29. Juli 2021
Vor weniger als zwei Jahren trat ein Bündnis aus Erneuerern und Jusos an, um die SPD aus der neoliberalen Sackgasse zu führen. Von dem vermeintlichen Aufbruch ist so gut wie nichts mehr zu spüren.
Kevin Kühnert, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken bei der Wahl zum Parteivorsitz am 6. Dezember 2019.
Im Spätherbst 2019 standen in der organisierten Sozialdemokratie der Bundesrepublik Deutschland alle Zeichen auf Neuanfang. In einer Mitgliederbefragung hatten sich zwei Underdogs der politischen Landschaft gegen das Gesicht des Establishments der SPD, Olaf Scholz – den Trommler für die Agenda 2010 – durchgesetzt. Getragen von einer Welle der Sympathie, Hoffnung und Zuversicht standen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans für die Abkehr von der »neoliberalen Pampa«, wie Walter-Borjans dem Publikum bei den Parteiveranstaltungen vor der Stichwahl immer wieder zugerufen hatte.
Scholz und seine Mitbewerberin Klara Geywitz wollten, wie der gesamte konservative Flügel der Partei, in der GroKo bleiben. Esken und Walter-Borjans hingegen signalisierten den Willen zu Nachverhandlungen und einem möglichen Ausstieg aus der Koalition. Insbesondere der linke Flügel, die Jusos und einige parteinahe Gliederungen mobilisierten für Esken und Walter-Borjans.
Die bestehende Koalition aus Union und SPD war in der Bevölkerung unbeliebt wie nie zuvor, die SPD organisatorisch, personell und vor allem inhaltlich ausgezehrt. Doch plötzlich gab es mit Saskia Esken eine SPD-Vorsitzende, die sich traute, den Begriff »Sozialismus« zu verwenden, strukturellen Rassismus bei der Polizei anzusprechen und sich kritisch gegen digitale Überwachung zu äußern. Norbert Walter-Borjans deutete in einer Gesprächsrunde des Magazins Der Spiegel sogar an, man könne Leute wie Scholz nicht mehr zum Kanzlerkandidaten machen.
Für viele Genossinnen und Genossen fühlte es sich nicht einfach wie ein Wechsel des Parteivorsitzes an, sondern wie der Beginn einer neuen Ära. Endlich wieder linke Politik machen, sogar eine rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene schien plötzlich denkbar.
Rückblickend deutete sich allerdings bereits früh der fatale Irrweg der nächsten Monate an. Die Regie des Parteitages vom Dezember 2019 griff den Geist des Neubeginns auf und ließ die Bühne mit einer stilisierten roten Rose dekorieren, die wehmütig an vermeintlich bessere Zeiten erinnerte, als die Werte der Sozialdemokratie noch stabil und der politische Gegner klar erkennbar schienen. »In die neue Zeit« – so lautete der Slogan des Parteitages.
Mit ihren Vorstellungsreden befeuerten Esken und Walter-Borjans nochmals die Hoffnungen auf eine Linkswende in der SPD. Letzterer griff sogar die Politik von Willy Brandt auf und schwor, die SPD wieder zu einer Friedenspartei machen zu wollen.
Dann aber stellten sie ihr Personaltableau vor. Der Seeheimer Lars Klingbeil, der noch 2017 vom damaligen Parteivorsitzenden und ebenfalls Seeheimer-Mitglied Martin Schulz vorgeschlagen worden war, sollte weiterhin Generalsekretär bleiben. Klingbeil, früherer Mitarbeiter und treuer Anhänger Gerhard Schröders, war stets anzusehen, dass er von einem möglichen Linkskurs der SPD nicht viel hielt. Folgerichtig fiel er auch eher durch sein Engagement für das Panzermuseum in seinem Wahlkreis auf, denn durch progressive Politik. Klara Geywitz, gerade noch an der Seite von Scholz unterlegen, sollte stellvertretende Parteivorsitzende werden. Auch Hubertus Heil beanspruchte diesen Posten. Um eine Kampfabstimmung zwischen ihm und Kevin Kühnert zu vermeiden, wurde kurzerhand die Anzahl der stellvertretenden Parteivorsitzenden auf fünf erhöht. Beide wurden gewählt, ebenso die eher konservative Anke Rehlinger aus dem Saarland.
