11. Mai 2023
Die Rivalität zwischen Juventus Turin und dem SSC Napoli symbolisiert das Gefälle zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden Italiens. Warum es bei diesem Meistertitel um mehr geht als nur Fußball.
Fans des SSC Napoli feiern den dritten Meistertitel in Neapel, 4. Mai 2023.
IMAGO / ZUMA WireMit dem dreifachen Schlusspfiff des Schiedsrichters war es am vergangenen Donnerstag endlich wieder soweit: Der SSC Napoli holte sich mit dem 1:1 in Udine den einen Punkt, den er benötigte, um den dritten scudetto, wie in Italien der nationale Titel heißt, in seiner Geschichte zu gewinnen – 33 Jahre nach dem letzten Erfolg.
Für das Spiel hatten sich in Napoli Zehntausende Menschen vor dem Stadion Diego Armando Maradona versammelt, um ihre Mannschaft auch aus der Distanz mit Fackeln, Stadiongesängen und solidarischer Wärme zu unterstützen.
Der Triumph des SSC Napoli hat einmal mehr bewiesen, dass es beim Fußball um mehr geht als den Sport. Denn gerade in einer Stadt wie Napoli, wo sich die sozialen Widersprüche wie unter einem Brennglas verdichten, erhält auch der Fußball eine besondere Bedeutung.
Der dritte Meistertitel Napolis war die Krönung eines langen, steilen Weges für die süditalienische Fussballstadt. Napoli holte seine ersten zwei und einzigen Titel mit Diego Armando Maradona in den Jahren 1987 und 1990. Während dieser Zeit sorgte Maradona nicht nur auf dem Fußballfeld für Begeisterung, sondern avancierte schon bald zu einer Ikone der Befreiung. Doch in der Saison nach dem letzten Titel, im Frühling 1991, wurde Maradona nach einem regulären Meisterschaftsspiel positiv auf Kokain getestet, woraufhin der Fussballverband eine 15-monatige Spielsperre verhängte. Damit endete die Karriere von Maradona beim SSC Napoli.
Nach dieser Trennung begann der langsame, aber sichere Niedergang des Fußballclubs: In der Saison 1997/98 stieg das Team in die zweite Liga ab, im Jahr 2004 ging der Club sogar Konkurs und wurde in die dritte Liga relegiert. Das Jahr 2004 läutete aber auch eine Wende ein: Der Club wurde vom römischen Filmproduzenten Aurelio De Laurentiis aufgekauft, und der neue Präsident investierte in eine Erneuerung des Clubs. Im Jahr 2007 stieg der SSC Napoli wieder in die erste Liga auf und startete sein Comeback: Der Club stellte neue Talente unter Vertrag und engagierte erfolgreiche Trainer. In der Saison 2017/18 kam der SSC Napoli dann dem Sieg am nächsten, doch verlor die Mannschaft die letzten entscheidenden Spiele und landete schlussendlich auf Rang zwei, hinter dem ewigen Erzrivalen Juventus Turin.
In der Saison 2021/22 stellte De Laurentiis dann Luciano Spalletti als Trainer an, der zuvor in der russischen Liga mit Zenit Sankt Petersburg zwei Meistertitel holte. In der ersten Saison beim SSC Napoli landete er zwar nur auf Platz drei. Doch Spalletti ist bekannt dafür, dass er das Kollektiv anstatt der Ausnahmetalente fördert – und gerade das sollte dieses Jahr der Schlüssel zum Erfolg werden.
Napoli hat es also mittlerweile zwar in die obersten Ränge des Weltfussballs geschafft, doch die Stadt und ihre Bevölkerung bleiben weiterhin die Zielscheibe rassistischer und klassistischer Angriffe. Napoli ist im Norden seit jeher als barbarische, unzivilisierbare Stadt verschrien. Dank einer sportlichen Glanzleistung in der ersten Hälfte des Saison konnte Napoli schon im Frühjahr einen so großen Vorsprung vor seinen Kontrahenten gewinnen, dass die Fans bereits begannen, die Stadt mit blau-weißen Bändern – die Farben des Vereins – und Flaggen ihrer Idole zu schmücken. Wenig später hetzten rechte Zeitungen und TV Sender, allen voran Libero und Rete 4, gegen die Fans und die Stadtbevölkerung: Laut ihrer Berichterstattung würden die Neapolitanerinnen und Neapolitaner die staatliche Sozialhilfe für Flaggen, Bänder und Plakate verprassen und somit beweisen, was für Schmarotzer sie seien.
Auch in den liberalen Medien waren ähnliche Verunglimpfungen gegen die Stadt im Süden zu vernehmen und in den letzten Wochen häuften sich derartige Kommentare quer durch das ganze politische Spektrum. Die Menschen Napolis wurden als intellektuell und kulturell minderwertig dargestellt. Sie seien eben nicht daran gewöhnt, zu gewinnen, und folglich auch nicht dazu in der Lage, »zivilisiert« zu feiern. Dieser rechte Kulturkampf, in dem der »zivilisierte« Norden des Landes einem vermeintlich »barbarischen« Süden gegenübergestellt wurde, erreichte seinen Höhepunkt am Tag nach dem Titelgewinn. Die liberale Zeitung La Repubblica titelte in großen Lettern »Napoli: 26-Jähriger während der Meisterfeier gestorben«. Wie sich herausstellte, hatte dieser Todesfall überhaupt nichts mit der Feier zu tun, sondern war auf eine Fehde zwischen zwei Camorra-Familien zurückzuführen. Diese Art von Titelgeschichte ist exemplarisch für ein hegemoniales Narrativ, wonach die Menschen des »verwahrlosten« Südens selbst Schuld an der ökonomischen Misere der Region seien.
