07. Juli 2023
Griechenlands alter und neuer Ministerpräsident Mitsotakis greift die Pressefreiheit an und geht brutal gegen Geflüchtete vor. Doch für ihn gibt es keine Rügen von der EU. Denn er ist ihr Mann in Athen und an der Außengrenze.
Er lässt politische Gegner abhören und NGOs juristisch verfolgen: Kyriakos Mitsotakis.
IMAGO / ANE EditionDie jüngste Parlamentswahl in Griechenland am vorvergangenen Sonntag hat das katastrophale Ergebnis der Wahl vom Mai bestätigt. Der skandalumwitterte Konservative Kyriakos Mitsotakis, der seine Verachtung für demokratische Rechte immer wieder offen zur Schau stellt, sicherte sich mit 40 Prozent der Stimmen eine zweite Amtszeit. Hinzu kommt ein starker rechtsextremer Block aus drei Parteien. Derweil hat die griechische Linke eine vernichtende Niederlage erlitten.
Mitsotakis verdankt seine Machtposition wichtigen Führungspersönlichkeiten in der Europäischen Union, von Mitgliedern der EU-Kommission bis hin zur Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem ehemaligen niederländischen Finanzminister Jeroen Dijsselbloem. Mit einem beispiellosen wirtschaftlichen Gewaltakt haben diese 2015 die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands in die Knie gezwungen und einen Aufstand der Bevölkerung gegen den wirtschaftspolitischen Wahnsinn niedergeschlagen. Seine europäischen Partner haben Mitsotakis den Weg geebnet. Er hat sein Amt vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden, landesweiten Demoralisierung angetreten. Berlin und Brüssel dulden den Machtmissbrauch von Mitsotakis – und haben ihn erst ermöglicht.
Für die internationale Linke, die vor einem Jahrzehnt noch voller Hoffnung auf Griechenland blickte, ist das ein deprimierendes Ergebnis. Die einzig angemessene Reaktion darauf ist, unseren Widerstand gegen jene Kräfte (inner- und außerhalb Griechenlands) zu verstärken, die diese Situation herbeigeführt haben.
Vergegenwärtigen wir uns einige anerkannte Tatsachen, die in der gängigen Darstellung leider meist ausgeblendet werden. Die Austeritätsprogramme, die Griechenland von der sogenannten »Troika« aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds auferlegt wurden, waren eine Katastrophe. Sie verwandelten eine Rezession in die schlimmste Krise, die eine entwickelte kapitalistische Wirtschaft seit den 1940er Jahren erlebt hat. Die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe; das griechische Sozialsystem brach buchstäblich zusammen.
Griechenland ist den Plänen der Troika nun seit über einem Jahrzehnt bis ins kleinste Detail gefolgt. Das BIP pro Kopf liegt heute bei weniger als zwei Dritteln des Werts von 2009. Der durchschnittliche Jahreslohn einer griechischen Arbeiterin lag 2009 bei 21.600 Euro. Heute sind es 16.200 Euro.
Die führenden Akteure in der EU – allen voran die Bundesregierung von Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble – legten ein Verständnis der Eurozonen-Krise an den Tag, das man nur als kindisch, egoistisch und wirtschaftspolitisch ignorant bezeichnen kann. Es hat keinen Sinn, ihre Sichtweisen und Ansätze so darzustellen, als wären sie das Ergebnis ernsthafter Überlegungen. Als gut informierte Kritiker die EU-Granden auf die sich anbahnende Katastrophe in Griechenland aufmerksam machten, antworteten diese auf die guten Argumente mit einer reinen Machtdemonstration.
»Business bad? Fuck you, pay me. Had a fire? Fuck you, pay me. The place got hit by lightning? Fuck you, pay me.«
Im Prinzip war ihre Reaktion eine etwas höflicher formulierte Version dessen, was der Gangster Henry Hill im Mafia-Film Goodfellas sagt: »Business bad? Fuck you, pay me. Had a fire? Fuck you, pay me. The place got hit by lightning? Fuck you, pay me.« Sie verdienen nicht mehr Respekt als ein Quacksalber, der erst eine Flasche Tequila wegsäuft, um dann mit einem Vorschlaghammer eine chirurgische Operation durchzuführen.
