05. Januar 2023
Befürworter der kapitalistischen Globalisierung behaupten, globale Wertschöpfungsketten würden weltweit Wohlstand verbreiten. Die wahren Gewinner sind Firmen wie Apple, die so die Lohnkosten drücken, während die Arbeiter in Armut gefangen bleiben.
Arbeiterinnen in einer Foxconn-Fabrik in Shenzhen. Foxconn ist einer der führenden Hersteller von iPhones. Im Jahr 2010 hatten sich mehrere Foxconn-Beschäftigte aufgrund der unmenschliche Arbeitsbedingungen in den Tod gestürzt.
IMAGO / ZUMA PressGlobale Wertschöpfungsketten (GWKs) »steigern die Einkommen, schaffen bessere Arbeitsplätze und verringern die Armut«. Das behauptet zumindest die Weltbank. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1991 und der Wiedereingliederung Chinas in die Weltwirtschaft wird der Welthandel zunehmend über globale Wertschöpfungsketten organisiert. Die einzelnen Komponenten für das iPhone von Apple – eine Ikone der kapitalistischen Globalisierung – werden etwa von Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern in über fünfzig Ländern hergestellt.
Transnationale Unternehmen etablierten GWKs als Teil ihrer Wettbewerbsstrategie. Bestehende Arbeitsprozesse wurden outgesourct oder neue Aktivitäten in Ländern mit niedrigerem Lohnniveau aufgenommen. Staatliche Manager im gesamten Globalen Süden begannen, den Aufbau integrierter einheimischer Industrien zunehmend zu vernachlässigen und versuchten stattdessen, sich als Zulieferer in GWKs einzugliedern. Heute sind über 450 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in den Industrien von GWKs beschäftigt.
Viele prominente Stimmen beteuern, diese Produktions- und Vertriebssysteme würden radikal neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Der frühere Generalsekretär der OECD, Ángel Gurría, behauptete etwa: »Von globalen Wertschöpfungsketten kann jeder profitieren [...]. Durch den Ausbau und die Integration in globale Wertschöpfungsketten entstehen Arbeitsplätze und nachhaltiges Wachstum für unsere Volkswirtschaften.«
Der Vordenker der GWK-Analyse, der Soziologe Gary Gereffi, meint, um den Globalen Süden wirtschaftlich zu entwickeln, müssten sich Zuliefererfirmen »mit dem führenden Unternehmen einer Branche verbinden«.
In Wirklichkeit sind die GWKs vor allem für einige der weltgrößten Unternehmen ein Segen, nicht aber für ihre Beschäftigten. Es wäre daher zutreffender, von globalen Armutsketten und nicht von globalen Wertschöpfungsketten zu sprechen.
Ein aktueller Rechtsfall hat aufgedeckt, unter welchen Bedingungen burmesische Arbeitsmigranten in thailändischen Fabriken Jeans für den großen britischen Einzelhändler Tesco herstellen: Zwangsarbeit, Armutslöhne und Missachtung des Arbeitsschutzes. Zwischen 2017 und 2020 stellten diese Arbeiterinnen Jeans, Jeansjacken und andere Kleidungsstücke für VK Garment (VKG) her, das größte Einzelhandelsunternehmen Großbritanniens und – dem Umsatz nach – das neuntgrößte Unternehmen der Welt. Sie haben gegen das Unternehmen Klage eingereicht und werfen ihm Fahrlässigkeit und unrechtmäßige Bereicherung vor.
Die Beschäftigten arbeiteten in der Regel von 8 bis 23 Uhr und hatten nur einen Tag im Monat frei. Um größere Aufträge zu erfüllen, wurden sie mitunter dazu gezwungen, 24 Stunden am Stück zu arbeiten. Obwohl der thailändische Mindestlohn damals bei knapp 7 Pfund für einen Achtstundentag lag, erhielten die meisten dieser Arbeiterinnen und Arbeiter weniger als 4 Pfund. Verletzungen am Arbeitsplatz und Misshandlungen durch die Vorgesetzten gehörten zur Tagesordnung.
»In etwa 80 Prozent der Freiwirtschaftszonen wird weniger als der nationale Mindestlohn gezahlt.«
Aufgrund ihres Einwanderungsstatus waren die Arbeitsmigranten von ihrer Anstellung bei VK Garment abhängig, was sie anfälliger für Mobbing und Lohnraub machte. Die Unterkünfte, die der Konzern stellte, waren schmutzig und überbelegt. Als eine Arbeiterin den thailändischen Mindestlohn einforderte, wurde sie von ihren Vorgesetzten als Hund beschimpft. Sie sagten ihr: »Wenn du nicht mehr hier arbeiten willst, kann du ja gehen.« Tesco hat im Jahr 2020 einen Gewinn von über 2 Milliarden Pfund eingefahren.
Die extreme Ausbeutung, die die burmesischen Arbeiterinnen und Arbeiter erdulden, ist innerhalb globaler Wertschöpfungsketten gängige Praxis. Führende Konzerne wie Tesco setzten gerade deswegen auf diese Strategie, um sich den Großteil der Wertschöpfung, die von den Arbeiterinnen und Arbeitern erwirtschaftet wird, anzueignen – weshalb für letztere so gut wie nichts übrig bleibt.
