22. Oktober 2021
Es ist aktuell das größte Privatisierungsvorhaben: Berlins rot-grün-roter Senat setzt in einem Wettbewerbsverfahren das öffentliche Nahverkehrssystem aufs Spiel. Dabei wäre eine Kommunalisierung möglich.
Chaos bei der Berliner Ringbahn ist durch das Privatisierungsvorhaben vorprogrammiert.
Im Mai 2020 gab der rot-grün-rote Berliner Senat den Startschuss für ein voluminöses Wettbewerbsverfahren im Verkehrsbereich. Bieterfirmen aus der gesamten EU wurden eingeladen, sich auf den Betrieb zweier Teilnetze der Berliner S-Bahn sowie die Beschaffung und Instandhaltung neuer Züge zu bewerben. Die S-Bahn-Ausschreibung, so schwärmt die federführende grüne Verkehrssenatorin Regine Günther, setze endlich einen Schlussstrich unter die Folgen der S-Bahn-Krise von 2009. Günther erklärt dabei den Wettbewerb zur Lösung aller Probleme: Das Verfahren sei der »Start in eine neue Ära« der attraktiven, leistungsfähigen und umweltfreundlichen Mobilität.
Tatsächlich läutet die Ausschreibung ein acht bis elf Milliarden Euro schweres Privatisierungsvorhaben ein, das aktuell größte in Deutschland. Doch während die Vorteile spekulativ bleiben, sind die Nachteile sehr greifbar: Nach der Privatisierung schöpfen profitorientierte Unternehmen Mittel ab, die eigentlich für die öffentliche Daseinsvorsorge bestimmt sind. Gleichzeitig verschlechtert sich die Beschäftigungssicherheit der Mitarbeiterinnen ebenso wie ihre Arbeitsbedingungen.
Fester Bestandteil des Wettbewerbskonzepts ist die Zerschlagung des S-Bahn-Netzes, denn auf die Nord-Süd-Tangente und die von Ost nach West verlaufende »Stadtbahn« können sich die Bieter auch einzeln bewerben. Zudem ist das dritte Teilnetz, die Ringbahn, bereits bis 2035 an die DB-Tochter S-Bahn Berlin GmbH vergeben worden und nicht Teil des aktuellen Ausschreibungspakets. Dem Berliner S-Bahn-Netz droht also die Aufteilung auf mehrere Betreiber, ein damit einhergehendes Chaos bei den technischen und administrativen Schnittstellen sowie teure und unsinnige Doppelstrukturen. Ein sogenannter »kommunaler Fahrzeugpool« erleichtert neuen Betreibern den Einstieg, die nun nicht mal mehr Fahrzeuge stellen müssen.
Für internationale Eisenbahnunternehmen ist die Berliner S-Bahn durchaus attraktiv: Seit 2013 liegen die jährlichen Gewinne laut den Angaben im Bundesanzeiger zwischen 40 und 70 Millionen Euro. Zwei Konsortien sind mit einem Gesamtangebot für Betrieb, Fahrzeugbeschaffung und Instandhaltung auf den Plan getreten. Die S-Bahn Berlin GmbH, die derzeitige Betreiberin, hat sich für die Ausschreibung mit Siemens und dem Schienenfahrzeughersteller Stadler zusammengetan. Neben dieser Allianz buhlt auch ein Duo aus Alstom und Transdev um die S-Bahn-Teilnetze – und um den lukrativen Auftrag für neue Triebzüge. Laut Presseberichten haben sich außerdem Netinera, eine Tochter der italienischen Staatsbahn, und das Hongkonger Unternehmen MTR um den Betrieb der S-Bahn beworben. Das heißt: Aktuell kann nur ein Zuschlag für alle Teilnetze an das DB-Konsortium eine Zerschlagung verhindern. Mit dem Einstieg von Siemens und Stadler wäre aber auch in diesem Fall eine Teilprivatisierung der Werkstätten vorprogrammiert.
Schon vor dem offiziellen Start der Ausschreibung regt sich Widerstand. Das Bündnis Eine S-Bahn für alle, eine Allianz aus Klimabewegung, Gewerkschafterinnen und Antiprivatisierungsinitiativen, gründete sich im Dezember 2019 und fordert den Abbruch des Verfahrens. Die Aktivistinnen und Aktivisten weisen auf die desaströsen Folgen anderer Bahn-Privatisierungen und den drohenden Abbau von Beschäftigtenrechten hin.
