30. September 2022
Aserbaidschan hat Armenien angegriffen – und die deutsche Regierung schweigt. Um sich aus der Abhängigkeit Putins zu befreien, hofiert die Ampel jetzt einfach einen anderen Diktator.
Diktator Alijew auf Staatsbesuch im Kreml, 22. Februar 2022.
IMAGO / SNADer Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi in Taiwan vor wenigen Wochen sorgte weltweit für Aufregung. Viele fragten sich, wie China reagieren würde. Der letzte Auslandsbesuch Pelosis nach Jerewan/Armenien wurde im Vergleich dazu kaum beachtet – und das obwohl der Südkaukaus eine nicht weniger explosive Region ist.
In der Nacht vom 12. auf den 13. September griff Aserbaidschan das international anerkannte Territorium Armeniens an. Entlang der 400 Kilometer langen Grenze beschossen aserbaidschanische Truppen insgesamt 37 armenische Städte mit Artillerie, Raketen und Drohnen. Sie versuchten dabei offensichtlich die Kurstadt Jermuk einzunehmen, was ihnen misslang. Doch sie konnten weiteres armenisches Territorium besetzen und rückten bis zu 4,5 Kilometer an Jermuk vor. Dabei wurden mindestens 207 armenische Soldatinnen und Soldaten sowie 5 Zivilisten getötet. Die Häuser von 7.600 Menschen wurden bis zur Unbewohnbarkeit zerstört.
»Deutschlands Suche nach neuen Energielieferanten gleicht einer Shoppingtour durch die schlimmsten Diktaturen dieser Welt.«
Es handelte sich um eine klare Aggression Aserbaidschans. Seit dem 44-Tage-Krieg im Jahr 2020 fühlt sich Baku militärisch überlegen und möchte diese Gelegenheit nutzen, um der armenischen Regierung um Premierminister Nikol Paschinyan so viele Zugeständnisse wie möglich abzuringen. Jerewan soll dazu gedrängt werden, einen Vertrag zu unterzeichnen, der die territoriale Integrität Aserbaidschans anerkannt und damit eingesteht, dass die umkämpfte Region Arzach/Bergkarabach Aserbaidschan zugestanden wird.
Nach zwei Tagen konnte eine Waffenruhe verkündet werden, die bislang größtenteils hält – hauptsächlich aufgrund der Intervention der USA. Nancy Pelosi reiste daraufhin in die armenische Hauptstadt. Sie stellte sich rhetorisch auf die Seite Armeniens und verurteilte den »illegalen und tödlichen Angriff Aserbaidschans auf armenisches Territorium«. Sie besuchte dabei nicht nur das Denkmal für die Opfer des Völkermordes von 1915 und war die ranghöchste Repräsentantin des Landes, die Armenien je besucht hatte. Sie stellte Armenien auch in eine Reihe mit der Ukraine und Taiwan. In dieser Konfrontation zwischen Demokratie und Autokratie sind die Rollen klar verteilt: In Aserbaidschan gelten keinerlei demokratische Standards und der Alijew-Clan ist seit fast dreißig Jahren an der Staatsspitze. Armenien hingegen genießt spätestens seit der sogenannten Samtenen Revolution von 2018 Sympathien innerhalb der »westlichen Wertegemeinschaft« – mehr aber auch nicht.
An Deutschlands Haltung zeigt sich exemplarisch, wie zynisch und kalkuliert diese vermeintlich von Werten geleitete Gemeinschaft agiert, um ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Berlin arbeitet seit Jahrzehnten nicht nur eng mit dem türkischen Staat gegen die kurdische Freiheitsbewegung zusammen, sondern festigt auch zunehmend seine Partnerschaft mit Baku, zumal Aserbaidschan im Südkaukasus Deutschlands wichtigster Handelspartner ist. Erst fünf Tage vor dem Angriff am 12. September trafen sich deutsche Militärs wiederholt mit ihren Pendants in Baku. Spätestens seit der Aserbaidschan-Connection ist bekannt, dass sich deutsche Politikerinnen und Politiker von einer Diktatur kaufen lassen und für sie politisch lobbyieren.