GWKs entstanden, als der Neoliberalismus weltweit vorherrschend wurde. Freiwirtschaftszonen, die ausländisches Kapital von Einfuhr- und Ausfuhrsteuern befreien und Zugang zu billigen, oft nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitskräften bieten, haben die Verbreitung von GWKs vorangetrieben. Während es im Jahr 1975 weltweit nur 79 GWKs in insgesamt 25 Ländern gab, waren es im Jahr 2006 bereits 3.500 in 130 Ländern. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten etwa 66 Millionen Menschen in Freiwirtschaftszonen.
»Im Jahr 2010 verbuchte Apple 58 Prozent des Verkaufspreises des iPhones als Gewinn, während die chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter gerade einmal 1,8 Prozent erhielten.«
Die International Labor Organisation (ILO) fand heraus, dass in etwa 80 Prozent der Freiwirtschaftszonen weniger als der nationale Mindestlohn gezahlt wurde. Ähnliche Arbeitsbedingungen haben sich über ganze Volkswirtschaften ausgebreitet, wovon Konzerne auf Kosten der Beschäftigten massiv profitieren. In einem Bericht der Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) von 2018 heißt es etwa:
»Der Anstieg der Gewinne der größten transnationalen Unternehmen war für mehr als zwei Drittel des Rückgangs des Anteils des globalen Arbeitseinkommens zwischen 1995 und 2015 verantwortlich. Obwohl der steigende Anteil der Gewinne der führenden transnationalen Konzerne auf Kosten kleinerer Unternehmen ging, korreliert er seit Beginn des neuen Jahrtausends auch stark mit dem sinkenden Anteil des Arbeitseinkommens.«
Am Beispiel des iPhones von Apple sieht man das sehr gut. Die Fans von globalen Wertschöpfungsketten behaupten, die hohe Produktivität des Hightech-Sektors sei für die Arbeiterinnen und Arbeiter von Vorteil. Doch die Produktion dieser Smartphones verteilt die Gewinne der GWK-basierten Globalisierung nicht – im Gegenteil, sie beruht auf Armutslöhnen und katastrophalen Arbeitsbedingungen. Im Jahr 2010 verbuchte Apple 58 Prozent des Verkaufspreises des iPhones als Gewinn, während die chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter gerade einmal 1,8 Prozent erhielten.
Die Komponenten für das iPhone werden von Megafirmen wie Foxconn und dem weniger bekannten, aber ähnlich ausbeuterischen Pegatron produziert. Die Arbeitsbedingungen sind diktatorisch und missbräuchlich. Terry Gou, der CEO von Hon Hai, dem Mutterkonzern von Foxconn, erklärte einmal: »Bei Hon Hai arbeiten weltweit über 1 Million Beschäftigte. Da Menschen auch Tiere sind, bereitet es mir Kopfschmerzen, 1 Million Tiere zu managen.« Es ist daher kaum verwunderlich, dass das Arbeitsregime bei Foxconn von regelmäßiger und beständiger Erniedrigung der Arbeiterinnen und Arbeiter geprägt ist.
China Labor Watch berichtete, dass die Beschäftigten in den Fabriken von Pegatron in Shanghai 450–500 Motherboards pro Stunde zusammenbauen müssen. Mehr als die Hälfte von ihnen leisteten pro Monat mehr als neunzig Überstunden, weil ihre Löhne nicht dem örtlichen Lebensstandard entsprechen.
Die Löhne bei Foxconn, Pegatron oder VK Garments sind so gering, dass die Beschäftigten gezwungen sind, in exzessivem und gesundheitsgefährdendem Ausmaß Überstunden zu leisten. Anders können sie ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Doch die Apologetinnen der GWK-getriebenen Globalisierung interessiert das nicht.
In seinem Bestseller Why Globalization Works hat Martin Wolf, Kolumnist der Financial Times, das Leid der Arbeitenden in solchen Fabriken verharmlost: »Es stimmt, dass chinesische Arbeiter von transnationalen Unternehmen in der Hoffnung auf Profite ausgebeutet werden. Genauso stimmt aber auch, dass chinesische Arbeiter transnationale Unternehmen in der (fast immer erfüllten) Hoffnung auf höhere Löhne, eine bessere Ausbildung und Perspektive ausbeuten.«
Ganz ähnlich argumentierte Jeffrey Sachs, der ehemalige des Direktor des Millenium Projekts der Vereinten Nationen, als er den Vorwurf zurückwies, Sweatshops seien ausbeuterisch. Sie seien vielmehr »die erste Sprosse auf der Leiter aus der extremen Armut heraus«. Sachs behauptete sogar, die »in der reichen Welt ansässigen Gegner der neoliberalen Globalisierung« sollten vielmehr »eine Vermehrung solcher Arbeitsplätze« fordern.
