01. August 2022
Vor fast 30 Jahren wurde der Energiecharta-Vertrag geschlossen, der Europas Zugang zu billiger Energie aus den ehemaligen Sowjetrepubliken sichern sollte. Heute macht er wirksame Klimapolitik fast unmöglich. Die EU möchte trotzdem daran festhalten.
Industrieanlage in Gdańsk, Polen.
Europa stöhnt unter einer akuten Hitzewelle, gleichzeitig treiben gestiegene Energiepreise die Inflation in die Höhe. Klimaschutz und Energiepolitik sollten die politische Agenda daher eigentlich dominieren. Doch die Bewegung für Klimagerechtigkeit hat schon seit der Coronakrise deutlich an Schwung verloren. EU-Kommission und Bundesregierung können so weiterhin rückschrittliche energiepolitische Entscheidungen treffen, die uns nur noch tiefer in die Krise stürzen werden: Mit dem Abschluss der Verhandlungen über die »Modernisierung« des Energiecharta-Vertrages (Englisch: Energy Charter Treaty, kurz: ECT) sowie die Ratifizierung der EU-Taxonomie, die zukünftige Investitionen in Atomkraft und Erdgas als »nachhaltig« kennzeichnet, wird festgeschrieben, dass fossile Energieträger in Europa auch zukünftig eine wichtige Rolle spielen sollen. Wirksamer Klimaschutz wird dadurch torpediert.
Die sogenannte EU-Taxonomie ist ein Klassifizierungssystem, das vorgibt, welche wirtschaftlichen Aktivitäten bei der Bewertung von Investitionen als nachhaltig zu betrachten sind. Ziel ist es, »mittelfristig insbesondere private Gelder verstärkt in ökologisch nachhaltige Tätigkeiten zu lenken. Es droht [aber], dass auch Steuergelder, die für Investitionen in [die] nachhaltige Transformation reserviert sind, in Gas und Atomkraft landen können«, so Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Grünen im EU-Parlament. Bloss stellt in seiner Reaktion auf die Zustimmung des Parlaments zur EU-Taxonomie klar: »Atomkraft und Erdgas mit Sonnen- und Windkraft gleichzusetzen, verkauft die Bürger*innen Europas für dumm« – er habe erfolglos gegen diese »Mogelpackung« gestimmt.
Während die Ratifizierung der EU-Taxonomie eine schwere Niederlage für die Bewegung für sozial gerechten Klimaschutz ist, könnte das EU-Parlament durch öffentlichen Druck dazu bewegt werden, die Modernisierung des Energiecharta-Vertrages noch abzulehnen und das undemokratische Abkommen stattdessen lieber auszusetzen. Zwar wurden die Verhandlungen der EU-Kommission mit den am Vertrag beteiligten Drittstaaten Ende Juli abgeschlossen, die Ratifizierung der Änderungen durch das Parlament steht jedoch erst im November an.
Der Energiecharta-Vertrag wurde 1994 mit dem Ziel geschlossen, die postsowjetischen und sonstigen postkommunistischen Staaten Osteuropas in einen gemeinsamen Energiemarkt mit westeuropäischen Ländern einzubinden, die wirtschaftlich vom Import von Öl, Gas und Kohle abhängig sind. Der Vertrag trat Ende der 1990er in Kraft und umfasst aktuell 53 Länder inklusive der EU-Mitgliedstaaten. Der Öffentlichkeit wurde der Vertrag als Teil der Annäherung zwischen Ost und West und als Maßnahme zur Sicherung der wirtschaftlichen und politischen Stabilität in Europa präsentiert. Eigentliches Ziel der Initiatoren war es jedoch, ein von fossilen Energieträgern abhängiges Wachstumsmodell und neokoloniale Machtverhältnisse in der Handelspolitik zu konsolidieren.
Der umstrittene Artikel 26 ist Herzstück des Vertrags: Dieser gewährt Energieunternehmen im Rahmen der sogenannten Investor-Staat-Streitschlichtung (Englisch: Investor-State Dispute Settlement, kurz ISDS) das Recht, Staaten vor Schiedsgerichten auf Schadensersatz in Milliardenhöhe zu verklagen, wenn diese Gesetzesänderungen vornehmen, die die Gewinne von Investoren verringern könnten.
