24. Juli 2023
Über 900 Menschen starben 1978 in Jonestown in einem Akt des erweiterten Suizids. Die Tragödie des vormals emanzipatorischen Projekts war auch eine Tragödie der Linken.
Obwohl die schwarzen Gemeindegänger den Peoples Temple bis zu 90 Prozent der Mitglieder ausmachten, waren sie in der zentralen Führung kaum vertreten.
Am 18. November 1978 musste Harold Cordell eine Entscheidung fällen, die sich wohl nur wenige zu treffen vorstellen könnten: seine Familie zurücklassen und sein eigenes Leben retten oder sich ihnen anschließen und Suizid begehen. Er war damals Mitglied des »Peoples Temple Agricultural Project«, auch bekannt als »Jonestown«, wo gerade alles dabei war, auseinanderzufallen. Die Abtrünnigen sammelten ihre Habseligkeiten ein, um den Ort zu verlassen.
Cordell wandte sich an seinen vierzehnjährigen Sohn James, der in der Gemeinschaft als »Jim Stalin« bekannt war. »Komm, Jimmy, lass uns von hier verschwinden«, sagte Harold. »Wir müssen los.« Doch sein Sohn weigerte sich. James starb einige Stunden später, nachdem er Cyanid zusammen mit mehr als neunhundert anderen einnahm .
Der »Volkstempel« wurde 1954 in Indianapolis, USA als eine Kirche gegründet, die sich für soziale Integration und Gerechtigkeit einsetzte. Im Jahr 1965 zog die Gruppe in das kalifornische Redwood Valley und vertrat zunehmend eine sozialistische Weltanschauung. Bis in die 1970er Jahre wuchs die Organisation auf Tausende von Mitgliedern an, die sich auf die städtischen Zentren Kaliforniens konzentrierten, mit einem Hauptsitz in San Francisco. Pro-sowjetischer Marxismus-Leninismus wurde zu ihrem Leitbild. Im Jahr 1974 kaufte der Peoples Temple ein Grundstück im Dschungel von Nordwest-Guyana und begann eine Siedlung aufzubauen, die häufig als »Jonestown« bezeichnet wird. Eine groß angelegte Umsiedlung von Anhängern nach Guyana begann 1977 und hielt bis zu ihrem Ende im November 1978 an.
Wie konnte eine militante Organisation, die in der armen und arbeitenden Bevölkerung verankert war, ein so gewalttätiges und fanatisches Ende finden?
Hyacinth Thrash war fünfzig Jahre alt, als sie 1955 zum ersten Mal mit dem Peoples Temple in Berührung kam. Sie war vor kurzem von Alabama nach Indianapolis gezogen und hatte Bedenken, einer neuen Kirche beizutreten. Sie befürchtete, auf die Art von Rassismus zu stoßen, die sie in den Südstaaten erlebt hatte. Doch schon bald verliebte sie sich in den Chor des Peoples Temple. Als sie ein Verknotung in ihrer Brust entdeckte, legte Jim Jones, der rätselvolle Gründer und Anführer des Peoples Temple, seine Hand auf sie und betete. Wie durch ein Wunder verschwand der Tumor innerhalb weniger Tage, und über die nächsten zwei Jahrzehnte folgte sie Jim Jones durch das Land und die Welt.
Der Peoples Temple führte diese Art von geistigen Heilungen aus verschiedenen Gründen durch. Für Menschen, die nicht allein von seinem politischen Programm überzeugt waren, verliehen diese Spektakel Jim Jones eine außergewöhnliche, übersinnliche Qualität. Die Zuschauer wurden regelmäßig Zeuge, wie Krebserkrankungen spontan geheilt wurden und blinde Augen plötzlich wieder sehen konnten. Einige dieser Gläubigen widmeten später ihr ganzes Leben dem Mann, dem sie diese Wunder verdankten.