Bereits in diesem Moment zeigte sich die fehlende Bereitschaft der als links geltenden Parteispitze zur Auseinandersetzung mit dem rechten Flügel. Im Willy-Brandt-Haus seien Esken und Walter-Borjans auf sehr viel Ablehnung und Feindseligkeit getroffen, erzählen führende Genossinnen und Genossen hinter vorgehaltener Hand. Aus der Not heraus sei ein Pakt mit Lars Klingbeil geschmiedet worden, um die fehlende Hausmacht zu kompensieren.
Auf Angebote von außen, aus dem Momentum des Neuanfangs eine parteiinterne Bewegung zu formen, reagierte die Parteispitze ausweichend. Es müsse jetzt darum gehen, die Unterlegenen einzubinden, sagten sie. Dass es gerade das Parteiestablishment war, allen voran der Seeheimer Kreis und einige Netzwerker unter den Schröder-Freunden, welche die Partei überhaupt in diese katastrophale Lage gebracht hatten, blieb offenbar nebensächlich. Schließlich waren sie es gewesen, die die einfachen Leute behördlicher Gängelei, künstlich niedrig berechneten Hartz-IV-Sätzen und einer Vielzahl an Diffamierungen ausgesetzt hatten.
Während die beiden neuen Vorsitzenden, insbesondere aber Saskia Esken, in der Öffentlichkeit von rechter und konservativer Seite medial hart angegangen wurden – ganz ähnlich wie gegenwärtig die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock –, herrschte in der Bundestagsfraktion Eiszeit. Esken und Walter-Borjans wurden geschnitten und zum Teil pressewirksam von einzelnen Abgeordneten zurechtgewiesen.
Es hätte an dieser Stelle vermutlich eine Geste der Macht gebraucht, etwa die Abberufung von Scholz als Finanzminister und den Eintritt von Norbert Walter-Borjans in die Bundesregierung. Stattdessen geschah: nichts. Die Attacken wurden fortgesetzt.
Nun traten die beiden Vorsitzenden mit einer Vielzahl unterschiedlicher politischer Forderungen in Erscheinung: Verzicht auf die Pläne zum Einsatz des Staatstrojaners, Aufnahme von mehr Geflüchteten aus den Lagern in Griechenland, eine Vermögensabgabe für Wohlhabende. Doch die Ideen verhallten. Die Medien schwiegen. Selbst Kevin Kühnert, der mehrmals zum Königsmacher der beiden hochgeschrieben wurde, hielt sich auffällig zurück.
Ein wenig Aufregung gab es dann nur noch, als Saskia Esken in der ARD bekannt gab, dass auch eine Koalition mit der LINKEN denkbar sei, selbst mit den Grünen – auch dann, wenn die SPD nicht den Kanzler stellen würde. Wen die SPD als Spitzenkandidaten für dieses Amt auserkoren hatte, wurde dann am nächsten Tag bekannt gegeben: ausgerechnet Olaf Scholz. Obwohl er sich als erster Kanzlerkandidat der SPD während seiner Anwartschaft vor gleich zwei Untersuchungsausschüssen für sein politisches Handeln rechtfertigen musste, erzählte man sich in der Partei, er sei der einzige, der in Frage käme. Führende Mitglieder beider Flügel verwiesen auf die Beliebtheitswerte, die Olaf Scholz in Umfragen erreiche. Dass sich diese nicht zwingend auf das Wahlergebnis übertragen, wurde dabei ausgeblendet.
Die beiden Vorsitzenden führten Gespräche mit lang gedienten Genossinnen und Genossen, erhielten jedoch überall Absagen. Man könne sich eben keinen anderen Kandidaten backen. Alle Hoffnungen auf einen Neuanfang waren damit obsolet. Denn niemand steht so sehr für eine »SPD in der neoliberalen Pampa« wie Olaf Scholz. Doch er, der ehemalige Erste Bürgermeister Hamburgs, sowie Generalsekretär Lars Klingbeil dürften den beiden Vorsitzenden in einem vertraulichen Gespräch klargemacht haben, dass für sie kein Weg an Scholz vorbeiführt.
Gleich nach der Nominierung von Scholz wurden die üblichen Stimmen laut, die »Beinfreiheit« für den Kandidaten forderten und vor einem Linksruck der SPD warnten. Einige, wie Franziska Giffey, forderten die beiden Parteivorsitzenden ganz offen dazu auf, sich unterzuordnen. Seither hört man von den beiden fast nichts mehr.
