22. Juni 2021
Bei der Regionalwahl in Frankreich haben sich rund zwei Drittel der Bevölkerung enthalten. Politikverdrossene wählen aus Protest rechts, heißt es oft. Die meisten unter ihnen gehen jedoch gar nicht erst wählen.
Der Erfolg von Rechten wie Le Pen wird häufig als Ausdruck des Frusts der »weißen Arbeiterklasse« gedeutet. Die Zahlen bestätigen diese These nicht.
Die französischen Regionalwahlen in dieser Woche finden nur zehn Monate vor der Präsidentschaftswahl im April 2022 statt – und viele haben gehofft, dass sie Aufschluss darüber geben würden, was bei der Wahl im nächsten Jahr erwartet werden kann. Doch die einzige Erkenntnis aus der ersten Wahlrunde am vergangenen Sonntag ist, dass die Wahlbeteiligung extrem niedrig war, was wiederum die ohnehin schon sehr instabile Wahllandschaft noch unberechenbarer gemacht hat.
Mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigten enthielten sich – ein Rekord in der sechs Jahrzehnte währenden Geschichte der Fünften Republik. Für jede Demokratie, die ihren Namen verdient, ist das ein vernichtendes Urteil – und ausnahmsweise scheint das die Politikerinnen und Politiker sowie die Medien in Frankreich auch zu beunruhigen. Doch die Diskussionen über die Stimmenthaltung lassen einen Mangel an Reflexion über deren wirkliche Bedeutung erkennen. Auch die Art und Weise, wie wir über Wahlen, Politik und Demokratie zu sprechen gewohnt sind, scheint kaum überdacht zu werden – was vielleicht noch schwerer wiegt.
Man muss dem einen wichtigen Vorbehalt vorausschicken: Wenn man die Wahlenthaltung ernst nimmt, lässt sich diese nicht automatisch einer bestimmten politischen Richtung zuschreiben. Wir können aus offensichtlichen Gründen nicht wissen, woran die Menschen glauben, die sich ihrer Stimme enthalten haben, und welcher Partei sie sich am ehesten zuwenden würden, wenn sie wählen müssten. Allerdings ist die Wahlenthaltung nicht gleichmäßig über alle demografischen Gruppen verteilt. Allgemein gilt: Je jünger man ist und je weiter unten man in der Gesellschaft steht, desto wahrscheinlicher ist es, dass man nicht wählen geht.
»Bei der Wahl am Sonntag haben die konservativen Républicains von der hohen Stimmenthaltung profitiert.«
Wir hören oft, dass sich die »weiße Arbeiterklasse« entschlossen der politischen Rechten zugewandt hätte. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass sich einige Arbeiterinnen und Arbeiter hinter Marine Le Pens Rassemblement National versammelt haben – die große Mehrheit hat das jedoch nicht getan. Die meisten sind entweder bei der Linken geblieben, noch häufiger gehen sie gar nicht mehr wählen. Würde dieser Sachverhalt erkannt werden, könnten die wirklich »Abgehängten« größere Aufmerksamkeit erhalten, anstatt mit einer Minderheit unter ihnen gleichgemacht zu werden, die rassistische politische Alternativen unterstützt.
Bei der Wahl am Sonntag haben die traditionellen Rechten – die konservativen Républicains – mit ihrer älteren, wohlhabenderen Wählerschaft von der hohen Stimmenthaltung profitiert. Die politische und mediale Elite scheint die niedrige Wahlbeteiligung diesmal bemerkt zu haben und ernst zu nehmen. Hugues Renson, Vizepräsident der Nationalversammlung von Emmanuel Macrons Partei La République en Marche, erklärte, der hohe Anteil an Enthaltungen solle als »politischer Akt« verstanden werden. Die meisten Kommentatorinnen und Politiker befanden, dass er mit dieser Diagnose recht hatte.
In den vergangenen Jahren hat die französische Bevölkerung wiederholt Warnsignale ausgesendet, die als Indiz für das schwindende Vertrauen und Interesse an der herrschenden Politik hätten gedeutet werden können. Doch die Aufmerksamkeit, die dieser zutiefst beunruhigenden Entwicklung nun zuteil wird, droht von kurzer Dauer zu sein – denn die zugrundeliegende Analyse bleibt bestenfalls partiell. Während über die steigende Wahlenthaltung zahlreiche Artikel geschrieben wurden und viele Politikerinnen und Politiker ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht haben, wurde über die Wahlergebnisse auf herkömmliche Weise berichtet.