Zwar führte der Finanzcrash damals auch zu Zugewinnen für die neonazistische Goldene Morgenröte, den meisten Aufwind gab die Krise jedoch einer progressiven und demokratischen Partei, die sich Rassismus und Nationalchauvinismus entgegenstellte. Der Aufstieg dieser Partei, Syriza, schien der Elite in Brüssel, Berlin und anderen europäischen Hauptstädten offenbar so gefährlich, dass sie bereits die Schatten Hitlers oder Stalins über der Acropolis aufziehen sahen.
Adam Tooze hat die wahnwitzige Verlogenheit der deutschen Machtelite und ihrer Hofintellektuellen in einem Profil von Schäubles Lieblingshistoriker und Hufeisentheoretiker Heinrich August Winkler festgehalten: »Bei Syriza war man davon ausgegangen, dass die vermeintlichen Werte des Westens – Respekt vor staatlicher Souveränität, Pluralismus und Demokratie – eine faire Behandlung sichern würden. Um die Meinung der politischen Klasse in Berlin angesichts des Syriza-Sieges zu verstehen, hätte Syriza aber gut daran getan, Winklers Artikel in der Zeit zu lesen. Darin postulierte er, die neue griechische Regierung sei im Kontext des historischen Kampfes für westliche Werte ein Krisensymptom, das sich ähnlich auch in Putins Manipulationen sowie dem Wiedererstarken des Front National in Frankreich zeige. Syriza sei somit eine unverantwortliche populistische Bewegung, die den bösartigen Einfluss des russischen antiwestlichem Autoritarismus widerspiegele.«
Nach dem Wahlsieg von Syriza forderten die EU-Funktionäre noch umfassendere Kürzungen, als sie bereits von den vorherigen griechischen Regierungen durchgeführt worden waren. Die Politikerinnen und Kritiker, die Syriza als eine Partei von Traumtänzern oder Demagogen verspotteten, weigerten sich kategorisch, sich mit den Daten auseinanderzusetzen, die aufzeigten, welchen Schaden die von der Troika aufgezwungene Sparpolitik in der griechischen Gesellschaft anrichtete. In diesem Sinne waren in Wirklichkeit die griechischen Verhandlungsführer die Erwachsenen im Raum, die versuchten, die hoffnungslosen Fantasten der Troika zur Einsicht zu bringen.
In einem anderen Punkt war die Vorgehensweise der Syriza-Führung aber tatsächlich unrealistisch – nicht, weil Alexis Tsipras und sein Team versuchten, vernünftig mit Merkel, Schäuble und Co. zu verhandeln, sondern weil sie keine Vorkehrungen für den Fall trafen, dass diese Bemühungen scheiterten. Im Sommer 2015 war Tsipras am Ende und entschied, dass es wohl besser sei, auf den Knien zu leben als auf den Füßen zu sterben. Er verbrachte seine nächsten vier Jahre im Amt damit, die Diktate der Troika umzusetzen.
»Die Regierung Mitsotakis gehört in die gleiche Kategorie wie die rechten Regierungen Polens und Ungarns, die die Substanz der liberalen Demokratie aushöhlen, während sie ihre formalen Züge beibehalten.«
Einige Parteimitglieder rechtfertigten die Kapitulation von 2015 als einen taktischen Schachzug, der es Syriza ermöglichen würde, weiterhin an der Macht zu bleiben und für die Interessen der griechischen Gesellschaft zu kämpfen. Stattdessen hat die Partei in den vergangenen acht Jahren jedoch einen schleichenden Niedergang erlebt. Das Ende dieses Weges könnte bald erreicht sein.
Was mit Syriza als Partei geschieht, ist dabei weniger wichtig, als wie sich ihre strategischen Entscheidungen auf das Denken der Menschen in Griechenland auswirken. Dass die Tsipras-Regierung vor der Troika kuschte, vermittelte die Botschaft, dass jede Hoffnung auf eine Alternative zur Austeritätspolitik aussichtslos sei. Das Ergebnis wäre lediglich weiteres Chaos, was letztlich nur zu noch mehr Austerität führen würde. Das jüngste Wahlergebnis ist ein Sinnbild für die aus dieser »Erkenntnis« resultierende Verzweiflung der Bevölkerung.
Die Hauptverantwortung für das Ergebnis liegt jedoch bei den führenden politischen Akteuren in der EU. Mitsotakis ist ihr Mann in Athen. Sein Aufstieg an die Macht wäre ohne die massive äußere Einwirkung auf Griechenland nicht denkbar gewesen.