Sollten Esken und Walter-Borjans tatsächlich eine Vision für die Zukunft der SPD entwickelt haben, ist es ihnen offensichtlich nicht gelungen, diese zu kommunizieren, geschweige denn sie auch umzusetzen. Die Wirklichkeit ist vermutlich noch profaner: Während der Kandidatur für den Parteivorsitz blieb schlicht weder Zeit noch Energie, um eine größere Idee zu formulieren. Nach den Angriffen der konservativen Presse, der unverhohlenen Häme aus der SPD-Bundestagsfraktion und den öffentlichen Fürsprachen der gesamten Parteiprominenz für Olaf Scholz dürften Esken und Walter-Borjans nach ihrer Wahl als Parteivorsitzende schnell ernüchtert gewesen sein.
Auf die Frage, was er durch sein Amt des Parteivorsitzes bereits gelernt habe, antwortete Walter-Borjans dem Journalisten Tilo Jung, er habe feststellen müssen, wie viele Einzelinteressen es innerhalb der SPD zu berücksichtigen gäbe. Stets müsse man darauf achten, welche »Gruppe in der SPD sich jetzt ausreichend angesprochen fühlt«. Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass praktisch niemand mit dem Sieg von Esken und Walter-Borjans gerechnet hatte. Entsprechend distanziert sei man ihnen im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale in Berlin, zunächst begegnet. Zurück bleibt der Eindruck, dass die beiden Vorsitzenden wohl völlig unterschätzten, mit welchen struktur- und wertkonservativen Beharrungskräften sie es zu tun haben würden.
Die Tragik der Entwicklung um Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans liegt darin, dass kein Vorsitz der SPD zuvor jemals mit einem größeren demokratischen Votum ausgestattet war. Hatten bisher stets höchstens wenige hundert Delegierte auf einem Parteitag über den Parteivorsitz entschieden, hatten 2019 erstmals Zehntausende Mitglieder die Möglichkeit, mitzuentscheiden. Beide Vorsitzende haben dieses starke Mandat nicht nutzen können. Vielleicht waren sie mit der Aufgabe der Parteiführung überfordert. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass linke Idealisten, die tatsächlich etwas auf Werte wie Solidarität geben, seltener zu Mitteln innerparteilicher Auseinandersetzung greifen.
Ein großes, identitätsstiftendes Ziel und die Einbindung vieler Freiwilliger – so lässt sich erfolgreich eine Massenbewegung aufbauen, schreiben Becky Bond und Zack Exley über die Kampagne von Bernie Sanders in ihrem Buch Rules for Revolutionaries. Statt eines klaren Zieles und einer deutlichen Richtungsentscheidung hat die SPD jahrelang versucht, es möglichst vielen Recht zu machen. Sie nannten es »die Mitte« – und erreichten damit immer weniger Menschen in einer zerfallenden Gesellschaft. Der Organizing-Ansatz der Sanders-Kampagne war Esken und Walter-Borjans wohl leider eher fremd. Und so verharrt die SPD im Weiter-so.
Auch der spröde Olaf Scholz kann und will die Bühne nicht füllen, um Menschen zu begeistern – er versucht es nicht mal. Statt auf inhaltliche Visionen und politischen Furor setzt der Niedersachse auf eine unambitionierte Politik des Status quo und der kühlen Distanziertheit. Wenn den Leuten im Sommer auffällt, dass die Kanzlerinnenschaft Angela Merkels bald Geschichte sein wird, werden sie sich nach dem unaufgeregten Scholz sehnen – das glaubt man zumindest im Willy-Brandt-Haus.
Was aber sagt es über eine Partei, die jemanden zum Kanzlerkandidaten ausruft, der jahrelang genau jene antisoziale Politik befeuert hat, die sich bis heute im Ausbluten an Mitgliedern und Wählerstimmen niederschlägt? Die bittere Wahrheit ist: Es geht den meisten aktiven Parteimitgliedern zuerst um ein gutes Abschneiden der eigenen Organisation. Dafür werden inhaltliche Abstriche in Kauf genommen. Für eher links denkende Anhängerinnen und Anhänger der Partei werden regelmäßig kurz vor den Wahlen einige Tropfen Öl in das wärmende Feuer linker Heilsversprechen gegossen, die dann verglühen und nichts als Asche hinterlassen.
So ist es auch in diesem Jahr. Die Argumente, um jegliche Wünsche nach echter Veränderung auszuschlagen, lauten »der Einzige, den wir haben« und »das linkeste Wahlprogramm seit langem«. Hinter diesen Parolen verbirgt sich dann ein politisch beliebiges »Hauptsache regieren«.
