04. September 2022
Das neue Entlastungspaket der Bundesregierung wird eine soziale Notlage nicht verhindern können.
Olaf Scholz und Christian Lindner bei der Vorstellung des dritten Entlastungspakets.
IMAGO / Chris Emil JanßenSeit Monaten bleiben kleine und mittlere Einkommen auf den gestiegenen Preisen sitzen. Manche Gruppen wie Armutsrentnerinnen und Studierende sind besonders stark betroffen. Über mögliche Gegenmaßnahmen wurde lange debattiert. Eine wochenlange Hängepartie gipfelte nun in Verhandlungen führender Regierungspolitiker, die bis in die frühen Morgenstunden andauerten. Seit Samstagvormittag steckte der Koalitionsausschuss die Köpfe zusammen, um das dritte Entlastungspaket auf den Weg zu bringen.
Die Sonne war schon wieder aufgegangen, als die Verhandler das Kanzleramt verließen, um sich ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Die Sitzung hatte sich die ganze Nacht hingezogen. Die Fronten waren verhärtet. Über Wochen hinweg hatten die Parteien öffentlich jeweils Maßnahmen gefordert, die ihre Koalitionspartner strikt ablehnten. Die Parteispitzen von SPD und Grünen riefen nach einer Übergewinnsteuer, Finanzminister Lindner war strikt dagegen. Die FDP wiederum wollte unbedingt die sogenannte kalte Progression dämpfen, daran störten sich aber vor allem die Grünen. Eine Herausforderung für den Koalitionsfrieden.
Die Situation war auch deshalb so verfahren, weil im Koalitionsvertrag verabredet war, an der Schuldenbremse festzuhalten und keine Steuern zu erhöhen. Die Wirklichkeit des Kriegs in der Ukraine und die Unwuchten der Inflation stellen beides infrage. Das dritte Entlastungspaket macht aber trotzdem vor beiden roten Linien der FDP halt: Dieses Jahr werden keine weiteren Schulden gemacht und 2023 kehrt die Ampel zurück zur Schuldenbremse, zumindest vorläufig. Die geplante Abschöpfung der Übergewinne im Stromsektor ist keine Steuer.
Müde und geschafft sehen die Gesichter von Olaf Scholz, Omid Nouripour, Saskia Esken und Christian Lindner aus, als sie schließlich zur Pressekonferenz Platz nehmen. Mitgebracht haben sie ein 65 Milliarden Euro schweres Paket. Ein Lächeln kommt nur Lindner über die Lippen. Hat er wieder einen Sieg eingefahren? Hat sich der kleinste Koalitionspartner mal wieder durchgesetzt? Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man sich durch das neue Dickicht aus unzähligen Maßnahmen gekämpft hat. Die schiere Anzahl an Interventionen ist so groß, dass sich damit zwar gut Polit-PR machen lässt, aber niemand außerhalb der Berliner Politikblase derzeit wirklich den Überblick behalten kann, vor allem nicht die Erwerbstätigen und Studierenden, denen die Entlastungen zugutekommen sollen.
Lindners Vorschlag zur Dämpfung der kalten Progression, das sogenannte Inflationsausgleichsgesetz, hat überlebt, ebenso die Fortführung der Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie. Eine echte Übergewinnsteuer ist hingegen abgewendet worden. Alle Energiekonzerne dürfen ihre fetten Gewinne behalten. Lediglich am Strommarkt will die Ampel eingreifen und eine Erlösobergrenze einführen. Gewinne über der Grenze sollen abgeschöpft werden, allerdings nicht rückwirkend, sondern nur in Zukunft. Wo die Grenze liegen und ab wann sie gelten soll, bleibt unklar. Um diese Details auszuarbeiten, haben die 22 Stunden Verhandlungen nicht ausgereicht.
Die Einnahmen sollen für eine Strompreisbremse genutzt werden, die einen vergünstigten Basisverbrauch ermöglichen soll. Aber ab wann und zu welchem Preis greift dieses Grundkontingent? Auch das bleibt offen. Die Idee einer umgekehrten EEG-Umlage, also einer Abgabe der Stromerzeuger an die Verbraucher, ist grundsätzlich gut. Wie viel sie hilft, steht aber in den Sternen, da zu viele Einzelheiten noch unklar sind. An einen Preisdeckel für den Basisverbrauch von Gas hat sich die Ampel hingegen nicht herangetraut. Mit dieser Frage soll sich stattdessen eine Expertenkommission beschäftigen – ein durchsichtiges Manöver, um der Auseinandersetzung darüber aus dem Weg zu gehen.