Diese Strategie erwies sich als erfolgreich und zog nicht nur wichtige Teile der schwarzen Arbeiterklasse an, sondern auch viele junge weiße Sozialisten der damaligen Zeit. Sie bewunderten die Fähigkeit des Tempels, Schwarze und Weiße gleichermaßen in einen Raum zu bringen, um über den Sozialismus zu sprechen. Für diese Sozialisten bedurfte es keiner weiteren Beweise, dass dies der Weg in die Zukunft war. Sie verehrten Jones für seinen Erfolg bei der Einführung des Sozialismus unter den Arbeiterinnen und Arbeitern nicht weniger als diejenigen, die von seinen Heilkräften überzeugt waren.
Aber die geistigen Heilungen wurden auch als Loyalitätstests für diejenigen Menschen durchgeführt, die dabei halfen, die »Wunder« zu inszenieren. Die Wahrheit hinter diesen Gaukelspielen band einen Großteil der frühen Führungsriege aneinander – sie blieben streng gehütete Geheimnisse bis zu den letzten Tagen der Kirche. Die Belohnungen waren oft größere Nähe zu Jones, gestiegener Status innerhalb der Organisation und die Ehre, dass man mit der Ausführung künftiger Täuschungen betraut wurde. Eine Verschwörung war geboren.
Als Jim Jones‘ heilige Aura allmählich verblasste, wurde der »apostolische Sozialismus« des Peoples Temple immer weniger religiös. Obwohl der eine oder andere Bibelvers noch bis zum Schluss seinen Weg in eine Rede fand, leugnete der Peoples Temple seine jüdisch-christlichen Ursprünge letztendlich komplett. Da Jones‘ Sex- und Drogensucht immer schwerer zu leugnen war, wurde es schwierig, seine Pietät in der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten.
In Wahrheit war Jones‘ Verhältnis zur Religion von Anfang an opportunistisch und diente in erster Linie dazu, Menschen für den Sozialismus des Tempels zu gewinnen. Am Ende hatte der Wunderheiler seine eigenen Leiden, die nicht geheilt werden konnten, und damit war die Show vorbei.
In den USA der Nachkriegszeit bildete die schwarze Kirche den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Schwarzen. Mit der großen Migration von Afroamerikanern aus dem Süden der USA in den Norden und Westen, ging eine Vertrautheit mit der Tradition der protestantischen schwarzen Kirche und die Bereitschaft einher, sich von einigen ihrer Lehren zugunsten der größeren Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit zu trennen. Dies zeigt sich sowohl an den Anfängen des Peoples Temple in Indianapolis als auch an der großen Zahl schwarzer Gemeindegänger, die sich in Los Angeles und San Francisco anschlossen.
Ein Großteil der maoistisch-inspirierten »New Communist Movement« in den USA zu der Zeit vertrat die Strategie der »Regenbogenkoalition«, bei der ein wichtiger Grundsatz lautete, dass Schwarze und Weiße sich zwar zur gegenseitigen Unterstützung organisieren könnten, dies aber in unterschiedlichen Organisationen tun müssten. Obwohl der Peoples Temple diesem Credo widersprach, bedeutete das längst nicht, dass das Wissen darüber, wie man eine multiethnische Organisation aufbaut, vom Himmel fallen würde. Tatsächlich wurden die schwarzen Gemeindegänger bei jedem Kapitel in der Geschichte des Tempels getäuscht und ausgenutzt.
Als Mitglieder des Peoples Temple wurde von den schwarzen Gemeindegängern erwartet, dass sie ihren gesamten Besitz an die Kirche abtreten. Die von Hunderten von schwarzen Mitgliedern abgegebenen Sozialversicherungsschecks bildeten eine stabile Einnahmequelle für die Finanzen des Tempels. Doch obwohl die schwarzen Gemeindegänger den Peoples Temple weitgehend finanzierten und bis zu 90 Prozent der Mitglieder ausmachten, waren sie in der zentralen Führung, die die jüngeren weißen Sozialisten dominierten, kaum vertreten.
Die Ungerechtigkeit blieb nicht unangefochten. Als der Peoples Temple noch im Redwood Valley in Nordkalifornien beheimatet war, begannen einige Jugendliche die Volksschule »Santa Rosa Junior College« zu besuchen, darunter auch Kinder aus den Gründerfamilien der Kirche. Als diese Gruppe, die als »Achterbande« bezeichnet wurde, 1973 den Tempel verließ, machten sie deutlich, dass sie in erster Linie den Rassismus der weißen Mitarbeiter und der Leitung sowie die Machtstruktur, die sich daraus entwickelt hatte, anklagten. Jene Machtstruktur tat sie als »trotzkistische Überläufer« ab, aber die Mitglieder der Achterbande würden den Peoples Temple und seine Ausbeutung noch bis zu seinem Ende herauszufordern.
