22. März 2023
Vor fünf Jahren wurde die linke Politikerin Marielle Franco in Rio de Janeiro ermordet. Hinter der Tat steckt eine reaktionäre Miliz mit engen Verbindungen zur brasilianischen Rechten.
Collage in Gedenken an Marielle Franco, São Paulo.
IMAGO / ZUMA WireSeit 1.826 Tagen postet die brasilianische Journalistin Eliane Brum denselben Tweet: »Wer hat den den Mord an Marielle in Auftrag gegeben? Und warum?« Vor kurzem jährte sich der Tod der Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco, einer schwarzen, queeren Sozialistin aus den brasilianischen Favelas, zum fünften Mal. Auf der Webseite der Menschenrechtsorganisation Instituto Marielle Franco wird angezeigt, wie viele Tage, Stunden und Minuten seit der Tat verstrichen sind.
Am 12. März 2019, zwei Tage, bevor sich der Mord an Franco und ihrem Fahrer Andersom Gomes zum ersten Mal jährte, gab die Zivilpolizei von Rio de Janeiro bekannt, man habe zwei Verdächtige festgenommen: Élcio Vieira de Queiroz und Ronnie Lessa. Queiroz, ein ehemaliger Polizeibeamter, war 2016 aus dem Dienst entlassen worden, da er als Sicherheitskraft in einem illegalen Casino gearbeitet hatte. Er saß am Steuer des Chevy Cobalt, der Franco 4 Kilometer gefolgt war, nachdem sie im Stadtteil Lapa an einer Veranstaltung zu Ehren von schwarzen Aktivistinnen teilgenommen hatte.
Queiroz beschattete Franco auf ihrem Weg zur Rua Joaquim Palhares im in Rio de Janeiro gelegenen Stadtteil Estácio, wo sie ermordet wurde. Lessa, einem pensionierten Reservisten der Militärpolizei des Bundesstaats Rio de Janeiro, wird vorgeworfen, dreizehn Mal auf den Wagen geschossen und dabei Franco und Gomes getötet zu haben. Er wurde erst dieses Jahr aus dem Polizeidienst entlassen. Francos Assistentin Fernanda Chaves überlebte als einzige Passagierin im Wagen die Tat.
Die Munition, mit der auf das Fahrzeug geschossen wurde, ist nicht für Zivilisten erhältlich. Die Zivilpolizei bestätigt, dass die Patronen Teil einer Charge waren, die 2006 an die Militärpolizei in der Hauptstadt Brasília ausgeliefert wurde. Dieselbe Lieferung wurde auch mit einem Massaker in Verbindung gebracht, das die Polizei von São Paulo in den Stadtteilen Barueri und Osasco an siebzehn Menschen verübte. Ermittler gehen davon aus, dass die Täter auch in diesem Fall einen Chevy Cobalt mit gefälschten Nummernschildern fuhren.
In den vier Jahren, die seither vergangen sind, sind die Ermittlungen kaum vorangegangen. Lessa und Queiroz steht wegen des politischen Mordes, der ihnen vorgeworfen wird, ein Prozess vor einem Schöffengericht bevor. Lessa wurde allerdings wegen illegalen Waffenhandels bereits zu über dreizehn Jahren Haft verurteilt. Bei den Ermittlungen, die zur Festnahme von Lessa und Queiroz führten, fanden die Behörden in der Wohnung eines Freundes von Lassa 117 zerlegte Schusswaffen – einer der größten Waffenfunde in der Geschichte der Zivilpolizei von Rio. Queiroz wurde 2020 wegen illegalem Waffenbesitz zu fünf Jahren Haft verurteilt. 2011 war gegen ihn wegen seiner Verbindungen zu Rios Milizen und Drogenkartellen bereits ein Ermittlungsverfahren eröffnet worden.
Für alle, die mit Rios Politischer Ökonomie des Todes vertraut sind, liegt der Verdacht nahe, dass Franco von Mitgliedern der Milizen ermordet wurde. Diese Gruppen bestehen aus ehemaligen und aktiven Polizeibeamten, Soldaten und sogar Feuerwehrleuten und profitieren seit dem Ende der Militärdiktatur von Rios chronisch schlechter Sicherheitslage: Sie bereichern sich im gesamten Stadtgebiet durch Schutzgelderpressung, Waffenhandel und Monopole auf Güter des täglichen Bedarfs wie Benzin und Transportdienstleistungen. Im Westen von Rio und in den Stadtvierteln der Baixada Fluminense im Norden der Stadt sind sie besonders aktiv.
Wie der Soziologe Jóse Cláudio Souza Alves beschreibt, reichen die politischen Verbindungen der Milizen in Rio und seinen Vorstädten tief. Es gelang ihnen sogar, eigene Kandidaten in politische Ämter zu hieven. Es gibt zahlreiche glaubwürdige Beweise für eine Verstrickung der Familie Bolsonaro mit diesem Milieu. Einfache Soldaten und Polizeikräfte, und damit auch die Basis der gewalttätigen Milizen, zählen zu Bolsonaros treuesten Unterstützern in Rio.