Beim schnellen Überfliegen der Wahlberichterstattung trifft man wieder nur auf die altbekannten Artikel, in denen Gewinnerinnen und Verlierer benannt und Vergleiche zwischen ihren Ergebnissen in diesem Jahr und den vorherigen Wahlen angestellt werden. In der nördlichen Region Hauts-de-France zum Beispiel klangen die meisten Berichte in etwa so: »Die rechtsextreme Rassemblement National fiel auf 24,3 Prozent im Vergleich zu 40,6 Prozent im Jahr 2015 und verlor damit 15 Prozent« oder »Die Républicains erhielten 41 Prozent, weit vor ihrer Gegnerin mit 24,3 Prozent und den Grünen mit 19 Prozent, was einen großen Sieg für die Konservativen bedeutet«.
Es könnte kaum einen besseren Zeitpunkt geben, um über die Art und Weise nachzudenken, wie wir über Wahlergebnisse sprechen, als jetzt – und doch wird es nicht getan. Diese Prozentzahlen stellen sich ganz anders dar, wenn man bedenkt, dass die Wahlenthaltung in Hauts-de-France bei 66,7 Prozent lag, verglichen mit 54,8 Prozent im Jahr 2015. Es ist zwar unbestreitbar, dass der Kandidat der Républicains mehr als 41 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt (im Vergleich zu 25 Prozent im Jahr 2015), jedoch ist die absolute Zahl der Stimmen, die auf ihn entfielen, nahezu gleich geblieben (etwa 550.000). Das Entscheidende ist, dass seine Wählerinnen und Wähler zur Wahl gegangen sind – genau so, wie es für die demographische Gruppe, die zur traditionellen Rechten tendiert, üblich ist.
Auf der anderen Seite brachen die Stimmen seiner Gegnerinnen ein: Le Pens Rassemblement National büßte fast zwei Drittel ihrer absoluten Stimmen ein (von über 900.000 auf etwa 320.000), während die Linke die Hälfte ihrer Unterstützung verlor (von 520.000 auf 252.000). Diese Zahlen sind von großer Bedeutung, denn 2015 gewannen die Républicains den zweiten Wahlgang mit über 1,3 Millionen Stimmen, während Le Pen nur knapp über 1 Million erhielt. Selbst wenn die Rassemblement National bei der zweiten Runde am kommenden Sonntag schlechter abschneidet als vor sechs Jahren, werden die Républicains also wahrscheinlich noch weitere Stimmen benötigen, um zu gewinnen. Die Überhöhung ihres Sieges in der ersten Runde durch trügerische Prozentangaben könnte sogar einige der 750.000 Menschen demobilisieren, die noch 2015 für die Républicains gestimmt haben, um die extreme Rechte aufzuhalten. Und das wiederum könnte Le Pen möglicherweise zu einem Überraschungssieg in der zweiten Runde verhelfen, sofern ihre Anhängerschaft diesmal auch wirklich wählen geht.
Das Rekordtief der Wahlbeteiligung am vergangenen Wochenende scheint die politische und mediale Elite wachgerüttelt zu haben – das Herunterspielen der Auswirkung der Wahlenthaltung in der Berichterstattung hat den öffentlichen Diskurs in Frankreich in den vergangenen Jahren jedoch bereits nachhaltig beeinflusst. Viele Menschen in Frankreich würden sagen, dass die Präsidentschaftswahl von 2002, bei der Jean-Marie Le Pen die zweite Runde erreichte, der Moment gewesen sei, in dem der rechtsextreme Front National zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft wurde. Die Medien bezeichneten dies damals hyperbolisch als »politisches Erdbeben«, welches eine echte Bedrohung für die Demokratie und die Republik darstellen würde.
»Die extreme Rechte wurde zum Ausdruck der Unzufriedenheit stilisiert – und die Politikerinnen des gesamten Parteienspektrums beschlossen, sich vollends darauf zu konzentrieren, die Anhängerschaft der Rechten zurückzugewinnen, während der ganze Rest ignoriert wurde.«
In Wirklichkeit war die Geschichte der Wahl von 2002 jedoch nicht die eines Aufstiegs der extremen Rechten. Vielmehr zersplitterte die Wählerschaft und die Wahlenthaltung sowie das Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien, die Frankreich jahrzehntelang regiert hatten, stieg an. Tatsächlich erzielte Le Pen in Bezug auf die absolute Zahl der erhaltenen Stimmen überhaupt keinen großen Durchbruch, sondern konnte im Vergleich zu den vorigen Präsidentschaftswahlen von 1988 und 1995 nur graduell an Unterstützung hinzugewinnen.