Eine breite, öffentliche Debatte über die S-Bahn-Ausschreibung und ihre Konsequenzen für den Berliner Nahverkehr ist trotzdem bis heute ausgeblieben. Die Berliner Linkspartei will zwar die Kommunalisierung, hält sich aber wie die SPD aus Konfliktscheue gegenüber dem bisherigen und wohl auch zukünftigen Koalitionspartner mit ihrer Skepsis zurück – oder pokert darauf, dass am Ende doch die DB gewinnt. Derweil werfen die grüne Verkehrssenatorin und Wettbewerbslobbyisten Nebelkerzen: Die Ausschreibung sei gar keine Privatisierung sondern eine Teilkommunalisierung, die Arbeitsbedingungen seien durch strenge Tariftreueregelungen gesichert.
Die Eisenbahn-Gewerkschaften sehen das anders. Die EVG, die einen guten Teil der S-Bahnerinnen organisiert, beklagt seit Beginn des Verfahrens, dass nicht alle der rund 3.000 Beschäftigten bei einer Vergabe an einen neuen Betreiber abgesichert sind. Denn nur das »für die Beförderung unmittelbar notwendige Personal« muss übernommen werden. Kundenbetreuerinnen, Sicherheitspersonal und Verwaltungsmitarbeiterinnen bangen um ihre Arbeitsplätze.
Die in der Ausschreibung vorgesehene Tariftreue ist außerdem doppelt mangelhaft: Erstens bedeutet sie einen Verlust der Tarifbindung. Das Treueversprechen gilt gegenüber dem Land Berlin und ersetzt eine vertragliche Verpflichtung gegenüber den durch die Gewerkschaft vertretenen Beschäftigten. Damit sind die Unternehmen nicht mehr direkt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verpflichtet. Auch betrifft die Tariftreue nur die Entgelttarifverträge und schließt andere Arbeitsbedingungen nicht ein. Gewerkschaftlich erkämpfte Errungenschaften wie der besonders hohe Kündigungsschutz bei der S-Bahn, eine günstige Arbeitszeitgestaltung oder ein Langzeitkonto für ein Sabbatjahr gehen verloren.
Außerdem werden aus sicheren Jobs bei der S-Bahn Anstellungen auf Zeit. Die Beschäftigungsperspektive wird durch den kurzatmigen Takt der Ausschreibungen gekappt: Alle 15 Jahre geht das Zittern von Neuem los. Auch das erschwert die Aktivitäten von Gewerkschaften und spaltet die Belegschaft – denn darin besteht der Hauptzweck aller Privatisierungen und »öffentlich-privaten Partnerschaften«. Oft besteht für die daran beteiligten Konzerne die einzige Möglichkeit, ihre Gewinne zu erhöhen, darin, Löhne zu drücken und Arbeiterinnenrechte einzuschränken. Eine gewerkschaftliche Organisierung der Beschäftigten steht diesem Geschäftsmodell unweigerlich im Weg. Nicht zufällig beklagt die EVG, dass die Verkehrssenatorin kein Interesse an der Einhaltung von Versprechen hinsichtlicher der Rechte der Beschäftigten zeige.
Zur Verteidigung der Ausschreibung kramt die Verkehrssenatorin immer wieder abgenutzte neoliberale Plattitüden hervor. Die DB-Tochter brauche Konkurrenz, um vom Land Berlin keine überhöhten Preise zu verlangen. An der Unzuverlässigkeit des Betriebs in der Vergangenheit sei ebenfalls die Monopolstellung der DB schuld. Dies verschleiert die eigentlichen Gründe der S-Bahn-Krise von 2009: Konzernchef Mehdorn wollte die DB für den Börsengang trimmen und unterzog die Berliner S-Bahn in diesem Zusammenhang einem rabiaten Spardiktat.