Marceline Jones stand vor der Planungskommission, dem zentralen Führungsgremium des Peoples Temple. Es war eine typisch lange Sitzung – in der Regel dauerten sie stundenlang. »Ich habe erkannt, dass ich sehr egoistisch gewesen bin. Ich möchte heute Abend eine öffentliche Erklärung abgeben, dass ich bereit bin, meinen Mann für die Sache zu teilen, und mich nicht länger darüber ärgern werde.« Daraufhin stand Marceline auf und verließ den Raum – die erste in einer langen Reihe von Frauen im Peoples Temple, die ihre Würde für Jones‘ sexuellen Appetit opferten.
Über einen Großteil seiner Geschichte wurde der Peoples Temple von einer Gruppe überwiegend weißer Frauen geleitet und verwaltet. Angefangen mit seiner Frau Marceline, hatte Jim Jones Frauen ausgewählt, die ihm bei der Führung der Organisation helfen sollten. Einige stellten dem Tempel wichtige juristische, finanzielle und medizinische Kenntnisse zur Verfügung. Andere traten als bereits erfahrene marxistisch-leninistische Kader bei und übernahmen gerne die Verantwortung für die Verbreitung der politischen Theorien der Gruppe. Gemeinsam trieben sie die Entwicklung des Tempels voran. Um sich ihrer Loyalität zu versichern, schlief Jones mit vielen von ihnen und zeugte sogar Kinder.
»Angela Davis und Huey P. Newton lobten den Temple und ermutigten die Gruppe, sich weiterhin zu gegen die staatlichen Bestrebungen wehren, sie zu zerschlagen.«
Die sexuelle Befreiung war für viele Radikale der 1970er Jahre ein neues Phänomen, mit dem sie sich auseinandersetzen mussten. Plötzlich hatten viele Frauen zum ersten Mal die Möglichkeit, ihre Sexualität auszudrücken. Für den Peoples Temple bedeutete dies, dass offen und freimütig über Sex gesprochen wurde, sogar von der Kanzel aus. Für die Mitglieder bedeutete dies jedoch keine sexuelle Freiheit. Polyamorie und Homosexualität standen nun auf der Tagesordnung – für Jim Jones, aber nicht für alle anderen.
Jones‘ wachsende sexuelle Aggression wurde für die Gruppe zu einem Problem, das es zu bewältigen galt. Dazu gehörte auch ein Sorgerechtsstreit um ein Kind, das er angeblich mit einer Frau aus der Führung gezeugt hatte, die inzwischen übergelaufen war. Die Folgen von Jim Jones‘ sexueller Unersättlichkeit waren schließlich externe Angriffe auf die ganze Organisation, einschließlich zivil- und strafrechtlicher Anklagen.
An einem ganz normalen Abend im April 1978 fragte Jim Jones seine Anhänger im Peoples Temple Agricultural Project in Guyana, ob sie glaubten, dass sie lange leben würden. Von den sechzehn, die ihre Hand hoben, um »Ja« zu sagen, waren zwei fest entschlossen, ein weiteres Jahr zu leben. Einige Tage später, als die meisten im Pavillon versammelt waren, inszenierte Jones einen Vorfall, um die Bedeutung ihres Kampfes und die Wichtigkeit seiner Führung zu verdeutlichen.
Ein »Söldner«, der angeblich von Feinden des Tempels angeheuert worden war, würde in Jonestown einen Schuss abfeuern und damit einen Notfall auslösen. Jones verkündete, »Wir haben einen von ihnen erwischt!«. Doch die Menschen in Jonestown waren die wirklichen Gefangenen des Ereignisses, denn der vermeintliche Söldner wurde »verwundet« und »zum Rückzug gezwungen«. Diese Art von Angst war in die Architektur von Jonestown nahtlos integriert.