Olaf Scholz lässt sich davon nicht beirren. Er hat seit Jahren nur dieses eine Ziel: die Kanzlerschaft. Dafür ist er bereit, sich selbst mit den Parteilinken der SPD zu verbinden, solange ihm das nutzt. Dies zeigte sich bereits in seinem Umgang mit Andrea Nahles, ursprünglich ebenfalls eine Parteilinke, während er schon immer als Favorit der Seeheimer galt. Solange Nahles als Parteichefin fest im Sattel saß, blieb Scholz an ihrer Seite. Mit Einsetzen der innerparteilichen Attacken gegen sie nach der verlorenen Europawahl 2019, verstummte er und sah seine Chance kommen.
Sollte Scholz besser abschneiden als bei der Bundestagswahl 2017, wird die Erzählung lauten, er habe das »trotz der Vorsitzenden« erreicht, unterbietet er die 20,5 Prozent, dann natürlich »wegen der Vorsitzenden«. Auch davor wurden Esken und Walter-Borjans gewarnt. Konsequenzen gab es keine.
Um seinen Traum vom Kanzleramt nicht zu gefährden, nimmt Scholz ein Programm in Kauf, dass vor allem auf diejenigen zugeschnitten ist, die in unserem Land Wahlen entscheiden: ältere Menschen über 60. Dies deckt sich nicht nur mit der völlig überalterten Demografie der SPD, sondern auch mit einem falschen Sicherheitsdenken, welches auf der Annahme gründet, man müsse möglichst wenig verändern.
Scholz setzt also vor allem auf die Menschen, welche von den Folgen der Klimakatastrophe und der sozialen Frage am wenigsten betroffen sein werden. Green New Deal, Jobgarantie, Grundeinkommen – all das ficht ihn nicht an. Wer hart arbeite, der verdiene Respekt – so lautet der Wahlspruch des Vizekanzlers. Der aktuelle, unfassbar langweilige Wahlkampf steht in völligem Gegensatz zu der Tatsache, dass diese Wahl die Weichen für den Weg des Landes in den nächsten Jahrzehnten stellen dürfte.
Scholz lebt ausschließlich von den Fehlern der Anderen. Er hat nichts anzubieten außer hohle Worte. Auf den Vorwurf, die Politik der Agenda 2010 – und damit er persönlich – hätte den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen, entgegnete er noch 2018, er halte dies für eine »Verschwörungstheorie«. Nun spricht er vom Respekt vor der »Lebensleistung hart arbeitender Menschen«. Millionen Niedriglöhner und Rentnerinnen in Altersarmut dürften sich zurecht verhöhnt fühlen. Wo in den USA Bernie Sanders geradeheraus sagte, dass Superreiche und Großkonzerne nicht mehr alles für sich beanspruchen könnten, befindet Scholz, dass die »globale Misswirtschaft« eben »respektlos« sei. Und nun? Das bleibt bei Scholz offen.
Mutigen Aufbruch, wirksamen Klimaschutz, eine echte Lösung der Frage sozialer Ungleichheit – all das sucht man vergebens bei dem Mann, der am liebsten den entpolitisierenden Politikstil Angela Merkels fortführen würde. Die beiden Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans tragen das mit. Die Jusos ebenso. Deren ehemaliger Vorsitzender Kevin Kühnert wurde in der Zeit des Mitgliederentscheides über die erneute GroKo im Jahr 2018 zum Gesicht des Widerstandes gegen die erneute Zusammenarbeit von Union und SPD hochstilisiert. Zahlreiche Medien wähnten bei den Jusos eine ungeahnte Macht. Kühnerts Wort hat Gewicht. Höhepunkt dieser Entwicklung war sicherlich seine Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden.
Dass Identität allein wenig über die politische Wirkung aussagt, lässt sich an seinem Beispiel sehr gut sehen. Jung, sozialistisch – am Ende aber doch angepasst. Auch er unterstützt die Kandidatur von Olaf Scholz. Von der vermeintlichen Macht der Jusos ist jetzt nichts mehr zu spüren. Kühnerts Nachfolgerin, Jessica Rosenthal, bleibt in der medialen Darstellung vergleichsweise blass. Auch sie unterstützt Scholz kritiklos, auch sie will dieses Jahr in den Bundestag.
