10. Oktober 2022
Deutschlands Rechtspopulisten verdoppelten in Niedersachsen ihr Ergebnis. Es hätte nicht so kommen müssen.
Die rechte AfD inszeniert sich als Stimme derjenigen, die sich von der SPD nicht repräsentiert fühlen – eine Strategie, die sich bei der gestrigen Wahl leider bezahlt gemacht hat, Hannover, 9. September 2022.
IMAGO / Sven SimonDie Reaktion des politischen Zentrums in Deutschland auf Wahlerfolge der Rechten ist inzwischen einigermaßen routiniert. Sie werden mit resigniertem Ekel hingenommen: Die politische Versuchung des Rechtspopulismus sei für einen bestimmten Teil der Bevölkerung nun einmal zu groß. Gefährlich und bedauernswert, sicherlich, aber Abhilfe gäbe es da keine.
Mit dieser Haltung der erlernten Hilflosigkeit weist die politische Klasse jegliche Eigenverantwortung für das Erstarken der AfD inmitten von Krieg und Energiekrise von sich. Damit macht sie es sich zu einfach. Es wäre auch in diesem turbulenten Jahr ohne Probleme möglich gewesen, die Grundbedürfnisse der Menschen konsequent zu priorisieren und den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Während der Coronapandemie gelang das nicht immer – Eltern wurden alleine gelassen, Menschen am Rand der Gesellschaft fielen durchs Raster, der notwendige Ausbau der sozialen Infrastruktur und insbesondere der psychischen Gesundheitsversorgung wurde ignoriert. Dennoch wurde wenigstens der Versuch unternommen, verschiedene Gruppen spürbar finanziell abzusichern. Auch deshalb konnte die Rechte das Thema Corona nicht erfolgreich für sich besetzen.
Das gleiche linksliberale Establishment, das nun angesichts rechter Wahlerfolge die Hände über dem Kopf zusammen schlägt, wollte an der Energiekrise unbedingt ein Exempel statuieren: Dieses Mal zieht euch der Staat nicht mehr aus dem Schlamassel, dieses Mal müssen notwendige Anpassungen über den Markt erfolgen.
»Mit ihren Forderungen nach einer Rückkehr zur fossilen Energieversorgung aus Russland und einer harten Währungspolitik durch Zinserhöhungen der EZB verspricht die AfD ihren Wählerinnen und Wählern im Wesentlichen eine Neuauflage des alten deutschen Exportmodells.«
Bis weit ins rot-grüne Lager verbreitete sich die Sorge, eine Dauerintervention der Regierung in der Polykrise könnte politische Begehrlichkeiten wecken, die sich irgendwann nicht mehr kontrollieren lassen würden. Anders kann man das Herumlavieren zwischen Gasumlage und Gaspreisdeckel, restriktiver Geld- und Fiskalpolitik und Hilfspaketen in Rekordhöhe kaum erklären. Die Verantwortung dafür liegt nicht allein beim FDP-Finanzminister. Vielmehr agiert die gesamte Regierung und auch die CDU-Opposition seit Monaten orientierungslos und lässt sich von den Entwicklungen treiben.
Zukunftsängste und ökonomische Unsicherheit sind nie der alleinige Grund, warum Menschen der radikalen Rechten auf den Leim gehen. Und doch muss man nüchtern feststellen, dass die AfD mit der Inflation und den kriegsbedingten Energieknappheiten Themen gefunden hat, die sie unter Wählerinnen und Wählern, die sich an den regressiven gesellschaftspolitischen Positionen der Partei zumindest nicht stören, wieder anschlussfähig gemacht hat. Es wäre nicht notwendig gewesen, ihr eine derartige sozialpolitische Steilvorlage zu liefern.
Mit ihren Forderungen nach einer Rückkehr zur fossilen Energieversorgung aus Russland – und zwar dauerhaft – und einer harten Währungspolitik durch Zinserhöhungen der EZB verspricht die AfD ihren Wählerinnen und Wählern im Wesentlichen eine Neuauflage des alten deutschen Exportmodells. Dass die Weltwirtschaft eine andere ist als in den 1980er Jahren und dass diese Wirtschaftspolitik enorme soziale Verwerfungen nach sich ziehen würde, verschweigt die Partei. Aber immerhin scheinen ihre Vorschläge an ein konkretes Erfolgsmodell aus der Vergangenheit anzuknüpfen – anders als die der gesellschaftlichen Linken, deren Zukunftsvision schwammig bleibt.
Dass die Linkspartei die Hälfte ihrer Stimmen verlor und endgültig auf den Status einer Kleinpartei herabgefallen ist, dass die Proteste gegen die ungerechte Verteilung der Krisenfolgen zu großen Teil von rechts und nicht von links initiiert und angeführt werden – all das ist ein Menetekel für das gesamte linke Spektrum. Denn es gibt durchaus Überschneidungen zwischen der achselzuckenden Apathie, mit der das politische Zentrum die Erfolge der Rechtspopulisten hinnimmt, und der Haltung der radikalen Linken: Auch hier hält man es vielerorts für irgendwie illegitim, auf den Wunsch nach materieller Sicherheit einzugehen und erhofft sich, dass zunehmende Krisen zu Veränderungen führen würden, sobald die Leute einmal einsehen, dass es so nicht weitergehen kann. Das ist eine Wunschvorstellung.
Wenn der große Aufstand dann ausbleibt, steht man ratlos da und wartet auf die große Bewegung aller Bewegungen. Für Menschen, die täglich mit Existenzängsten kämpfen, ist die naheliegendste Strategie zum Umgang mit Ausbeutung und wirtschaftlicher Unsicherheit eine individualistische und ausschließende: Eine Kultur der Solidarität stellt sich nicht von selbst ein, sie muss immer wieder neu geschaffen werden – durch eine Linke, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Wert propagiert und ein überzeugendes Bild davon zeichnet, wie er für alle ein besseren Leben ermöglichen kann. Diese Entwürfe müssen konkret und kohärent sein, sie können sich nicht darin erschöpfen, Wünschenswertes einfach aufzuzählen.
Die Linke hat gerade keine systemischen Antworten parat – aufgrund ihrer organisatorischen Schwäche, aber auch ihrer intellektuellen Orientierungslosigkeit. Die Menschen, die wir nicht überzeugen konnten, schulden uns nichts, und es ist zwecklos und kontraproduktiv, sich moralisch über sie zu erheben. Hier schließt sich der Kreis zwischen Liberalen und Radikalen: Es ist nicht unsere Schuld, dass wir keine Mehrheiten überzeugen konnten, die Deutschen haben nunmal einen Hang zum Rassismus, da kann man nichts machen – so die Logik.
Für eine rechtspopulistische Partei wie die AfD zu stimmen, ist immer und überall moralisch verwerflich. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Trotzdem ist jede Stimme, die wir an die Rechten verlieren, eine Tragödie. Moralische Haltungen kann man Menschen nicht aufzwingen, aber man kann ihnen politische Antworten liefern, die sie überzeugen. Sowohl das linksliberale Zentrum als auch die sozialistische Linke sollten sich angesichts einer wieder erstarkten Rechten ins Gedächtnis rufen, was in ihrer Macht steht und was nicht.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.