In diesem Sinne verwundert es nicht, dass sich das Auswärtige Amt – auch auf wiederholte Nachfrage – weigerte, den Aggressor zu benennen, als Aserbaidschan das international anerkannte Territorium Armeniens angriff. Obwohl sich nach den Kämpfen der deutsche Botschafter Erik Tintrup selbst ein Bild von den Zerstörungen machte, ignoriert das Außenministerium Anfragen nach dem Aggressor weiterhin. »Dass niemand aus der Bevölkerung getötet wurde, ist fast ein Wunder, denn Artilleriegeschosse schlugen hier, viele Kilometer entfernt von der Grenze, in Restaurants und an der Seilbahnstation ein, nur wenige Hundert Meter neben Wohnhäusern und Hotels voll mit Reisenden«, sagte er während seines Besuchs. »Eine deutsche Touristin hat Explosionen aus ihrem Zimmer fotografiert, so nah waren sie«.
In der Wahl der Energiepartner gibt es in Deutschland also mitnichten eine »Zeitenwende«. Um die Energielieferungen zu »diversifizieren«, hat Berlin schlichtweg eine Diktatur durch die andere ersetzt. Dafür ist man nicht nur bereit, vor der desolaten Menschenrechtslage im Land die Augen zu verschließen, sondern nimmt auch hin, dass armenisches Blut für aserbaidschanisches Erdgas fließt.
Erst Mitte Juli besuchte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen die aserbaidschanische Hauptstadt Baku und ließ stolz verkünden, dass man einen »zuverlässigen Energielieferanten« gefunden habe. Innerhalb von fünf Jahren soll jährlich doppelt so viel Gas geliefert werden wie bisher. Dies seien »gute Neuigkeiten für unsere Gaslieferungen diesen Winter und darüber hinaus«, sagte sie und stellte diesen Deal als einen Erfolg auf der Suche nach alternativen Energielieferanten dar. Hintergrund dieser Suche ist natürlich die Abwendung von Russland als einem zentralen Energielieferanten Deutschlands und der Europäischen Union infolge der russischen Invasion in die Ukraine.
Deutschlands Suche nach neuen Energielieferanten gleicht einer Shoppingtour durch die schlimmsten Diktaturen dieser Welt: Erst besuchte Wirtschaftsminister Robert Habeck im März das Golfemirat Katar und konnte aushandeln, dass Katar bereit sei, kurzfristig mehr Gas nach Deutschland zu liefern. Dann besuchte von der Leyen den azerischen Diktator Ilham Alijew und kündigte anschließend an, das über den südlichen Korridor bereits im nächsten Jahr 12 Milliarden Kubikmeter Gas geliefert würden (im Vergleich zu 8,1 Milliarden in diesem Jahr). Und Bundeskanzler Scholz reiste kürzlich nach Saudi-Arabien, wo er den umstrittenen und in einen Mord verwickelten Kronprinzen Mohammed bin Salman traf. Dabei wurde erwartungsgemäß über Energielieferungen gesprochen; kurz danach reiste Scholz weiter nach Abu Dhabi in die Vereinigten Arabischen Emirate und zum Schluss nach Katar.
All diese Länder sind reich an Bodenschätzen und daher kurz- und mittelfristig als Energielieferanten geeignet. Sie verfügen über eine gute Infrastruktur zum Abbau fossiler Brennstoffe und deren Import nach Deutschland und in die Europäische Union – erst recht, sobald im nächsten Jahr die LNG-Terminals an norddeutschen Standorten wie Brunsbüttel, Lubmin und eventuell Hamburg fertiggestellt werden und dann auch Flüssiggas nach Deutschland geliefert werden kann.