Sachs und Wolf verstecken sich hinter der Weltbank-Definition extremer Armut, die auch als 1-Dollar-pro-Tag-Armutsgrenze bekannt ist. Dieser Berechnung zufolge ist die Armut weltweit in den vergangenen vier Jahrzehnten erheblich zurückgegangen.
»Wenn eine Arbeiterin pro Tag mehr als 1 US-Dollar konsumiert und dafür gesundheitsgefährdende Arbeit verrichtet, dann gilt sie der Weltbank zufolge nicht als arm.«
Das Problem an diesem Maßstab ist, dass er so gut wie gar nichts über die Armut besagt, die Menschen tatsächlich ertragen müssen. Es ist eine völlig willkürliche Zahl, die mit den wirklichen Bedürfnissen armer Menschen nichts zu tun hat. Mitte der 2000er Jahre war die Armutsgrenze der Weltbank etwa damit vergleichbar, als müsste man in den USA von 1,30 Dollar am Tag überleben.
Diese Armutsmessung gibt zudem keinen Aufschluss über die Mechanismen, die Arbeiterinnen und Arbeiter in die Armut drängen. Vielmehr dient sie den Ideologen des Kapitalismus dazu, ein Weltbild zu zeichnen, wonach die globale Armut dank der Beschäftigungsstrategien von Konzernen wie VK Garment, Foxconn oder Pegatron schon bald überwunden sein wird.
Die Armutsgrenze, die Sachs und Wolf heranziehen, um die armutsverursachenden Arbeitsbedingungen in GWKs zu legitimieren und sogar zu zelebrieren, ist unmenschlich und arbeiterfeindlich. Wenn eine Arbeiterin pro Tag mehr als das Äquivalent von 1 US-Dollar konsumiert und dafür gesundheitsgefährdende Arbeit verrichtet – sei es aufgrund exzessiv ausufernder Arbeitszeiten oder gefährlichen Arbeitsbedingungen –, dann gilt sie der Weltbank zufolge nicht als arm. Gemäß dieser Armutsmessung sind die Beschäftigten von VK Garment also nicht von Armut betroffen.
Anstatt diese Propaganda für bare Münze zu nehmen, können wir mithilfe der marxistischen Tradition verstehen, warum im Kapitalismus anhaltend Erwerbsarumt vorherrscht. »Das Kapital ist rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird«, warnte bereits Marx. Auch beobachtete er, wie Kapitalisten versuchten, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, indem sie die Löhne unter den Wert der Arbeitskraft drückten.
Die weit verbreitete Erwerbsarmut der Beschäftigten in GWKs deutet darauf hin, dass diese eben nicht für steigende Einkommen, bessere Arbeitsplätze und geringere Armut sorgen, wie die Weltbank und zahlreiche Akademiker uns glauben machen wollen. GWKs sind vielmehr eine Organisationsstrategie für transnationale Unternehmen, die darauf angelegt ist, Ausbeutung zu verschärfen, indem man die Löhne unter dem Wert der Arbeitskraft hält. Diese Strategie hat zwar transnationalen Konzernen Rekord-Profite beschert, aber Hunderte Millionen von Menschen dazu gezwungen, gesundheitsschädliche Arbeit zu Hungerlöhnen zu verrichten.
Für Marx war Armut ein soziales Phänomen. Im Gegensatz zur unmenschlichen Armutsgrenze der Weltbank legte er seiner Definition und Berechnung von Armut die physischen Bedürfnisse der Arbeiterinnen zugrunde. Er betonte außerdem – und das ist entscheidend –, dass die Bemessung der Armut einen »moralischen Aspekt« hat: Sie hängt an der Frage, ob die Arbeiter die kapitalistische Klasse dazu bewegen können, sie als menschliche Wesen mit sozial definierten Bedürfnissen anzuerkennen, und nicht nur als Träger von Arbeitskraft – oder als »Tiere«, wie es der Foxconn-Chef Terry Gou sagen würde.
Ist eine Welt denkbar und erreichbar, in der Armutsketten der Vergangenheit angehören? Dafür muss zunächst einmal Armut dort erkannt werden, wo sie existiert. Arbeiterinnen und Arbeiter, die gegen die Armut ankämpfen, müssen bestärkt werden. Aus diesen Gründen verdient die Klage gegen Tesco unsere volle Unterstützung.
Es hat unzählige Arbeitskämpfe für bessere Löhne und Bedingungen in den GWKs gegeben, von Arbeitsniederlegungen in Chinas riesigen Elektronikfabriken über die Kämpfe mittelamerikanischer Landarbeiterinnen für die Anerkennung von Gewerkschaften bis hin zu den den Massenstreiks in Thailands Textilfabriken. Nur auf Basis dieser Kämpfe kann die Macht transnationaler Konzerne und ihrer globalen Armutsketten herausgefordert werden.
Benjamin Selwyn ist Professor für Internationale Beziehungen und Internationale Entwicklung an der University of Sussex. Er ist Autor von »The Struggle for Development« (2017), »The Global Development Crisis« (2014) und »Workers, State and Development in Brazil« (2012).