Es geht hier natürlich nicht darum, die von der extremen Rechten ausgehende Bedrohung herunterzuspielen. Doch wir müssen erkennen, dass diese gängige Fehleinschätzung zu einer weiteren Stärkung der Rechten und ihrer Ideen geführt hat, anstatt die Menschen für demokratische Ideale zu erwärmen.
In den Schlagzeilen von 2002 hätte eigentlich stehen sollen, dass mindestens zwei der traditionellen Regierungsparteien in Frankreich nicht mehr als 12 Prozent der Wahlberechtigten überzeugten. Bei der wichtigsten Wahl in Frankreich erhielten sie gemeinsam nur so viele Stimmen, wie es Stimmenthaltungen gab. Stattdessen wurde die extreme Rechte zum Ausdruck der Unzufriedenheit stilisiert – und die Politikerinnen des gesamten Parteienspektrums beschlossen, sich vollends darauf zu konzentrieren, die Anhängerschaft der Rechten zurückzugewinnen (die etwas mehr als 11 Prozent der Wählerschaft ausmacht), während der ganze Rest ignoriert wurde.
Dies ist kein spezifisch französisches Problem, wie etwa die öffentliche Debatte um den Brexit verdeutlicht. Das 52/48-Narrativ konstruierte den Brexit als eine Bewegung der Mehrheit. Beachtet man die Wahlenthaltungen, offenbart sich ein anderes Bild: 37 Prozent stimmten für den Brexit, 36 Prozent für den Verbleib in der EU und 27 Prozent enthielten sich. Oder nehmen wir die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016: Wie anders hätte sie gewirkt, wenn wir uns alle klargemacht hätten, dass Trump mit etwas mehr als einem Viertel der Stimmen gewählt wurde – und das in einer Situation, die aufgrund von Wählerunterdrückung bereits zugunsten der Republikaner verzerrt war. Stellen wir uns weiter vor, dass die Berichterstattung über die Wahlenthaltung soziodemografische Aspekte berücksichtigen würde, dann wäre uns die unpräzise und schädliche Propaganda über die sogenannte »abgehängte weiße Arbeiterklasse«, die sich vermeintlich der extremen Rechten zuwendet, vermutlich erspart geblieben.
Das Argument ist nicht, dass die Stimmenthaltung das Endergebnis der genannten Wahlen in irgendeiner Weise hätte verändern sollen. Die Regeln sind nunmal, wie sie sind – und wir müssen akzeptieren, dass das dazu führt, dass der Brexit oder Trump tatsächlich Abstimmungen gewonnen haben. Dennoch sollten wir in der Lage sein, zu erkennen, dass diese reaktionären Bewegungen keine tatsächliche Unterstützung innerhalb der Mehrheit genießen und in Wirklichkeit nicht die »populären Alternativen« sind, als die sie oft dargestellt werden.
Das würde helfen, unseren öffentlichen Diskurs zu verschieben und die Rechten nicht immer mehr ins Zentrum der Debatte zu stellen. Anstatt der kleinen, wenn auch besorgniserregenden Minderheit, die rechte Politik unterstützt, unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zu schenken, könnten wir versuchen, auf die weitaus zahlreicheren Menschen einzugehen, die nicht für die extreme Rechte stimmen, sondern sich insgesamt von der Politik abgewandt haben (und wer kann es ihnen verdenken).
Die französischen Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr werden oft als unausweichlicher Wettstreit zwischen Macron und Le Pen dargestellt. Das führt dazu, dass sich Macron in Fragen zum Islam und zur Migration zunehmend auf das Terrain Le Pens bewegt. Der Unzufriedenheit von Wählerinnen und Nichtwählern angesichts dieses dürftigen politischen Angebots muss mehr Aufmerksamkeit zukommen. Der langsame Abstieg der französischen Politik in eine reaktive Haltung könnte so vielleicht noch aufgehalten werden.
Aurelien Mondon lehrt Politikwissenschaft an der University of Bath in England. Seine Forschungsschwerpunkte sind Rassismus, Populismus und das Mainstreaming rechtsextremer Politik. Sein gemeinsam mit Aaron Winter geschriebenes neuestes Buch »Reactionary Democracy: How Racism and the Populist Far Right Became Mainstream« ist 2020 bei Verso erschienen.
Aurelien Mondon lehrt Politikwissenschaft an der University of Bath in England. Seine Forschungsschwerpunkte sind Rassismus, Populismus und das Mainstreaming rechtsextremer Politik. Sein gemeinsam mit Aaron Winter geschriebenes neuestes Buch »Reactionary Democracy: How Racism and the Populist Far Right Became Mainstream« ist 2020 bei Verso erschienen.