Francos politische Karriere begann 2007 als Mitglied der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL). Sie arbeitete als Referentin für Menschenrechtsfragen für einen Parlamentarier auf Bundesstaatsebene, Marcelo Freixo. Im Jahr 2008 leitete er einen Untersuchungsausschuss über die Aktivitäten der Milizen. Im Zuge dessen wurden über zweihundert Polizisten und andere Beamte festgenommen. Wie zu erwarten, haben die Milizen ihre Präsenz seither dennoch weiter ausgebaut. Laut einer Studie der Universidade Federal Fluminense, die in Zusammenarbeit mit dem Projekt Fogo Cruzado erarbeitet wurde, das Gewaltakte kartiert, ist das von den Milizen kontrollierte Stadtgebiet seit 2006 um 387 Prozent angewachsen. Über 4 Millionen Menschen in der Metropolregion Rio leben nun unter ihrer Gewaltherrschaft.
Wie Franco in ihrer Masterarbeit von 2014 beschreibt, kann die Ausweitung der Aktivität der Milizen nur im Zusammenhang mit der Besetzung der Favelas durch militarisierte Polizeieinheiten verstanden werden. In den frühen 2000ern, im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft von 2024 und den Olympischen Spielen von 2016, fingen Rios Politikerinnen und Politiker an, »die Stadt wie ein Unternehmen zu verwalten und den urbanen Raum wie eine Ware zu behandeln.«
Franco schreibt in ihrer Arbeit, dass der Staat »nicht überall im Stadtgebiet militärische Besetzungsoperationen gleichermaßen priorisierte. Das beste Gegenbeispiel hierfür ist der Westen. Die Eliminierung von Milizen, vor allem in Bereichen, in denen Beamte fortdauernd illegalen Aktivitäten nachgingen, rechtfertigte keine massive Besetzung der Stadt durch das Militär. Stattdessen wurden aufgewertete Stadtteile im Zentrum und im Süden sowie Viertel, in denen Sicherungseinheiten aktiv waren, durch ›akustische Barrieren‹ und die Armee besetzt. In Maré kam beides zum Einsatz«.
Favelas wie Maré – wo Franco geboren wurde und aufwuchs – dienen schon seit langem als »Laboratorien« für Maßnahmen, die im Namen der öffentlichen Sicherheit die rassistisch diskriminierten Angehörigen der Arbeiterklasse ins Visier nehmen. Das Netzwerk der Gewalt und Ausbeutung zwischen Staat und den kriminellen, parastaatlichen Strukturen der Milizen wird hingegen ignoriert. Zeit ihres Lebens hatte Franco den gewalttätigen, rassistischen brasilianischen Staat von innen heraus kritisiert. Die Aktivistin und Journalistin Gizele Martins, die ebenfalls in Maré lebt und das Buch Militarização e censura: a luta por liberdade de expressão na favela da Maré verfasste, reflektiert darüber wie folgt:
»[Franco] hat diese Probleme immer sehr genau mitverfolgt. Ich kann mich erinnern, wie sie als Berichterstatterin für den Stadtrat agierte, als ganz Rio 2018 vom Militär besetzt wurde. Was mit ihr geschah, war kein Zufall. Sie war eine scharfe Kritikerin dieser Strukturen, die sich für die Rechte der Bewohner der Favelas und der Afrobrasilianerinnen einsetzte. Sie haben eine unserer wichtigsten Fürsprecherinnen zum Verstummen gebracht.«
Franco ging es bei ihrem Einsatz für die Menschenrechte nicht um die Milizen im Besonderen – sie kritisierte die Gewalt des Staates viel öfter als die von parastaatlichen Organisationen. Ihr Tod zeigt jedoch, wie eng beides miteinander verwoben ist.
Die Milizen sind – genau wie die Gruppen von Dealern, die sie angeblich bekämpfen, oft aber tatsächlich beliefern und bewaffnen – in verschiedene rivalisierende Fraktionen gespalten, die um die territoriale Kontrolle über Rio konkurrieren. Politische Anschläge, wie der an Franco, werden deshalb von spezialisierten Auftragsmördern ausgeführt. Francos Tod wird dem sogenannten Escritório do Crime (»Kriminalbüro«) zugeschrieben.
Die Tätigkeit als Auftragsmörder ist hochbezahlt. Lessa konnte es sich daher leisten, im neureichen Stadtteil Barra de Tijuca in einer Luxuswohnung zu leben – dem gleichen Stadtteil, in dem auch Bolsonaro lebt. Doch die Verbindungen zu Bolsonaro reichen tiefer. Der ehemaligen Chef des Escritório do Crime, Adriano Magalhães da Nóbrega, wurde im Bundesstaat Bahia bei einer Schießerei mit der Polizei getötet, während er sich in der Wohnung eines Stadtrates versteckte, der Bolsonaros früherer Partei angehörte.