Über drei Jahre wurden ein Viertel aller Stellen eingespart, das Werkstattpersonal reduzierte sich um 75 Prozent. Als Resultat konnten die Züge nicht mehr ausreichend gewartet werden, was den Chaoswinter 2008/2009 zur Folge hatte, als aufgrund technischer Störungen nur noch ein Viertel der S-Bahn-Züge fuhren.
Es waren also gerade die Rechtsform-Privatisierung und der geplante Börsengang der DB, welche die S-Bahn in die Krise trieben. Die Behauptung, die Probleme von 2009 ließen sich nur durch ein Wettbewerbsverfahren, also dem nächsten Privatisierungsschritt lösen, ist nichts weiter als eine Fortschreibung des neoliberalen Dogmas, jedes Marktversagen lasse sich nur durch mehr Markt lösen.
Das Gegenteil ist der Fall: Durch die drohende Zerschlagung des Netzes wird Chaos und Kompetenzgerangel zwischen verschiedenen Betreibern wahrscheinlicher, durch die Ausschreibung in kurzen Zyklen und die Möglichkeit einer ständigen Neuvergabe vergrault man erfahrene Mitarbeitende und versetzt die S-Bahnerinnen und S-Bahner in permanente Unsicherheit.
Anderswo hatten Privatisierungen im Bahn- und Nahverkehrsbereich abschreckende Folgen. So endete die von Tony Blair initiierte öffentlich-private Partnerschaft für den Betrieb der Londoner Tube 2007 mit Milliardenverlusten für die öffentliche Hand, welche die U-Bahn teuer zurückkaufen musste. Auch in Deutschland gibt es schlechte Erfahrungen mit dem Outsourcing von Regionalverkehr. So stürzte jüngst das Unternehmen Abellio, eine Tochter der niederländischen Staatsbahn, welche in Nordrhein-Westphalen, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen-Anhalt operiert, etliche Regionalverkehre ins Chaos.
Abellio hatte sich die Zuschläge für den Betrieb von Regionalbahnen offenbar mit Dumpingangeboten geangelt, beklagte dann hohe Kosten, meldete nach einer langen Phase des gestörten Betriebs Insolvenz an und beantragte ein Schutzschirmverfahren. Während die Manager an Bord blieben, zahlte die Löhne der Beschäftigten zuletzt die Arbeitsagentur – ein für die Konzernchefs glimpflicher Mechanismus, der öffentliche Hand, Fahrgäste und Bahnpersonal in Geiselhaft nahm. In NRW werden alle Abellio-Bahnlinien nun per Notvergabe im Schnellverfahren neu verteilt. Ein neues S-Bahn-Desaster lässt sich also nicht durch mehr Wettbewerb, sondern am besten durch eine Kommunalisierung der S-Bahn verhindern.
Das aktuelle Verfahren ist nicht der erste Versuch einer Privatisierung. Bereits 2012 wurde der Berliner S-Bahn-Ring ausgeschrieben, damals noch unter einer rot-schwarzen Koalition. »Berlins S-Bahn-System wirkt trotz aller Probleme nicht abschreckend auf mögliche künftige Betreiber. Im Gegenteil, es wirkt sogar anziehend«, frohlockte 2012 die taz. Die Übernahme der Ringbahn durch die MTR Corporation aus Hong Kong, die britische National Express oder die französische RATP wurde schon damals nur durch Proteste der Bevölkerung im Bündnis mit der oppositionellen Linkspartei verhindert. Der Widerstand erwirkte, dass die S-Bahn-Ausschreibung quasi der S-Bahn Berlin GmbH auf den Leib geschneidert wurde. Andere Bieter zogen sich zurück, das integrierte System wurde gerettet – zum Bedauern der Freundinnen und Freunde des Wettbewerbs auf der Schiene.
Doch der rot-grün-rote Senat verpasste die Chance, die Aufsplittung des Netzes durch Rot-Schwarz rückgängig zu machen und eine Kommunalisierung der S-Bahn einzuleiten. Im Gegenteil: Die grüne Verkehrssenatorin hat sehr deutlich gemacht, dass es ihr Ziel ist, die Chancen für die Konkurrenten der Deutschen Bahn zu erhöhen. So versuchte sie durchzusetzen, dass sich die Bieter nur auf ein Teilnetz bewerben können, die sogenannte »Loslimitierung«. Ein solches Vorgehen hätte die jetzige Betreiberin klar benachteiligt und eine Zerschlagung notwendigerweise herbeigeführt. Nur durch den Widerstand von SPD und Linken kam diese Forderung wieder vom Tisch.
