15. April 2022
Ölkonzerne machten das Konzept des ökologischen Fußabdrucks populär, um von ihrer Schuld an der Klimakatastrophe abzulenken.
»Unsere Generation verändert durch das Verbrennen fossiler Energieträger die Zusammensetzung der Atmosphäre im globalen Maßstab«, warnte der US-Präsident in einer Rede vor dem Kongress. Sein Name war Lyndon B. Johnson, das Jahr 1965. Kurz darauf legte die Forschung Beweise vor, dass verheerende Folgen für das Weltklima zu erwarten seien. Eine Erwärmung um 2 bis 3 Grad sei wahrscheinlich, stellte der Klimatologe James F. Black im Juli 1977 fest. Adressat seines Reports war die Geschäftsführung seines Arbeitgebers – des Ölkonzerns Exxon.
Exxon, in Deutschland durch die Marke Esso bekannt, nutzte in den 1970er Jahren seine globale Infrastruktur, um avancierte Klimastudien durchzuführen. Recherchen des Magazins Inside Climate News haben jüngst aufgedeckt, wie der Konzern reagierte, als die Verantwortlichen die Tragweite der Ergebnisse begriffen: Die Befunde verschwanden in der Schublade, das Forschungsprogramm wurde später eingestellt. In der Folge finanzierte der Konzern dubiose Gegenstudien, die die Klimafolgen der fossilen Verbrennung in Zweifel ziehen sollten. Ölgeld zahlte für Fake-Umweltinitiativen, die das Problem relativierten, und für millionenschwere Kampagnen, in denen die echte Ökologiebewegung als ein Haufen durchgeknallter Alarmisten diffamiert wurde. Mehr als zwei Drittel des CO2-Ausstoßes der gesamten Menschheitsgeschichte qualmte so in einer Zeit in die Atmosphäre, als die Hauptverursacher bereits genauestens über die Konsequenzen Bescheid wussten.
Doch der wahrscheinlich größte und perfideste Coup gelang den Fossilkonzernen in den frühen 2000er Jahren: 2004 gab die Ölfirma British Petroleum (BP) 250 Millionen Dollar aus, um einen bis heute prägenden Begriff in der öffentlichen Debatte zu etablieren: den CO2-Fußabdruck. Zu der Werbekampagne gehörte ein Internetportal, auf dem Bürgerinnen und Bürger die Emissionen ihres Alltagslebens berechnen können. Wie folgenreich und strategisch BPs Wortwahl war, wird klar, wenn man sich vorstellt, man hätte stattdessen die Bezifferung der »Zerstörungsleistung« oder der »Verbrennungsschäden« verschiedener Industrien, Kapitalinvestitionen und Energieträger derart im öffentlichen Bewusstsein verankert.
Fußabdrücke sind harmlos, man hinterlässt sie fast unweigerlich – ausgerechnet bei der klimaschonendsten Weise, in der man sich fortbewegen kann. Das Denken in CO2-Fußabdrücken legt eine Logik des punktuellen Einsparens bei Glühbirnen, Fahrradtouren und Einkäufen nahe. Notwendige Umwälzungen der Produktionsweise bleiben höflich unerwähnt. Dieses Herunterbrechen des Klimaschutzes auf die Individuen stellt bis heute eines der größten Hindernisse für die breite Mobilisierung dar. Aufmerksamkeit wird nicht auf die Hebelpunkte in den CO2-intensiven Sektoren gelenkt, an denen durch politischen Druck – und gegen die Profitinteressen der großen Eigentümer von Maschinerie und Rohstoffen – Veränderungen erzwungen werden müssen, sondern auf den Lebensstil und die Entscheidungen Einzelner. Klimadiskussionen rutschen vom Politischen ins Persönliche: »Wann bist Du das letzte Mal geflogen?«, »In Deutschland trennen wir den Müll doch am allersaubersten!« und so weiter. Das Vergleichen von CO2-Fußabdrücken suggeriert, es würde reichen, wenn jeder nur etwas gründlicher vor seiner eigenen Haustür kehrt. Es entspricht genau der Kernbotschaft des Neoliberalismus, wie sie der Historiker Marcel Gauchet auf den Punkt bringt: »Du kannst dein Leben ändern, aber sonst nichts.«
Die Fossillobby setzt so auf zwei zentrale Kennzeichen unserer politischen Gegenwart: die Machtlosigkeit der großen Masse und die unermüdliche Tendenz der Mittelklasse, politische Fragen in moralische umzudeuten. Im selben Maße, in dem es uns als Bürgerinnen und Arbeitern erschwert wird, in die Ordnung der Welt einzugreifen, wird uns die entlastende Illusion eingeflößt, wir könnten sie als Konsumentinnen gestalten. Dabei ist die Konsumentenmacht nicht nur zutiefst undemokratisch, weil sie proportional zur Größe des Portemonnaies zunimmt. Die massenhafte Zerstörung von Waren durch Amazon, die Mülldeponien unverkaufter Klamotten in den Wüsten der Welt oder die Leerflüge der Airlines während der Corona-Pandemie zeigen auch, wie weitgehend die Produktion heute von der tatsächlichen Nachfrage abgekoppelt ist. Solange Land, Rohstoffe, Maschinen und Kapital im Besitz privater Konzerne liegen und ihre fortgesetzte Profitabilität die politische Maßgabe darstellt, wird der Planet auch dann noch Steinbruch und Müllhalde bleiben, wenn vorne ein Schaufenster drangezimmert wird, aus dem man schuldgeplagten Konsumenten Sustainability verkauft.
Die strategische Setzung des CO2-Fußabdrucks durch die Fossillobby zeigt, wie die Ökologie der Herrschenden unsere Sorge um die Zukunft ausnutzt, um von den zerstörerischen Folgen ihrer eigenen Profite abzulenken. Heute, da Finanzunternehmen den Umweltschutz als Investitionsfeld entdecken und Fossilriesen eine Führungsrolle beim Klimaschutz beanspruchen, hilft ein Blick zurück, um zu verstehen, worum es sich hier handelt: bloße PR für das neueste Kapitel in der langen und hässlichen Geschichte der Verteidigung einer giftigen Wirtschaftsform.
Linus Westheuser ist Soziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und Contributing Editor bei JACOBIN.