Rentner und Studierende wurden beim zweiten Entlastungspaket noch vergessen, werden jetzt aber mitbedacht. Zum 1. Dezember fließen 300 Euro Energiepreispauschale an Rentner, 200 Euro an Studierende. Warum erhalten Studierende 100 Euro weniger? Warum gibt es keine erneute Zahlung für alle, auch Berufstätige? Die Antwort auf diese Fragen bleibt die Ampel schuldig.
Die Pauschalen haben aber durchaus auch ihre positiven Seiten: Sie werden brutto ausbezahlt und müssen versteuert werden. Dadurch können Kassierer stärker entlastet werden als Managerinnen. Der Nachteil: Die 300 Euro sind mittlerweile längst zu knapp bemessen. Wenn man die Energiepauschale für Berufstätige, Rentnerinnen und Studierende bereits etabliert hat oder neu schafft, weshalb hebt man sie dann nicht einfach an? Damit hätte man sich ein halbes Dutzend anderer Kleinmaßnahmen sparen können, was die Transparenz des Pakets erhöht und mehr Planungssicherheit für die Menschen geschaffen hätte.
Zu den Pauschalen für Rentner und Studierende kommen außerdem Zuschüsse für Wohngeldempfängerinnen. Bisher betrifft dies nur einen Personenkreis von rund 700.000 Menschen, durch eine Reform soll dieser auf 2 Millionen Empfängerinnen ausgeweitet werden. Der Zuschuss beträgt einmalig 415 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt, 540 Euro für zwei Personen und für jede weitere Person zusätzliche 100 Euro. Eine sinnvolle Maßnahme, auch wenn der Kreis der Empfänger vermutlich immer noch zu klein bemessen ist und das komplizierte Antragsverfahren viele eigentlich Berechtigte davon abhalten könnte, sich die Hilfen auszahlen zu lassen. Die Erhöhung des Kindergelds um 18 Euro ist ebenfalls sinnvoll, aber kaum ausreichend.
Im Koalitionsvertrag hatte die Ampel vereinbart, Hartz IV durch ein neues Bürgergeld zu ersetzen. Offen blieb bisher, ob nur das Etikett gewechselt wird oder auch die Regelsätze steigen. Neben einiger kleiner Reformen der Sozialleistung steht die Regelsatzerhöhung jetzt ebenfalls im Entlastungspaket. Ab dem 1. Januar 2023 soll das Bürgergeld 500 Euro betragen. Das heißt: 51 Euro mehr als bisher.
Der Haken an der Sache: Die Erhöhung um 51 Euro entspricht gerade einmal einem Inflationsausgleich. Die reale Kaufkraft der neuen Sozialleistung steigt gegenüber den Hartz-IV-Sätzen also nicht an, ein Leben mit dem Bürgergeld wird ein Leben in Armut bleiben. SPD und Grüne haben an diesem Punkt ihre sozialpolitischen Ambitionen – sofern sie sie jemals hatten – vollständig aufgegeben.
Lachhaft ist auch der »Nachfolger« des 9-Euro-Tickets. Christian Lindner hat die »Gratismentalität« im Nahverkehr erfolgreich bekämpft. Aus dem 9-Euro-Ticket soll ein bundesweit einheitliches Ticket im Preisrahmen zwischen 49 und 69 Euro werden. Im Paket sind dafür 1,5 Milliarden Euro vorgesehen, die der Bund beisteuert. Umsetzen müssen die Maßnahme aber die Länder. Und zwar alle sechzehn gemeinsam. Doch für die Landeshaushalte gilt eine viel strengere Schuldenbremse als für den Bund und sie müssen zudem Belastungen aus den angespannten Haushalten der Kommunen auffangen. Die 1,5 Milliarden sind ein läppisches Angebot, mit dem die Ampel ihre Verantwortung abschiebt und das 9-Euro-Ticket begräbt. Der Nachfolger droht zur Hängepartie zu werden. Bundesverkehrsminister Wissing wird die Schuld von sich weisen, wenn sich die Länder erwartungsgemäß nicht einig werden.
