dies aber schlagartig. Litten wird verhaftet und in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz, die »Rote Burg« gebracht. Hier treffen an diesem Morgen zahlreiche gute Bekannte zusammen. Der Journalist Egon Erwin Kisch freut sich nach seiner Verhaftung zunächst, dort seinen Anwalt Alfred Apfel zu sehen, bis er realisiert, dass dieser ebenfalls als Häftling dort ist. Kisch beschreibt die absurde Szenerie später so: »Die Bänke sind besetzt, der Raum dazwischen ist verstellt: Der gesamte Kulturbolschewismus soll hier Sitz oder Stand finden. Alle kennen einander, und immer, wenn ein neuer von Polizisten hereingeschleppt wird, begrüßen ihn alle.«
Von diesen »Prominenten« werden viele in den folgenden Wochen und Monaten, teils nach Folter und Misshandlung, wieder entlassen – nicht so Hans Litten, der nie wieder die Freiheit erlangen soll, sondern die nächsten fünf Jahre in einem halben Dutzend verschiedener Konzentrationslager verbringt. Seine Mutter versucht, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um seine Freilassung zu erwirken, und nutzt dabei ihre guten Kontakte in höhere Kreise, doch ist alles vergebens: Hitler hatte die Befragung durch Litten offenbar nicht vergessen. Roland Freisler, der künftige Vorsitzende des Volksgerichtshofes, sagte später, dass niemand etwas für Litten erreichen werde, da Hitler blaurot im Gesicht angelaufen war, als er den Namen hörte. Der ebenfalls um Hilfe ersuchte Kronprinz der Hohenzollern, Wilhelm von Preußen, der die Nazis schon vor 1933 unterstützt hatte, erntet von Hitler ebenfalls eine erboste Absage: »Wer für Litten eintritt, fliegt ins Lager, selbst wenn Sie es sind!«
Auch international bekommt der »Fall Litten« durch das Engagement seiner Mutter große Aufmerksamkeit. Der britische Lord Clifford Allen wendet sich an den deutschen Botschafter Joachim von Ribbentrop, der sich aber zur absurden Einschätzung versteigt, dass Litten »einer der geistigen Führer des Kommunismus in Deutschland« und damit ein »unverbesserlicher Feind der menschlichen Gesellschaft« sei, weswegen eine Freilassung niemals infrage käme. Auch zahlreiche Petitionen, unter anderem eine von hundert englischen Juristen, verpuffen wirkungslos.
Irmgard Litten dokumentiert ihren mutigen Kampf in einem erstmals 1940 erschienenen Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt wird und große Verbreitung insbesondere in England und den USA findet. Es wird unter anderem von der amerikanischen First Lady Eleanor Roosevelt empfohlen, die meint, man könne »nur stolz auf die ganze Menschheit sein, dass solche Menschen wie Hans Litten und seine Mutter in der Welt gelebt und den Glauben bis zum Ende bewahrt haben«.
Hans Litten erlebt dies nicht mehr. Um erneuter schwerer Folter zu entgehen, erhängt er sich in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1938 im KZ Dachau. Seine Mutter emigriert nach England, ruft dort über die BBC die Deutschen zum Widerstand auf und kehrt 1949 in die Bundesrepublik Deutschland zurück, wird dort aber zurückhaltend empfangen und muss sich mit dem neuen deutschen Staat über Entschädigung und den Pensionsanspruch ihres Mannes streiten. 1951 geht sie nach Ost-Berlin, wo Teile ihrer Familie leben und bleibt dort bis zu ihrem Tod zwei Jahre später. In der DDR erscheint ihr Buch erstmals auf Deutsch und ihr Sohn erfährt als Märtyrer große Ehrungen. Beispielsweise wird die Straße, in der das Ostberliner Kammergericht (heute Gebäude des Landgerichts Berlin) liegt, in Littenstraße umbenannt.
»Die über 14 Millionen Zuschauer von Babylon Berlin bekommen einen sympathischen, engagierten, linksliberalen Hans Litten zu sehen, der ehrlich empört und erschüttert ist, wenn die Justiz am Ende der Weimarer Republik sich nicht mehr an rechtsstaatliche Spielregeln hält.«
Die BRD hingegen vergisst Hans Litten zunächst vollständig. Erst Ende der 1980er Jahre beginnen sich insbesondere linke Juristinnen und Juristen, die auf der Suche nach einer progressiven Tradition ihres Berufsstands sind, mit ihm zu beschäftigen. Das Buch Irmgard Littens erscheint zum ersten Mal in der BRD, die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen verleiht 1988 zum ersten Mal ihren Hans-Litten-Preis, der seitdem alle zwei Jahre an Juristinnen und Juristen verliehen wird, die in besonders hohem Maße demokratisches Engagement bewiesen haben.
Ende der 1990er Jahre beginnt dann eine »Umarmung« und Eingemeindung in den liberalen Mainstream: Wollte 1992 die Berliner CDU die Littenstraße noch umbenennen, kann man schon 1998 im Anwaltsblatt des Deutschen Anwaltvereins in einer Erinnerung an den »unvergessenen Anwalt« von Littens heroischem Kampf lesen, nicht allerdings ohne den Hinweis, dass dieser natürlich kein Kommunist gewesen sei. Zum Jahreswechsel 2000/01 bezieht die Bundesrechtsanwaltskammer ihr neues Büro in der Littenstraße, an dem heute eine Gedenktafel für Hans Litten hängt. Aus diesem Anlass wird auch das Gebäude nach ihm benannt.
Und die über 14 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer von Babylon Berlin? Sie bekommen einen sympathischen, engagierten, linksliberalen Hans Litten zu sehen, der ehrlich empört und erschüttert ist, wenn die Justiz am Ende der Weimarer Republik sich nicht mehr an rechtsstaatliche Spielregeln hält. Eine empathisch entworfene Figur, eine Nebenrolle mit kleinem Heldenstatus, sympathisch und hochengagiert, was sicher alles auf ihn zutraf – aber auch ein bisschen brav. Das ist sicherlich gutes Fernsehen und das Hans-Litten-Archiv, das Zeugnisse der Solidaritätsorganisationen wie der Roten Hilfe sammelt und dafür schon vom Verfassungsschutz als »extremistisch« verleumdet wurde, freut sich bestimmt zu Recht, dass Litten zum ersten Mal einem Millionenpublikum bekanntgemacht wird durch die Serie. Aber mit dem echten Hans Litten, dem revolutionären Marxisten, hat die dortige Darstellung nur eingeschränkt etwas zu tun.
André Paschke ist Jurist. Er promoviert zur Zeit zu einem völkerstrafrechtlichen Thema.