Trotzdem ist sichergestellt, dass der »echte Wettbewerb« diesmal nicht scheitert. Um anderen Unternehmen den Einstieg zu erleichtern, beinhaltet die Ausschreibung im Vergleich zur letzten zwei Neuerungen: Erstens bereiten die Länder Berlin und Brandenburg den Bau neuer Werkstätten vor. Die jetzigen S-Bahn-Werkstätten gehören der S-Bahn Berlin GmbH und wären für andere Betreiber nicht nutzbar – deswegen werden neue Standorte erschlossen.
Für diese unnötige Doppelstruktur fallen hohe Kosten an, zum Beispiel für den Bau einer Brücke über das Karower Kreuz, welche die Zufahrt zu einer neuen Werkstatt an der Schönerlinder Straße herstellt. Zweitens entfällt eine der größten Hürden für neue Betreiber: die kostspielige Anschaffung neuer Fahrzeuge. Diese übernimmt jetzt das Land über die Errichtung einer Art öffentlichen Briefkasten-Firma.
Mit Kosten um die 3 Milliarden Euro stellt die Beschaffung mindestens 1.300 neuer Fahrzeuge einen gewichtigen Teil des Gesamtbudgets dar. Diese sollen nicht wie bisher vom Betreiber, sondern als »kommunaler Fuhrpark«, kreditfinanziert durch eine eigens eingerichtete Landesanstalt für Schienenfahrzeuge, vom Land erworben werden. Politikerinnen und Politiker sprechen daher von einem ersten Schritt Richtung Kommunalisierung.
Bei näherem Hinschauen entpuppt sich dies als Mogelpackung. Die angeschafften Fahrzeuge werden für ihre gesamte Lebensdauer an den zukünftigen Betreiber abgegeben. So »gehören« der Landesanstalt die Fahrzeuge zwar, und sie bezahlt auch den Kaufpreis – mitsamt der erhöhten Zinskosten, welche die Finanzierung über eine GmbH mit sich bringt –, hat aber bis zur Verschrottung nichts mehr mit ihnen zu tun.
Man kann hier also nur sehr bedingt von öffentlichem Eigentum sprechen – die Konstruktion ist vielmehr eine öffentlich-private Partnerschaft, wie man sie aus dem Autobahnbau kennt. Auch dort gehört der pure Asphalt formell dem Staat, die Maut kassieren aber die privaten Betreiber. Infrastrukturkosten werden auf diese Weise sozialisiert, während die Profite von den privaten »Partnern« abgeschöpft werden.
Ohne diese Auslagerung der Kosten gäbe es für die bietenden Firmen auch wenig Anreiz, sich an den Ausschreibungen zu beteiligen. Denn die Berliner S-Bahn ist ein technisch einzigartiges System mit maßgeschneiderten Fahrzeugen, die sich derzeit im Besitz der S-Bahn Berlin GmbH befinden. Die Beschaffung geeigneter Fahrzeuge stellt für neue Betreiber also eine beachtliche Hürde dar. Diese wird mit der Einrichtung des »landeseigenen Fahrzeugpools« beseitigt.
Es geht bei diesem Konstrukt also nicht um die Rekommunalisierung der S-Bahn – es geht um Wettbewerbsförderung auf Kosten des Landes. Ein zutiefst neoliberaler Politikansatz, der durch lobbynahe Beraterinnen und Berater nicht ganz uneigennützig vorangetrieben wird.
Die Beratungsagentur KCW, kurz für »Kompetenz Center Wettbewerb«, ist maßgeblich am Ausschreibungsverfahren beteiligt. Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klima beschäftigt die Firma bereits seit 2013 für üppige Beträge bei Weichenstellungen im Berliner Nahverkehr. So begleitete KCW das frühere S-Bahn-Ausschreibungsverfahren oder greift durch ihre Beteiligung am »Center Nahverkehr Berlin«, das für die Qualitätskontrolle der BVG bei der Erfüllung ihrer Verträge mit der Stadt zuständig ist, öffentliche Mittel ab. Auch bei der aktuellen Ausschreibung wird Regine Günther, die beruflich einem ähnlichen Consulting-Universum entstammt, in ihrer Wettbewerbsstrategie von KCW unterstützt und befeuert. So drängt laut der IG Nahverkehr der LINKEN Berlin KCW beispielsweise zur Vergabe der S-Bahn an Dritte oder erfindet Erschwernisse für die bisherige Betreiberin und DB-Tochter.