Es ist nicht schwer zu verstehen, warum viele Jones‘ Behauptungen glaubten. Der Peoples Temple erlebte seinen Höhepunkt zu einer Zeit, als das FBI und die CIA gerade dabei waren, mit unheimlichen Projekten wie »COINTELPRO« und »Operation CHAOS« sowohl die schwarzen Bürgerrechts- als auch die sozialistischen Bewegungen in der ganzen Welt zu zerstören. Das Ziel dieser Behörden war es, eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens zu erzeugen. Einige derjenigen, die sich zum Peoples Temple hingezogen fühlten – als überwiegend schwarze Anhänger des Marxismus-Leninismus – trugen bereits die Narben politischer Unterdrückung. Ihr Verhältnis zur politischen Unterdrückung, ob real oder inszeniert, bildete eine treibende Kraft hinter ihren schlimmsten Entscheidungen.
Aus der Sicht eines Mitglieds des Peoples Temple lässt sich kaum leugnen, dass die Organisation vom FBI und der CIA verfolgt wurde. Angela Davis und Huey P. Newton, beide eingeschworene Feinde eben dieser Behörden, lobten den Temple und ermutigten die Gruppe, sich weiterhin zu gegen die staatlichen Bestrebungen wehren, sie zu zerschlagen. Auch die juristische Vertretung des Tempels entsprach der seiner Zeitgenossen aus der Neuen Linken: sowohl Charles Garry, der viele Black-Power- und Antikriegsaktivisten vertreten hatte, als auch Mark Lane, der für seine Enthüllungsberichte über die Ermordung von John F. Kennedy und Martin Luther King Jr. bekannt war, waren als Anwälte für den Temple tätig.
Der gesellschaftliche Aktivismus des Tempels im San Francisco der 1970er Jahre, der der Organisation unter den Köpfen der Neuen Linken große Anerkennung eingebracht hatte, wurde jedoch schnell aufgegeben, als die Umsiedlung nach Guyana begann. Zuvor war der Peoples Temple an einer Koalition von Kirchenführern und Mietergewerkschaftern beteiligt, die sich insbesondere gegen die Verdrängung der überwiegend chinesischen und philippinischen Mieter eines bekannten Gebäudes, das »International Hotel«, einsetzte. Jim Jones wurde 1977 sogar zum Vorsitzenden der Wohnbehörde von San Francisco ernannt, ein Amt, von dem er Monate später per Funk aus Jonestown zurücktreten sollte. In dem Bemühen, Mittel für den Kauf des Gebäudes durch Enteignung aufzutreiben, stimmte Jones Bedingungen zu, wonach die Mietervereinigung das Gebäude innerhalb von dreißig Tagen kaufen musste. Sie prangerten ihn schließlich öffentlich an und wurden noch im selben Jahr vertrieben.
Der Peoples Temple hatte in diesem Moment seine Wahl getroffen. Die vollständige Abwanderung nach Guyana in den achtzehn Monaten vor dem MassenSuizid stellte einen völligen Zusammenbruch des Glaubens der Mitglieder an die überirdischen sozialen Bewegungen ihrer Zeit dar.
Guyana war sinnvoll als mögliches Ziel. Der Tempel betrachtete es als Zufluchtsort für seine große schwarze Bevölkerung. Die Amtssprache war Englisch. Das Land war nominell sozialistisch. Von besonderer Bedeutung für den Tempel war die Tatsache, dass sein Personal Zugang zur sowjetischen Botschaft in der Hauptstadt Georgetown hatte. Guyana war jedoch auch blockfrei und suchte Beziehungen sowohl zu den westlichen als auch zu den Ostblockstaaten und hatte vor kurzem Darlehen vom Internationalen Währungsfonds erhalten. Aus diesen Gründen sah der Peoples Temple das Land nicht als seinen endgültigen Zielort an, und die Beziehungen des Tempels zur Regierung Guyanas reichten von freundlich bis angespannt.