»Putin und Alijew profitieren beide: Ersterer kann die gegen ihn verhängten Sanktionen umgehen, während letzterer die Dividenden erhöht.«
Auf der Suche nach neuen Energielieferanten wurden in den letzten Monaten zwar auch Kanada und Norwegen konsultiert, allerdings konnten bisher zunächst nur mit Aserbaidschan und Abu Dhabi erfolgreiche Deals abgeschlossen werden. Die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan durchkreuzt jedoch die vorgegebenen Ziele der Europäischen Union nach Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen. Denn Baku ist nicht nur ein enger Verbündeter Russlands und schloss nur zwei Tage vor dem russischen Angriffskrieg eine vertiefte strategische Partnerschaft mit dem Kreml ab, sondern nutzt diese Partnerschaft auch, um russisches Gas und Öl zu importieren, das anschließend wiederum unter eigenen Namen weiterverkauft wird. Russlands Präsident Wladimir Putin und Ilham Alijew, die schon lange eine Beziehung zueinander pflegen, profitieren also beide davon: Ersterer kann dadurch die gegen ihn verhängten Sanktionen umgehen, während letzterer die Dividenden erhöht. Man fragt sich, ob Ursula von der Leyen wohl einfach nur ignoriert, dass russische Fossilfirmen wie Lukoil über bedeutende Anteile an den aserbaidschanischen Gasfeldern verfügen.
Im Schatten des hybriden Krieges gegen Armenien haben sich in Aserbaidschan eine ganze Flut von Kriegsveteranen, die sich sozial und finanziell nicht genug gewürdigt fühlen, das Leben genommen. Erst am zweiten Jahrestag des Angriffs auf Arzach erhängte sich ein weiterer Soldat; er war der 44. Veteran, der Suizid begang.
Die Regierung selbst flankiert die jüngste Offensive mit einer Propaganda, die vermeintliche Verräter innerhalb der Gesellschaft aufdecken und bestrafen soll: Die Kampagne #Xainitaniyaq, »Kenne den Verräter«, sollte die wenigen Stimmen, die sich gegen den Krieg positionierten, zum Verstummen bringen.
Alijews Herrschaftssystem baut darauf, die Wirtschaft des Landes mit Einnahmen der Öl- und Gasverkäufe am Laufen zu halten und jegliche Opposition im Keim zu ersticken. Dieses Regime und das Amt des Präsidenten erbte er von seinem Vater Heidar Alijew, der während der Sowjetunion lange Zeit Chef des KGB war und sich 1993 inmitten eines innenpolitischen Chaos an die Staatsspitze bringen konnte. Mit ehemaligen Sowjetkadern und der Hilfe der Türkei baute er eine Öldiktatur auf und ernannte vor seinem Tod 2003 seinen Sohn zum Nachfolger. Der Sohn erbte nicht nur das Amt, sondern auch den stalinistischen Personenkult und ließ überall im Land riesige Porträts und Denkmäler von sich und seinem Vater aufstellen.
Nachdem er den Krieg um Arzach 1994 verloren hatte, forcierte Heidar Alijew in Aserbaidschan einen revanchistischen, zutiefst anti-armenischen Kurs, mit dem Ziel der militärischen Rückeroberung und physischen Vernichtung Arzachs. Westliche Firmen wie British Petroleum (BP) wurden ins Land geholt, um die fossilen Energien auszubeuten und den staatlichen Öl- und Gaskonzern Socar aufzubauen. Socar lässt sich am besten als aserbaidschanische Version von Gazprom beschreiben: Die Kontrolle unterliegt der Alijew-Familie und ist Herz und Hirn der azerischen Wirtschaft. Dank der Öleinnahmen konnte Alijew das Militär modernisieren und modernste Technologie beschaffen. Allein Aserbaidschans Militärausgaben sind größer als Armeniens gesamtes Staatsbudget.
Dem Diktator aus Baku geht es in Wahrheit um die Annexion der mittel- und armenischen Regionen, die er mit der aserbaidschanisch besetzten Exklave Nachitschewan verbinden will, um damit den Traum eines panturanischen Reichs Wirklichkeit werden zu lassen. Der jüngste Angriff gilt diesem Ziel und soll bessere Voraussetzungen für zukünftige Aggressionen schaffen. Ilham Alijew unterscheidet sich dahingehend wenig von Wladimir Putin – doch während Putin zur Persona non grata erklärt wurde, wird Alijew von der EU und Deutschland weiterhin hofiert.