Im Gegensatz dazu haben Staaten, deren Gesellschaften durch die Aktivitäten von Konzernen Schaden erleiden oder in Gefahr gebracht werden – etwa, weil Unternehmen das Erreichen von nationalen Klimaschutzzielen maßgeblich verhindern oder ihre Kohlebagger Menschen ihrer Wohnungen berauben und sensible Ökosysteme zerstören – im Rahmen des ECT kein Recht, Investorinnen zu verklagen. Hier liegt ein offensichtliches Ungleichgewicht zu Gunsten international agierender Konzerne vor. Schutz des Kapitals vor Klimaschutz – an dieser Prioritätensetzung scheint sich in fast dreißig Jahren wenig verändert zu haben.
Eigentlich ist der ECT ein Relikt der Vergangenheit, das den klima- und energiepolitischen Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gerecht wird. Doch dieses Bild ist unvollständig, denn es spart die eigentlichen Machtverhältnisse und die Interessenlagen der einzelnen Vertragsparteien zu großen Teilen aus. Laut Yamina Saheb, ECT-Wistleblowerin und einer der leitenden Autorinnen des letzten IPPC-Berichts, sei der Daseinszweck des Vertrags bereits im Jahr 2009 durch den Ausstieg Russlands verpufft. Obwohl auch Italien bereits 2016 aus dem Abkommen ausstieg, zog bislang kein anderes EU-Land nach – trotz der offensichtlichen Ungleichgewichte bei der Ausgestaltung, die für viele Staaten Nachteile bedeuten.
Besonders industriestarke Staaten wurden in den letzten Jahren vermehrt von Investoren verklagt, wenn sie politische Maßnahmen ergriffen, die die Wende aus der Abhängigkeit von fossilen oder nuklearen Energiequellen einleiten sollten. Deutschland zum Beispiel wurde 2012 vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall auf mehr als 4,3 Milliarden Euro Entschädigung verklagt, weil dieser zwei deutsche Atomkraftwerke betrieb und seine Profite durch den Atomausstieg bedroht sah. Die deutschen Energieunternehmen RWE und Uniper fordern von der niederländischen Regierung etwa 2,4 Millionen Euro Schadensersatz, weil diese, wie Deutschland, einen Kohleausstieg bis 2030 anstrebt.
Die Liste der bereits vollzogenen »Streitschlichtungen« im Rahmen des ECT ist lang. Noch gravierender als der messbare finanzielle Schaden, der Staaten unter dem Abkommen durch ihre Klimapolitik entsteht, ist jedoch der abschreckende Effekt, den der Vertrag ausübt. Fossile Unternehmen können allein durch die Androhung einer Klage unter dem ECT Druck auf Regierungen ausüben. So legte etwa Frankreich 2017 ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz auf Eis, nachdem der kanadische Ölkonzern Vermillion der Regierung unter Verweis auf das Abkommen mit einer Schadensersatzklage drohte. Ähnlich erging es Italien, das vom britischen Öl- und Gaskonzern Rockhopper verklagt wurde, weil es Offshore-Bohrungen entlang seiner Küste verbieten wollte. Zu diesem Zeitpunkt war Italien längst aus dem ECT ausgestiegen. Doch Aufgrund der sogenannten »Sunset«-Klausel können Investoren Staaten bis zu 20 Jahre nach deren Austritt aus dem Vertrag auf Entschädigung verklagen.
Dass selbst hochindustrialisierte Nationen von Investoren auf Basis der ISDS-Klausel verklagt werden könnten, war bei der Vertragsunterzeichnung in den frühen 1990ern noch undenkbar. Denn damals ging es darum, westliche Investitionen in Staaten der Peripherie abzusichern. Anders hätte solch eine perfide Rechtslage, in der Unternehmen Staaten vorbei an nationaler Jurisdiktion vor private Schiedsgerichte zerren können, wohl nicht etabliert werden können.
2018 nahmen die Unterzeichnerstaaten deshalb Verhandlungen zur Modernisierung des ECT auf. Allerdings sieht der vom Sekretariat des ECT vorgelegte Entwurf zur Reform des Vertrags eine Veränderung der ISDS-Klausel noch nicht einmal als Verhandlungsthema vor. Saheb erklärt: »Artikel 26 wird innerhalb der Modernisierungsverhandlungen nicht diskutiert, weil die Investor-Staat-Streitbeilegung ein Mechanismus ist, der nicht nur innerhalb des ECT sondern auch anderen Handelsabkommen verankert ist«. So sind ISDS-Klauseln etwa Teil des North American Free Trade Agreement und von 2.890 weiteren bilateralen Handelsabkommen.