KCW hat bundesweit ein Quasi-Monopol auf Beratungsleistungen im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs. In Baden-Württemberg hat die geschäftstüchtige Agentur bereits die Privatisierung des Nahverkehrs begleitet, der nun von mehreren privaten Eisenbahnunternehmen betrieben wird, unter anderem der britischen »National Express«. Da die Privaten zu knapp mit Personal kalkulierten, zudem wegen der vergleichsweise schlechten Bezahlung keines anwerben konnten und auch die Fahrzeuge nicht rechtzeitig geliefert wurden, erleben die Fahrgäste dort massenhaft Zugausfälle und andere Störungen.
Formal ist KCW zwar ein unabhängiges Unternehmen, steht aber politischen Interessenverbänden und der privaten Eisenbahnwirtschaft nahe. Für die Lobbyorganisation mofair, die sich für die »Vervollkommnung der Marktöffnung auf Straße und Schiene« einsetzt, verfasste KCW beispielsweise den sogenannten »Wettbewerber-Report Eisenbahn«. Bis 2009 war KCW-Geschäftsführer Henning Palm tatsächlich Mitglied des mofair-Vorstands. Vorher arbeitete er für private Bahnfirmen wie die britische FirstGroup oder die inzwischen insolvente Metropolitan European Transport (MET) Deutschland.
So ist es nicht überraschend, dass KCW auf die Zerstückelung öffentlicher Netze und die Aufteilung auf möglichst viele private Betreiber drängt. Daran hat die Agentur durchaus ein eigenes Gewinninteresse, denn auch für die juristische Beratung bei den komplexen Verträgen, die solche Verfahren nach sich ziehen, sowie für die Kontrolle der Vertragserfüllung lässt sich KCW gerne buchen. Es ist sehr fraglich, ob dieses Geflecht von Exekutive, Beraterfirmen, Think Tanks und privater Eisenbahnwirtschaft im Interesse der Berlinerinnen und Berliner handelt. Statt bei der Ausschreibung mit öffentlichen Geldern lobbynahe Organisation mit einigen wirtschaftlichen Interessen mit ins Boot holen, wären diese Mittel sicherlich besser bei der Neueinstellung von Verwaltungspersonal aufgehoben.
Die Auslagerung und Aufsplittung staatlicher Monopole an private Firmen durch Bieterverfahren ist eine neoliberale Kernstrategie: Der Staat bezahlt private Unternehmen dafür, Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge nach Profitlogik herunterzuwirtschaften. Doch dass der Markt alles regeln soll, glauben nach einer Ära des öffentlichen Kahlschlags wirklich nur noch diejenigen, die davon profitieren. Die potenzielle Vergabe der S-Bahn an private Betreiber aus aller Welt schwächt die Möglichkeiten, den öffentlichen Verkehr im Sinne eines sozialökologischen Umbaus weiterzuentwickeln. Denn natürlich haben diese Betreiber kein Interesse am langfristigen Ausbau und an Reinvestitionen in den Bahnbetrieb, sondern daran, innerhalb der Vertragslaufzeit so viel Gewinn abzuschöpfen wie möglich.
Die Ausschreibung schafft außerdem eine undurchschaubare Bürokratie an Verkehrsverträgen, für deren Bewältigung wiederum alle möglichen »Expertinnen« bezahlt werden müssen. Hierbei werden Gelder gebunden, die nicht in ökologisch verträgliche Infrastruktur oder die Löhne der Beschäftigten im Eisenbahnverkehr fließen. Sie finanzieren genau die intransparente Gemengelage von öffentlich-privaten-Partnerschaften, die überall im öffentlichen Sektor ihren Einzug gefunden hat. Die Gewinne der S-Bahn, welche derzeit – problematischerweise, aber immerhin – an den Mutterkonzern DB und damit an den Bund abgeführt werden, verschenkt man an private Investoren.