Als landwirtschaftliches und sozioökonomisches Experiment war Jonestown eine absolute Katastrophe. Der Oberboden war sauer und bedeckte kaum eine nutzlose Lehmschicht. Außerdem wurden die angehenden Landwirte von Schädlingen und Ungeziefer belagert – Acoushi-Ameisen, die ganze Blätter abschneiden, vernichteten über Nacht eine ganze Maniok-Ernte, während braune Seidenspinner die erste Maisernte zerstörten. Hinzu kam natürlich das brutale tropische Klima, gänzlich anders als das gemäßigte kalifornische Wetter, an das die Mitglieder gewöhnt waren. In Guyana selbst herrschte Lebensmittelknappheit. Zusammengenommen bedeutete dies, dass ausreichende Mahlzeiten in Jonestown nur schwer zu bekommen waren.
In diesen Kämpfen gegen Erde und Boden ließen sich die Mitglieder des Peoples Temple von einem Selbstversorgungsprinzip leiten. Sie glaubten fest daran, dass der Sozialismus selbst innerhalb der Grenzen des Dschungels von Jonestown existieren sollte. Die Tempelführung war eher bereit, brutale Verhältnisse hinzunehmen, als ihre Niederlage einzugestehen, indem sie ihr Geld für Ressourcen von außen ausgab. Wenn Geld ausgegeben wurde, dann oft für landwirtschaftliche Geräte und Viehfutter, aber auch für bizarre Anschaffungen wie Uniformen für die Tempelband, den »Jonestown Express«, oder Tausende von US-Dollar für Kosmetik. Trotz der Schwierigkeiten mit dem Verbrauch von Nahrungsmitteln und Ressourcen verfügte der Tempel zum Zeitpunkt seiner Auflösung über 27 Millionen Dollar.
»Führung des Peoples Temple hatte sogar die Idee, der russisch-orthodoxen Kirche beizutreten, um in die UdSSR auszuwandern.«
Das landwirtschaftliche Experiment von Jonestown war weder neu noch einzigartig für seine Zeit. Dieselbe Art von verfehltem Abenteurertum veranlasste damals viele Radikale, »zurück aufs Land« zu ziehen, und die Zahl der allein in den späten 1960er Jahren gegründeten Kommunen verzehnfachte sich schätzungsweise.
Am Ende wurde allen klar, dass Jonestown nicht mehr das gelobte Land war. Nur die Sowjetunion konnte sie noch retten. Dank der Anfragen des »Jonestown Institute« nach dem US-amerikanischen Informationsfreiheitsgesetz ist inzwischen klar, dass die Führung des Peoples Temple sogar die Idee hatte, der russisch-orthodoxen Kirche beizutreten, um in die UdSSR auszuwandern, und dass der Tempel tatsächlich Gesprächsthema war auf den höchsten Ebenen des sowjetischen Politbüros. Niemand weiß, was ein solcher Umzug quer durch die Welt für diejenigen bedeutet hätte, die stattdessen in Jonestown ihr Leben verloren. Eines ist sicher: Egal wohin der Peoples Temple ging, seine Probleme nahm er mit.
In der Heimat begannen diese Probleme immer mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Am 17. November 1978 besuchte der kalifornische Kongressabgeordnete Leo Ryan zusammen mit den »Concerned Relatives«, einer Gruppe besorgter ehemaliger Tempelmitglieder und ihrer Familien, Jonestown. Am folgenden Tag begab er sich mit sechzehn Überläufern zur Landebahn von Port Kaituma, wo er zusammen mit vier weiteren Personen in einem Kugelhagel niedergeschossen wurde. Die Würfel waren gefallen. Es würde keine Utopie mehr geben.
In Jonestown wurden Charles Garry und Mark Lane zum östlichen Gebäude des Geländes geführt, als sie dem neunzehnjährigen Poncho Johnson begegneten. Sie hatten Johnson am Abend zuvor zugehört, als er George Bensons Song »The Greatest Love of All« sang. Johnson war ein frischgebackener Vater. »Was geht hier vor?« fragte Garry ihn. »Wir begehen revolutionären Suizid«, antwortete Johnson und lächelte breit. »Gibt es denn keine Alternative?«, flehte Lane, der verzweifelt versuchte, Johnson zur Vernunft zu bringen. Johnson behielt sein Grinsen bei und verneinte.