Von Scholz erwartet hier niemand etwas mehr, von den Jusos eigentlich schon. Einzelne unter ihnen, die nicht genannt werden wollen, erzählen, dass das Bundesbüro der Jusos in den letzten Jahren immer mehr zu einer eigenen, abgeschlossenen Welt geworden sei. Bundesweite Aktionen gab es seit 2018 keine mehr. Daher werden auch nur vereinzelt Anknüpfungspunkte zu Bewegungen gesucht, welche die wichtigsten Anliegen unserer Zeit vertreten. Dies lässt sich an der fehlenden Zusammenarbeit mit Fridays for Future auf Bundesebene ebenso ablesen, wie an der Zurückhaltung gegenüber Initiativen wie Deutschen Wohnen und Co. enteignen.
Ein nächster Prüfstein könnte sein, wie sich die SPD und die Jusos zur Frage von Koalitionen verhalten. Lars Klingbeil und Olaf Scholz würden eine Koalition mit Union und FDP vermutlich allen anderen Bündnissen vorziehen. Dies wäre dann ein weiterer Katalysator für die völlige Entkernung der SPD. Angesichts der kommenden und sich bereits vollziehenden Weltkrisen möchte man die Partei wachrütteln: Sie wird ja gebraucht. Eigentlich. Nur wirkt es, als habe sie sich schon längst geschlagen gegeben.
Die bundesdeutsche Sozialdemokratie sollte sich nicht kampflos zurücklehnen. Auf Bundesebene keine Koalitionen mehr mit Union und FDP einzugehen, wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Linken in der SPD haben es lang genug versäumt, Netzwerke zu bilden und erfolgreiche Kandidaturen zu unterstützen. Sie ließen sich in Loyalitätskonflikte verwickeln, statt die Interessen der Bevölkerung und der Umwelt im Blick zu haben.
Es war Peter Kropotkin, der bereits 1885 in seinem Werk Worte eines Rebellen erkannte: »Die ärgsten Feinde des Sozialismus haben begriffen, daß das beste Mittel, denselben zu meistern, darin besteht, sich als seine Anhänger auszugeben.« Statt sich daher auf einzelne Personen wie Kevin Kühnert zu verlassen, auf die sämtliche Erwartungen projiziert werden, müssten die Linken in der SPD selbst tätig werden und sich kompromissloser auf die Formulierung der Vision eines demokratischen Sozialismus konzentrieren – wie es auch im Grundsatzprogramm der SPD vorgesehen ist. Und sie müssten diese Vision in konkrete Politik übersetzen.
Allerdings sind die Linken in der SPD derart marginalisiert, dass fraglich ist, ob sie ausreichend Einfluss gewinnen können.
Wie sehr aufgeschobene Richtungsentscheidungen linke Parteien lähmen können, lässt sich im Übrigen auch an der Partei DIE LINKE ablesen. Auch hier sind verschiedene Lager ineinander verkeilt. Identitäts- und Klassenpolitik sind eben gerade kein Widerspruch. Doch zur Sicherung eigener Einflüsse wird dieser vermeintliche Konflikt ständig befeuert. Im Ergebnis sinkt die Zustimmung zur LINKEN immer weiter, sodass man beinahe darum fürchten muss, ob es ihr überhaupt gelingt, im nächsten Bundestag vertreten zu sein.
Besonders tragisch daran ist, dass es eigentlich durchweg gesellschaftliche Mehrheiten für linke Kernanliegen gibt – niemand in der arbeitenden Bevölkerung hat ernsthaft etwas gegen gute Löhne, eine armutsfeste Alterssicherung oder bezahlbaren Wohnraum für alle. Diese Zustimmung zeigt sich jedoch selten bis gar nicht in entsprechenden Wahlergebnissen. Während DIE LINKE von allen Seiten permanent als Erbin der SED-Vergangenheit geframed wird, nimmt man der SPD einfach nicht mehr ab, sich im Zweifel für massive soziale Verbesserungen einzusetzen.
Angesichts der ernüchternden Lage von SPD und der LINKEN werden sich beide Parteien früher oder später der Frage stellen müssen, ob sich den Reaktionären und ihrer Politik mit vereinten Kräften und konkreter Zusammenarbeit nicht besser entgegentreten ließe. Manchmal muss vielleicht erst alles zusammenbrechen, damit aus den Ruinen Neues entstehen kann. Doch so viel Zeit haben wir nicht mehr.
Daniel Reitzig ist politischer Aktivist, lebt in Berlin, arbeitet derzeit im Deutschen Bundestag und schreibt gelegentlich unter krisentheorie.de
Daniel Reitzig ist politischer Aktivist, lebt in Berlin, arbeitet derzeit im Deutschen Bundestag und schreibt gelegentlich unter krisentheorie.de.