Außerdem im Paket enthalten sind erweiterte Kredithilfen für Unternehmen, eine Ausweitung der Midijob-Grenze, Ausgaben für globale Ernährungssicherheit, ein Ende der Doppelbesteuerung von Renten, die Verlängerung des vereinfachten Bezugs des Kurzarbeitergelds und der Start der globalen Mindestbesteuerung in Deutschland. Eine ganze Palette an Maßnahmen, zu umfangreich, um sie hier alle zu nennen. Vor allem die Ausweitung der Midijob-Grenze auf 2.000 Euro ist kritisch zu betrachten, da sie zwar kurzfristig Abhilfe schafft, aber mittelfristig Arbeitsverhältnisse begünstigt, die keine vollständige Sozialversicherungspflicht nach sich ziehen. Bei anschließender Arbeitslosigkeit drohen größere Härten. Diese Maßnahme hat den Hintergrund, dass Olaf Scholz und seine Parteivorsitzende Saskia Esken meinten, eine Entlastung solch geringer Einkommen sei durch Änderungen am Steuersystem nicht möglich. Damit liegen sie falsch, denn eine Verringerung der Steuerlast wäre für diese Personengruppe sehr wohl erreichbar – nur eben bei der Mehrwertsteuer und nicht bei der Einkommensteuer.
Die eigentlich geplante Anhebung des CO2-Preises um 5 Euro pro Tonne wird um ein Jahr verschoben. Das ist gleichwohl kein Verrat am Klimaschutz, denn die Preise für fossile Energieträger sind ohnehin enorm gestiegen und liegen derzeit viel höher als es zum Zeitpunkt der Einführung des CO2-Preises beabsichtigt war.
Als weitere Hilfsmaßnahme können Unternehmen ihren Beschäftigten eine Pauschale von 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei auszahlen. Doch dies bedeutet mitnichten 3.000 Euro Entlastung. Denn die Pauschale ist als Kompensation für kleinere Lohnzuwächse gedacht. Die größte Entlastungsmaßnahme schiebt die Ampel also auf die Wirtschaft ab. Spitzenverdiener dürften die Sonderzahlung in jedem Fall erhalten. Die Handwerkerin, deren Betrieb unter den steigenden Preisen leidet, wohl kaum. Und der Einmalzahlung haftet ein weiteres Problem an: Wenn dadurch Lohnwachstum ausbleibt, müssen Gewerkschaften nächstes Jahr umso mehr fordern, um dem Preisniveau zu folgen. Ob ihnen das gelingen wird, ist fraglich.
Das Gesamtpaket wird von der Regierung mit 65 Milliarden Euro beziffert, doch es enthält eine Strompreisbremse, die es noch nicht gibt, und ein Bürgergeld, ein Inflationsausgleichsgesetz sowie eine Umsatzsteuersenkung für die Gastronomie, die schon längst beschlossen waren. Besonders pikant am Inflationsausgleichsgesetz ist, dass es Spitzenverdiener in absoluten Beträgen betrachtet am meisten entlastet.
Doch damit nicht genug: Die 65 Milliarden seien die »gesamtstaatliche« Wirkung des Entlastungspakets, so Lindner auf Nachfrage in der Pressekonferenz. Rechnerisch sind also Milliardenbeiträge von den Ländern und Kommunen schon enthalten. Der Bund besteht weiter darauf, keine neuen Schulden zu machen. In den Bundeshaushalten 2022 und 2023 konnten rund 32 Milliarden Euro für die Entlastungen mobilisiert werden, so Lindner. Weil die Steuereinnahmen höher ausfallen werden als erwartet, für das Haushaltsjahr 2023 noch Spielraum vorhanden war und die Strompreisbremse als Umlage von den Stromproduzenten finanziert wird, kann die Schuldenbremse beibehalten werden – so jedenfalls der Plan.
Um ein erstes Fazit zu ziehen: Ja, die Ampel hat ein Paket geschnürt, dass für manche Menschen spürbare Auswirkungen haben wird. Gleichzeitig zeichnet sich das Entlastungspaket aber durch Flickschusterei und Knausrigkeit aus. Statt wenige große Maßnahmen gibt es viel Stückwerk. »You’ll never walk alone« – dieses Gefühl der solidarischen Geborgenheit will hier beim besten Willen nicht aufkommen. Dafür hätte die Schuldenbremse fallen müssen. Doch an diesem Tabu rüttelt die Regierung nicht – bis jetzt jedenfalls.
Stattdessen müsste man bei jeder großen Maßnahme nachlegen. Es bräuchte einen Preisdeckel bei Strom und Gas, damit der Winter wirtschaftlich planbar bleibt. Es bräuchte ein Wintergeld für alle, damit die anfallenden Rechnungen beglichen werden können. Es bräuchte einen Sozialstaat, der die Schwächsten dauerhaft vor Armut schützt. Es bräuchte eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets und das Aussetzen der Schuldenbremse. Nichts davon ist im jetzt beschlossenen Entlastungspaket enthalten. Ein Winter der sozialen Kälte steht uns weiterhin bevor.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist beim Jacobin Magazin.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.