Eine Politik, bei der aus Eigeninteresse über die Verbrechen eines Diktators hinweggesehen wird, ist schon einmal kolossal gescheitert – und zwar im Falle Putins. Dieses Scheitern wird sich auch jetzt wiederholen. Denn natürlich setzt auch Alijew Energie als Waffe ein: Das bekamen die Armenierinnen und Armenier in Arzach zu spüren, als azerische Militärs eine Pipeline in der Stadt Shushi beschädigten und die Bevölkerung mitten im Winter ohne Gasversorgung dastand – so viel also zur »Zuverlässigkeit« von Deutschlands neuem Energielieferanten.
Der Angriff Mitte September dieses Jahres war der bislang der schwerste seit dem Waffenstillstand vom 9. und 10. November 2020, der infolge des 44-Tage-Krieges um die Region Arzach/Berg-Karabach geschlossen wurde. Dieses Gebiet war seit jeher umkämpft: Die moderne Geschichte dieses nationalen Befreiungskampfes begann am 20. Februar 1988, als der lokale Sowjet beschloss, dass Arzach Teil der Armenischen SSR werden sollte. Damals hätte sich wohl kaum jemand vorstellen können, dass dies unter anderem dazu führen würde, dass beide Länder nur wenige Jahre später unabhängig werden würden.
Die Antwort Aserbaidschans auf die friedlichen Demonstrationen in Stepanakert, der Hauptstadt der Autonomen Region Karabach, war das Pogrom von Sumgait, einer relativ weit entfernten Industriestadt am Kaspischen Meer. Infolgedessen und nach weiteren Pogromen brach 1991/92 ein Krieg in dieser Region aus, der 1994 siegreich für Armenien und die lokalen Selbstverteidigungseinheiten Arzachs endete, die vorher bereits ihre Unabhängigkeit erklärt hatten.
Dieser eingefrorene Konflikt und brüchige Status quo wurde am 27. September 2020 mit enormer Waffengewalt aufgerüttelt, als Aserbaidschan zusammen mit der Türkei und der Hilfe von aus Syrien eingeflogenen islamistischen Terroristen einen großflächigen Angriff begann. Nach 44 Tagen waren Zehntausende Armenierinnen und Armenier vertrieben und weitere Gebiete von Arzach standen unter aserbaidschanischer Besetzung: Im Zuge dessen wurde nur ein kleinerer Teil militärisch erobert, der Großteil der Region wurde von Armenien geräumt. 2.000 russische Friedenstruppen rückten mit dem Einverständnis beider Seiten in die verbliebenen Gebiete ein und sollten den Waffenstillstand sichern.
»Während Macron, Biden und Co. die Angriffe auf die Republik Armenien zumindest verurteilen, ist die deutsche Regierung noch nicht einmal bereit, sie anzuerkennen.«
Was seither passiert, ist nicht lediglich ein Angriff auf die Region Arzach, sonder die Republik Armenien. In diesem September wurde das Völkerrecht wiederholt und unbestreitbar gebrochen. Schon im Mai und November 2021 wurden Gebiete des souveränen Territoriums von der Republik Armenien angegriffen und besetzt. Die azerischen Truppen, die sich für ihre Kriegsverbrechen rühmen und sie sogar dokumentieren, wie im Falle der grausamen Verstümmelung der Leiche der armenischen Soldatin Anush Abetyan, können sich sicher sein, dass sie in Baku keine Strafe erwartet – ganz im Gegenteil.
Deutschland schweigt weiterhin zu den Angriffen Aserbaidschans und signalisiert Alijew damit, dass man ihm freie Hand lässt. Das ist beschämend, besonders wenn man bedenkt, dass sich die USA, Frankreich und sogar Großbritannien gegen die Aggression gestellt haben. So forderte etwa Emmanuel Macron, dass Bakus Truppen sich zurückziehen sollen und neue Angriffe zu unterlassen haben. Während Macron, Biden und Co. die Angriffe auf die Republik Armenien also zumindest verurteilen, ist die Ampel-Regierung noch nicht einmal dazu in der Lage, sie anzuerkennen — und das alles für Gas.
Hovhannes Gevorkian ist Jurist und lebt in Berlin. Er ist aktiv im Bündnis United Against Turkish Fascism.