»Deshalb sehen Staaten vor, die Sachlage der ISDS im Rahmen der Vereinten Nationen zu verhandeln« so Saheb. Auch hier liege die Diskussion jedoch auf Eis, denn die USA und Japan seien gegen eine Veränderung der ISDS-Rechtslage, was eine Reform unmöglich mache. Somit könne »der ISDS als eine Weiterführung von Kolonialismus« erhalten bleiben, kritisiert Saheb. Laut dem Juristen Matthias Krumm sei »die Kolonialmacht hier nicht mehr ein Staat, sondern vielmehr das Kapitalinteresse, dass den Staaten gegenübersteht.«
Historisch kamen ISDS-Mechanismen als legales Konstrukt im Zuge der Dekolonialisierung der 1950er und 60er zustande. Nachdem Kolonialmächte infolge der Gründung unabhängiger Staaten die politische und militärische Macht über die von ihnen besetzten Gebiete verloren hatten, klammerten sie sich an internationale Handelsabkommen, um ihren Einfluss zu sichern. Zunächst wurden Handelsabkommen mit ISDS-Klauseln zwischen Industrienationen und ressourcenreichen Ländern der wirtschaftlichen Peripherie geschlossen, um westliche Kapitalinteressen vor Enteignungen und Gewinnverlust zu schützen.
So schlossen die Niederlande 1968 das erste Handelsabkommen, das ein Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren vorsah, mit der ehemaligen Kolonie Indonesien. Drei Jahre zuvor hatte die Weltbank durch die Verabschiedung der Übereinkunft zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehöriger anderer Staaten hierfür die Grundlage gelegt. Anfangs unternahmen postkoloniale Staaten noch den Versuch, sich dieser Fortführung des wirtschaftlichen Kolonialismus zu widersetzen.
Die Schuldenkrise der 1990er Jahre und die darauffolgende Neoliberalisierung durch Strukturanpassungsauflagen von Weltbank und IWF drängten sie jedoch zum Abschluss von Handelsverträgen mit ISDS-Klauseln. Bis heute resultiert dies häufig darin, dass Autokraten und lokale Eliten gestärkt werden, die Gewinne einkassieren und ihre Macht sichern können, während internationale Konzerne ihre Bevölkerung ausbeuten.
Besonders anschaulich ist hier der Fall Indonesiens. Nachdem das Land von den Niederlanden und Japan seine Unabhängigkeit errungen hatte, wurde es von 1949 bis 1965 zunächst vom nationalistischen Präsidenten Sukarno geführt, bis dieser in einem Coup d’Etat gestürzt wurde und – unter Mithilfe der USA – durch General Suharto ersetzt wurde. Suharto war nicht nur der Unterzeichner des ersten Handelsabkommens mit ISDS-Klausel, sondern auch für die Ermordung einer halben Million vermeintlicher und echter Sozialisten und Kommunisten verantwortlich. Nachdem er 1998 durch eine zivilgesellschaftliche Gegenbewegung entmachtet wurde, drohten der aufstrebenden Demokratie zahlreiche Klagen von Investoren, die ihre Profite durch die Politik der neuen Regierung bedroht sahen.
Laut Fabian Flues von PowerShift, einer Organisation, die sich gegen eine Modernisierung des ECT und für einen gemeinsamen Rücktritt aller EU-Mitgliedstaaten aus dem Energiecharta-Vertrag einsetzt, nutzen »überwiegend Firmen aus dem globalen Norden, insbesondere aus Europa, den Mechanismus des ISDS, während vor allem Schwellenländer die Leidtragenden sind.« Tatsächlich wurden bis 2015 85 Prozent aller bekannten Klagen von Investoren aus hochindustrialisierten Ländern erhoben, und etwa zwei Drittel betrafen Länder der Peripherie. Unternehmen aus Europa waren für 53 Prozent der Klagen verantwortlich.
Es liegt auf der Hand, dass die Entscheidungen zur EU-Taxonomie und zur Modernisierung des ECT die Interessen der fossilen und atomaren Energiekonzerne stärken und klimapolitisch katastrophale Auswirkung haben werden. Ein offener Brief einer ganzen Reihe von Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an die EU weist auf die Bedrohung hin, die von einer Fortführung des ECT auf die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziel und den »Green Deal« der EU mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ausgeht.