Hinter dieser hetzerischen Rhetorik gegen den Süden Italiens und dieser Art von regionalisiertem Rassismus verbirgt sich eine Geographie der Ungleichheit: Der Norden ist industrialisiert und reich, der Süden landwirtschaftlich und arm; im Norden konzentrieren sich mit Juventus Turin, AC Milan und Inter die fußballerischen Erfolge, im Süden sind sie eine Ausnahme.
Maradona kommentierte einst: »Es herrschte die allgemeine Annahme, dass der Süden nie gegen den Norden gewinnen kann.« Umso schwerer wiegt dieser Sieg. Als der SSC Napoli am 13. Januar 2023 zunächst das Hinspiel gegen Juventus Turin gewann, vollzog sich in den Köpfen der Spieler eine regelrechte kollektive Bewusstseinswerdung: Die Chance, gegen den Norden zu gewinnen, wurde immer greifbarer. Dies bestätigte sich dann im Rückspiel am 23. April 2023 in Turin, wo Napoli in der Nachspielzeit das Siegestor schoss und sich dem lang ersehnten Meistertitel näherte.
Spalletti konnte auf einen außergewöhnlichen Kampfgeist seiner Spieler vertrauen, der den Gegner demoralisierte. Und vor allem: Das Team konnte auf die Unterstützung einer ganzen Stadt zählen, die es kaum erwarten konnte, endlich über den Norden zu triumphieren. Diverse Kommentatoren haben geschrieben, dass ein scudetto in Süditalien ungefähr die Bedeutung habe wie zehn Meistertitel im Norden. Napoli steht im Zuge dessen nicht nur für den Süden Italiens ein, sondern den gesamten Globalen Süden.
Das liegt zum einen an der Mannschaft selbst: Die Spieler des SSC Napoli stammen aus Afrika, Osteuropa, Asien und Südamerika. Damit repräsentiert das Fußballteam, genauso wie die Bevölkerung der Stadt, eben jene demographische Realität Italiens, die die Rechten und Rassisten verleugnen. Hinzu kommt, dass zahlreiche Neapolitanerinnen und Neapolitaner in Metropolen überall auf der Welt migriert sind, um dort Arbeit zu finden. Denn die letzten Krisenjahren haben vor allem junge Menschen aus dem Süden hart getroffen. Laut offiziellen Statistiken sind zwischen 2010–2020 etwa 600.000 von ihnen in den Norden des Landes oder in andere Städte Europas oder andere Kontinente abgewandert, um dort ihr Glück zu versuchen. Für die Meisterfeier sind viele von ihnen in ihre Stadt zurückgekehrt. Nach dem Schlusspfiff Donnerstagnacht wurde daher nicht nur in Napoli, sondern auch in Mailand, Barcelona, New York, Melbourne, Los Angeles, Buenos Aires, São Paulo und Seoul ausgelassen gefeiert.
Eric Cantona, ehemalige Fussball-Legende der französischen Nationalmannschaft und von Manchester United, kommentierte den Erfolg von Napoli auf seinem Instagram-Account mit folgenden Worten: »In der Saison nach dem Tod von Diego Maradona gewann Argentinien die erste Weltmeisterschaft 36 Jahre nachdem Diego im Jahr 1986 Weltmeister wurde. Und gestern gewann Napoli seinen ersten scudetto 33 Jahre nachdem Diego im Jahr 1990 italienischer Meister wurde. Möglicherweise traf Maradona Gott und bat ihn, seinen Traum zu erfüllen!«
Dieser Kommentar mag zum Schmunzeln einladen, doch in Napoli wird solchen historischen Zufälle eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Sogar der sonst so stoische Trainer Spalletti konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwas Magisches die Stadt erfasst hat. So wie sich alle einig sind, dass die ersten zwei Titel von Napoli in den Jahren 1987 und 1990 nur Dank des fußballerischen Ausnahmetalents von Maradona gewonnen wurden, so erkennen heute alle an, dass der scudetto 2023 der Titel der Mannschaft ist, die diesen Sieg als geeintes Kollektiv errungen hat.
In diesem Sinne ist der diesjährige Triumph des SSC Napolis noch bedeutsamer als die ersten zwei Titel, denn er symbolisiert, dass es nur einen Weg zur Befreiung gibt: die organisierte Ansammlung kollektiver Kräfte. Das ist die wahre Lehre für »alle Süden der Welt«.
Maurizio Coppola hat Sozialwissenschaften studiert und arbeitet als freiberuflicher Journalist, Übersetzer und Dolmetscher. Zurzeit lebt er in Napoli.