Aus volkswirtschaftlicher Perspektive ist die Ausschreibung insgesamt verheerend: Neben Schienen und Fahrzeugen finanziert die Ausschreibung neue, teure Bauprojekte – ausschließlich, um Privaten den Einstieg zu erleichtern. Dass durch das komplexe Verfahren dubiose »Beraterfirmen« wie KCW und Anwaltskanzleien profitieren, ist ein unschöner Nebeneffekt.
Mit einer sich abzeichnende Ampel-Koalition auf Bundesebene rückt ein ausgeweiteter Wettbewerb auf der Schiene näher, auf welchen die Zerschlagung der Berliner S-Bahn einen Vorgeschmack bietet. Das Sondierungspapier schweigt zu dieser Frage zwar, doch sowohl Grüne als auch FDP befürworten explizit den Wettbewerb – auch im Schienenpersonenfernverkehr.
Bisher hat die Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus und Senat eine laute und eindeutige Positionierung gegen die Zerschlagung der S-Bahn im Bündnis mit den zivilgesellschaftlichen Protesten versäumt. Stattdessen galt die Aufmerksamkeit der Partei vor allem der Verbesserung der Ausschreibungskriterien, während programmatische Erklärungen für eine zukünftige Kommunalisierung bislang folgenlos bleiben.
Die gute Nachricht ist: eine Kommunalisierung ist möglich und könnte unverzüglich beginnen. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen schreibt zwar prinzipiell vor, dass Leistungen im Schienenverkehr öffentlich ausgeschrieben werden müssen, dennoch sind die Länder Berlin und Brandenburg nicht dazu verpflichtet, an der Ausschreibung in ihrer aktuellen Form festzuhalten. Der Abbruch ist jederzeit möglich. Im ungünstigsten Fall wären Schadensersatzzahlungen an die Bieter für den Arbeitsaufwand durch die Teilnahme an der Ausschreibung fällig. Je schneller ein möglicher Abbruch erfolgt, desto geringer die Kosten. Im Verhältnis zum Milliardenumfang des gesamten Vorhabens dürfte eventueller Schadensersatz ein wesentlich geringeres Risiko bedeuten als eine schwer reversible Privatisierung und Zerschlagung.
Außerdem gibt es Wege aus dem Ausschreibungszwang. Die Länder Berlin und Brandenburg könnten mit der DB und der Bundesregierung über einen Einstieg in die S-Bahn Berlin GmbH verhandeln. Kontrollieren beide Länder die Gesellschaft, kann diese ohne aufwändiges Ausschreibungsverfahren direkt mit dem Betrieb des S-Bahn-Netzes beauftragt werden. Die DB könnte sogar Anteilseigner in Minderheit bleiben, was sinnvoll wäre, da sie die Schieneninfrastruktur betreibt.
Alternativ eröffnet das Europarecht auch die Möglichkeit, direkt einen landeseigenen Betreiber aufzubauen, der das S-Bahn-Netz übernimmt, das U-Bahn-, Bus- und Tramnetz wird bereits zu großen Teilen von der kommunalen BVG betrieben. Ein solches Vorhaben würde sicherlich einiges an Zeit und Planungsaufwand benötigen. Angesichts des gigantisches finanziellen Volumens, des bürokratischen Aufwands und der planerischen Vorleistungen, die im Rahmen der Ausschreibung anfallen würden, erscheint diese Option aber durchaus realistisch und praktikabel.
Jorinde Schulz arbeitet mit Kultur, Politik und Texten, ist mit Kilian Jörg Autorin des Buchs »Die Clubmaschine«, Aktivistin gegen Privatisierung bei »Eine S-Bahn für alle« und Vorstandsmitglied der LINKEN Neukölln.
Jorinde Schulz ist Mitglied im Vorstand der Linken Berlin und arbeitet bei Gemeingut in BürgerInnenhand, Träger des Bündnis Klinikrettung, zum Thema Privatisierung. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbands Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird (Edition Nautilus, 2023) und Autorin von Die Clubmaschine (Textem, 2018).