Die Familie Bolsonaro ist eng mit da Nóbrega verstrickt. 2005 kritisierte Bolsonaro als Abgeordneter im Kongress die Festnahme von da Nóbrega im Zusammenhang mit dem Tod eines Parkplatzwächters. Im selben Jahr nutzte Flávio, Bolsonaros ältester Sohn, seine Position als Senator auf Bundesstaatsebene, um da Nóbrega während seiner Inhaftierung die Tiradentes-Medaille zu verleihen, eine der höchsten Auszeichnungen des Bundesstaates Rio de Janeiro. Jair Bolsonaros langjähriger Freund Fabricio Queiroz (der nicht mit Élcio verwandt ist) arbeitete als Assistent für Flávio und versteckte sich in der von Milizen kontrollierten Favela Rio de Pedras, als er wegen Geldwäsche belangt werden sollte.
Bolsonaro hat die gewalttätige Gangsterideologie während seiner Amtszeit im ganzen Land ausgebreitet. Lula wird während seiner Präsidentschaft mit einem extrem rechten Kongress und mit Gouverneuren wie dem Bolsonaro-Anhänger Claúdio Castro in Rio konfrontiert sein.
Nach dem Ende von Bolsonaros Amtszeit besteht die Hoffnung, dass es nun endlich Fortschritte bei der Aufklärung des Mords an Franco geben wird. Lulas Justizminister hat angekündigt, dass die Bundespolizei ihr eigenes Ermittlungsverfahren in dem Fall eingeleitet hat. Zuvor hatte sich Francos Familie dagegen ausgesprochen, den Fall den Bundesbehörden zu übergeben, da Bolsonaros Justizminister Sergio Moro an einer Aufklärung offensichtlich nicht interessiert war. Das Ermittlungsverfahren auf bundesstaatlicher Ebene drohte aber wegen der Verbreitung falscher Informationen und politischer Einflussnahme zu scheitern. Dies ist leider wenig überraschend. »Wir haben einen Staat«, erklärt Martins, »der uns tötet und misshandelt, der uns das Recht auf Obdach verwehrt, der an Schwarzen und Indigenen einen Genozid verübt, und das alles mit der selben althergebrachter Straflosigkeit. Die Tatsache, dass der Mord an Marielle noch nicht aufgeklärt wurde, spiegelt nur wieder, wie man seit langem mit uns umgeht«.
Über die Jahre hat es nur wenige Fortschritte beim Kampf gegen das brutale kriminell-politische Netzwerk gegeben, das den Mord an Franco ermöglicht, durchgeführt und vertuscht hat. Doch Franco hat eine ganze Generation politischer Aktivistinnen, vor allem schwarzer Cis- und Transfrauen, inspiriert. Ihr gewaltsamer Tod empört sie bis heute. »Marielles Saat«, wie sie sich selbst bezeichnen, ist in den Jahren seit ihrer Ermordung gesprossen.
Francos Schwester Anielle ist ebenfalls in die Politik gegangen – eine starke, wenn auch bittere Entscheidung. Am 11. Januar wurde sie zur Ministerin für die Gleichstellung ethnischer Gruppen ernannt, zeitgleich zur historisch bedeutsamen Vereidigung von Sônia Guajajara, der ersten indigenen Ministerin für indigene Völker. Genau wie Marielle in einem Artikel von 2017 identifizierte Anielle in ihrer Antrittsrede das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff als Beginn der autoritären Wende in Brasilien hin zu einer »Politik des Todes«.
Die gemeinsame Ernennung von Franco und Guajajara darf auch als Geste des Widerstands gegen den Sturm auf das Regierungsviertel vom 8. Januar, der von Bolsonaros Anhängerschaft ausging, gewertet werden: »Dasselbe Unterfangen, das die Zerstörung der Fenster dieses Palasts ermöglichte, ermordet jeden Tag Menschen wie den Müllsammler Dierson Gomes da Silva aus der Cidade de Deus in Rio de Janeiro.« Ministerin Franco erinnerte an ihre Schwester und ihren gemeinsamen Traum für ein besseres Brasilien und kündigte ein neues Projekt der Regierung Lula an:
»Wir sind heute hier, weil wir ein neues landesweites Projekt in Angriff nehmen: Ein Projekt für ein Land, in dem schwarze Frauen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen teilnehmen können, ohne unterbrochen oder missbraucht zu werden und ohne, dass man ihnen das Leben mit fünf Schüssen in den Kopf entreißt […] Wir haben einen Plan für das gesamte Land, und hoffen, dass wir bei seiner Umsetzung auf Euch zählen können. Deshalb bitte ich die gesamte Bevölkerung Brasiliens: Geht diesen Weg mit uns gemeinsam.«
Ob eine solche Nation entstehen kann, wird von der Durchsetzungskraft der multiethnischen brasilianischen Linken abhängen – und davon, ob es ihr gelingt, die autoritären Kräfte aus dem Staatsapparat zu verdrängen.
Stephanie Virginia Reist ist Dozentin an der Stanford University.