Eine Gruppe von EU-Abgeordneten rechnet in einem weiteren Schreiben vor, dass die Treibhausgase, die durch eine Fortführung des ECTs bis 2050 freigesetzt würden, einem Drittel des weltweiten mit 1,5 Grad Erderwärmung kompatiblen CO2-Budgets für diesen Zeitraum gleichkäme. Die Unterzeichnerinnen prangern die Widersprüchlichkeit der EU-Energiepolitik deutlich an: »Der Vertrag über die Energiecharta steht weder im Einklang mit dem Europäischen Green Deal, noch mit dem vorgeschlagenen EU-Klimagesetz und den nationalen Zielen zur Kohlenstoffneutralität, noch mit der EIB-Energiekreditpolitik und der EU-Taxonomie für nachhaltige Investitionen.«
Der Energiecharta-Vertrag und der ihm zugrundeliegende Mechanismus der Investor-Staat-Streitschlichtung ist ein weiteres Paradebeispiel dafür, dass sich die Krisen unserer Zeit zunehmend überlagern und im Kapitalismus immer schwieriger zu bewältigen sind. Der Imperativ des Kapitalwachstums bedroht gleichzeitig den Klimaschutz, vertieft neokoloniale Ausbeutung und untergräbt die demokratische Souveränität über die Wirtschaft. Spanien und die Niederlande haben der EU signalisiert, dass sie sich eigentlich aus dem Vertrag zurückziehen möchten. Es herrscht also keinesfalls Einigkeit über dessen Fortführung. Trotzdem reicht der politische Druck derzeit nicht aus, um die Geiselnahme nationaler Energiepolitik durch fossile Konzerne zu beenden.
Für Yamina Saheb liegt dies »an mangelndem zivilgesellschaftlichem Aufstand, an der kleinen Anzahl an Organisationen, die sich dem Thema widmen, und der politischen Linie der nationalen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, die sich zum Großteil im konservativ-rechten Spektrum bewegen. Sie wollen nicht verstehen, was ›Klimaneutralität‹ wirklich bedeutet, setzen zu stark auf ›Carbon Capture und Storage‹-Technologien und sind maßgeblich von den Lobbybemühungen der fossilen Industrie beeinflusst.«
So entstehen äußerst fragwürdige Situationen. Die österreichische Klimaschutzministerin Gewessler (Grüne) will die EU-Kommission etwa aufgrund der Einstufung von Atomkraft und Gas als klimafreundlich verklagen, worüber man fast vergessen könnte, dass »es gleichzeitig aber ein österreichischer Verhandlungsführer war, der Investitionen in Atomkraft und Gas unter dem ECT innerhalb des Modernisierungsprozesses als schützenswert in die Endbekundung einbrachte«, so Yaheb. Die deutsche Bundesregierung legte das Ziel des Kohleausstiegs bis 2030 fest und setzte sich dafür ein, dass fossiles Gas auf EU-Ebene als grüne Investition anerkannt wird. Die durch den Ukrainekrieg ausgelöste Gasknappheit in Deutschland wird nun dafür genutzt, die wieder angestiegene Kohleverstromung zu verteidigen. Politikerinnen legen klimapolitische Maßnahmen immer wieder aufs Eis, um die »Energiesicherheit« zu wahren, oder die Interessen von Investoren zu schützen.
Laut Fabian Flues verpflichtet der Vertrag die teilnehmenden Staaten zu »einer Wirtschaftspolitik, die demokratische Mündigkeit und das Allgemeinwohl den Gewinninteressen transnationaler Investor*innen unterordnet.«
Die »Modernisierung« des Energiecharta-Vertrags beschäftigt die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten nun schon seit Beginn der Verhandlungen im Jahr 2018. Bis September, spätestens Oktober, werden sie hierzu Beschlüsse fassen müssen. Die Frage ist, »wie wir die Zivilgesellschaft von jetzt an mobilisieren können, den Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag zu forcieren«, so Yaheb. Für das Klima und die Demokratie steht viel auf dem Spiel.
Tatjana Söding ist Humanökologin und Mitglied der Forschungsgruppe Zetkin Collective. Sie ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.