Der revolutionäre Suizid war bereits an mehreren Stellen in Jonestown diskutiert worden. Die Mitglieder des Tempels hatten die Suizide nicht nur geprobt, sondern auch beschworen. Die Einwohner von Jonestown hatten sich bereits im Jahr zuvor auf eine mögliche Belagerung durch die guyanischen Streitkräften vorbereitet.
Seit langem wird darüber diskutiert, ob man die Tragödie von Jonestown als Mord oder als Suizid bezeichnen soll. Rebecca Moore vom Jonestown Institute bezeichnet dies als die »existenzielle Frage«. Kinder konnten und wollten der Einnahme von Cyanid nicht zustimmen, und auch zahlreiche Erwachsene wehrten sich dagegen. Es ist jedoch ganz klar, dass viele freiwillig Suizid begingen und dies in ihren Briefen und letzten Worten auch eindringlich zum Ausdruck brachten. Vielleicht ist die einzig zutreffende Art, den Tod in Jonestown zu charakterisieren, als »Massenmord-Suizid«.
In Wirklichkeit waren die Beweggründe vielfältig. Diejenigen, die die Tat als einen Akt des Protests und des Trotzes ansahen, wie die weltweiten Selbstverbrennungen während der Zeit des Vietnamkriegs, mussten nicht erst verführt werden. »Wir starben, weil ihr uns nicht in Frieden leben lassen wolltet«, lautete die letzte Zeile des Textes von Annie Moore, der in der Hütte von Jim Jones gefunden wurde.
»Die Welt war nicht bereit, uns leben zu lassen«, lautet eine andere Notiz, die Richard Tropp zugeschrieben wird.
Heutzutage macht sich die US-Linke kaum noch Gedanken über Jonestown. Die meisten Darstellungen in den Medien fokussieren sich auf die unheimliche Macht einer einzelnen Persönlichkeit, die andere unter ihrer charismatischen, aber tyrannischen Führerschaft hält. Aber selbst linke Geschichtsschreibung über die kommunistischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre schenkt dem Peoples Temple so gut wie keine Aufmerksamkeit. Es scheint, als würden wir wenig von uns selbst in ihnen sehen.
Tatsache ist jedoch, dass die Linke in den USA große Anstrengungen unternommen hat, um den Peoples Temple zu legitimieren – und sogar zu feiern. Wir können uns nicht vorstellen, dass Leute wie wir jemals eine solche Organisation unterstützt haben, aber alle, von Angela Davis bis Harvey Milk, haben es getan. Das ehemalige Mitglied Deborah Layton drückt es so aus: »Niemand schließt sich einer Sache an, von dem er glaubt, dass sie ihm schaden wird. Man schließt sich einer religiösen Organisation an, man schließt sich einer politischen Bewegung an, und man schließt sich mit Leuten zusammen, die man wirklich mag.« Wir können darüber nachdenken, inwiefern die Peoples Temple-Mitglieder keine echten Sozialistinnen und Sozialisten waren – aber damals sahen andere und sie selbst sich so.
Wenn wir sie richtig einordnen, können wir einige Lehren aus der Tragödie des Peoples Temple ziehen. Zum einen müssen wir eine lebendige Demokratie als integralen Bestandteil des Sozialismus schätzen. Die Grundlagen der größten sozialistischen Parteien in der Geschichte liegen nicht nur in ihren einigenden Merkmalen, sondern auch in der Dynamik der internen Differenzen und Konflikten, die sie voranbrachten. Wenn wir diese aushöhlen, brechen wir von innen heraus zusammen. In Organisationen zu sein, wo Mitglieder unterschiedliche Sichtweisen vertreten mag nicht immer der einfachste Weg sein, aber so bringen wir unsere besten Ideen hervor.
Die Arbeiterklasse verdient Organisationen, in denen sie nicht nur als Mittel zum Zweck gesehen wird, und in denen die Mitglieder nicht glauben, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Wir dürfen die Idee nicht aufgeben, dass der Sozialismus eine lebensbewahrende Erfahrung ist, die zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Jonestown war nicht nur eine Sekte. Es war eine Tragödie der Linken des zwanzigsten Jahrhunderts, die wir nicht wiederholen dürfen.
Gus Breslauer ist ein in Houston ansässiger Organizer, der über Schwulenpolitik, religiösen Sozialismus und Organizing-Strategien schreibt.