Die Regierung Mitsotakis gehört in die gleiche Kategorie wie die rechten Regierungen Polens und Ungarns, die versuchen, die Substanz der liberalen Demokratie auszuhöhlen, während sie ihre formalen Züge beibehalten. So ist die Bewertung der Pressefreiheit in Griechenland unter Mitsotakis die schlechteste in der EU. Der konservative Regierungschef ließ politische Gegner abhören und NGOs juristisch verfolgen.
Doch im Gegensatz zu Ungarns Viktor Orbán oder Polens Mateusz Morawiecki erhält Mitsotakis dafür nicht einmal symbolische Rügen von der Europäischen Kommission oder den großen EU-Mitgliedstaaten. Dort billigt (oder befürwortet) man offensichtlich seine gewaltsamen und illegalen Methoden gegen Geflüchtete, die versuchen, nach Griechenland und somit in die EU zu gelangen. Die EU-eigene Grenzschutzagentur Frontex fungiert sogar als Helfershelferin für diese Verbrechen.
Eine Episode machte die unheilvolle Partnerschaft zwischen Mitsotakis und der EU besonders deutlich: Im September 2021 verhaftete die griechische Grenzpolizei einen Übersetzer, den sie für einen Geflüchteten hielt. In Wirklichkeit arbeitete er für Frontex. Die New York Times berichtete über seine anschließenden Erlebnisse: »Er sagte, dass er und viele der Migranten, mit denen er festgehalten wurde, geschlagen und entkleidet wurden und dass die Polizei ihre Handys, ihr Geld und ihre Ausweisdokumente beschlagnahmte. Seine Versuche, der Polizei zu erklären, wer er war, wurden mit Gelächter und weiteren Schlägen beantwortet, berichtete er. Er sagte weiter, er sei in ein abgelegenes Lagerhaus gebracht worden, wo er mit mindestens 100 anderen, darunter Frauen und Kindern, festgehalten wurde. Sie wurden dann in Schlauchboote gesetzt und über den Fluss Evros auf türkisches Territorium getrieben.«
»EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die griechischen Grenztruppen als ›unseren europäischen Schutzschild‹ gepriesen.«
Matina Stevis-Gridneff von der Times war damals der Ansicht, dieser Vorfall könne einen Wendepunkt darstellen: »Jahrelang haben griechische Beamte Beschwerden von Menschenrechtsorganisationen zurückgewiesen, wonach die Grenzbeamten des Landes Migrantinnen und Migranten brutal behandelt und mit Gewalt in die Türkei zurückgeschoben hätten. In Athen wurden solche Vorwürfe als Fake News oder türkische Propaganda abgetan. Jetzt könnte ein einziger Fall für echte Konsequenzen sorgen.«
Tatsächlich gab es aber keinerlei Konsequenzen für die griechischen Behörden. Ihre europäischen Partner ließen die Angelegenheit auf sich beruhen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte die griechischen Grenztruppen zuvor sogar als »unseren europäischen Schutzschild« gepriesen.
Man stelle sich einmal vor, ein EU-Mitarbeiter, der damit beauftragt war, das Sparprogramm der Troika zu überwachen, wäre während der Regierungszeit von Syriza verhaftet, gefoltert und deportiert worden. Vermutlich hätte man innerhalb von Tagen eine Drohkulisse mit Kanonenbooten vor der Küste aufgebaut, bereit, den widerspenstigen Griechen eine ordentliche Lektion zu erteilen. Mitsotakis hingegen musste keine negative Reaktion aus Brüssel fürchten. Schließlich unterstützen die EU und Frontex seine Politik.
In den vergangenen Jahren hat die EU versucht, ihre »Leistung« während der Wirtschafts- und Finanzkrise vergessen zu machen. Das wäre eine Sache, wenn es zumindest ein Anzeichen von Reue seitens der verantwortlichen Personen und Institutionen gäbe. Doch das Gegenteil ist der Fall: Es gibt guten Grund zur Annahme, dass sie alles wieder genauso machen würden. Wen man in Brüssel bevorzugt – Tsipras im Juni 2015 oder Mitsotakis im Juni 2023 – ist überdeutlich. Das sollte uns auch zu denken geben, wenn wir über eine demokratische Reform der EU selbst reden.
Daniel Finn ist Redakteur bei Jacobin.