30. März 2023
Keine Namen, keine Strukturen: Staatliche Repression und rechte Erfolge treiben die Leipziger Antifa in die Enge.
»Der 129er ist zum Gummiparagrafen geworden.«
Fotos: Elisabeth StiebritzSolche Bilder sind in Deutschland selten: Ein Hubschrauber landet dramatisch, umringt von Spezialkräften der Polizei. Aus dem Helikopter ziehen Beamte eine Frau in Pufferjacke, Jeansrock und Handschellen. Die bereits vor Ort wartende Presse schießt Fotos, die Aktion ist eine geplante Inszenierung. Am nächsten Tag wird die Bild titeln: »Chef-Chaotin im Mini-Rock«. Die junge Frau ist Lina E., eine Studentin aus Leipzig, die im Umfeld der Antifa aktiv ist. Die Szene spielte sich im November 2020 in Karlsruhe ab, wo Lina E. der Generalbundesanwaltschaft vorgeführt werden sollte. Die Behörden werfen ihr Angriffe auf Neonazis und die Bildung einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 vor.
Zweieinhalb Jahre später sitzt Lina E. noch immer in Haft, nun in Chemnitz. Ihr Fall ist brisant, denn er zeigt exemplarisch das Ausmaß an Repression und Verfolgungswillen, das der deutsche Staat gegen antifaschistische Zusammenhänge aufbietet. In diesem Frühjahr soll das Urteil gegen sie und ihre Mitangeklagten verkündet werden.
Es könnte ein Präzedenzfall werden für die weitere Kriminalisierung von linkem Aktivismus. Der Fall Lina E. wirft viele Fragen auf über das Verhalten staatlicher Behörden, aber auch über Strategien im Kampf gegen die Rechte – über ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen.
Vieles weist darauf hin, dass die Verhaftung und Anklage von Lina E. Teil eines geplanten Schlags gegen linke Strukturen im ganzen Land war. Im August 2020 gab es zwei Dutzend Razzien gegen die Gruppe Roter Aufbau Hamburg, 22 Personen wurden angeklagt. Im gleichen Jahr wurden Ermittlungen gegen Einzelpersonen in Berlin, Frankfurt am Main und Athen gestartet. In Stuttgart griffen die Behörden besonders hart durch: Im Sommer 2020 gab es neun Hausdurchsuchungen in der Stadt, zwei antifaschistisch Aktive, bekannt unter den Namen Jo und Dy, wurden verhaftet.
Ihnen wird vorgeworfen, im Frühling 2020 an einer körperlichen Auseinandersetzung mit Mitgliedern der weit rechts stehenden gewerkschaftsähnlichen Gruppe Zentrum Automobil beteiligt gewesen zu sein. Im Herbst 2021 wurden Jo und Dy zu vier beziehungsweise fünf Jahren Haft verurteilt – ein extrem hartes Strafmaß. Prozessbeobachter sprechen von einem »unbedingten Verfolgungswillen« der Behörden, die offensichtlich »ein Exempel an der antifaschistischen Szene statuieren« wollen.
In Sachsen gehen die Behörden seit Jahren erbittert gegen linken Aktivismus vor. Zwischen 2011 und 2014 erhob die sächsische Justiz in drei Ermittlungsverfahren gegen Personen, die gegen Naziaufmärsche demonstriert hatten, eine satte halbe Million Verkehrsdaten und strengte dreißig Hausdurchsuchungen an. 2015/16 hörte die sächsische Polizei 921 Telefongespräche ab und speicherte schwindelerregende 53.210 Kommunikationsdaten. Fündig wurden sie trotz alledem nicht. Als 2018 in einem Fall die Ermittlungen aufgegeben wurden, mussten 355 Personen darüber informiert werden, dass sie nun nicht mehr polizeilich überwacht würden – und erfuhren damit überhaupt erst von ihrer Überwachung.
»Immer wieder landen Informationen, die eigentlich nur die Polizei haben kann, in rechten Kreisen.«
Will man herausfinden, weshalb die sächsischen Behörden mit solcher Unerbittlichkeit gegen Linke vorgehen, muss man ins Zentrum des linken Aktivismus im Freistaat blicken: den Leipziger Stadtteil Connewitz, in dem auch Lina E. zuletzt gewohnt hat. Jule Nagel kennt sich hier besonders gut aus. Die Landtagsabgeordnete der Linkspartei ist im Viertel verankert. Bei einem Rundgang durch Connewitz sprechen wir über Lina E., antifaschistische Strategien und den Aufwand, den staatliche Stellen betreiben, um sie zu unterdrücken. Immer wieder bleibt Nagel stehen, um mit Anwohnerinnen und Anwohnern zu sprechen, zu hören, wo der Schuh drückt.
»Connewitz ist ja bundesweit stigmatisiert als Ort, an dem ständig Barrikaden brennen«, sagt sie, als wir das Connewitzer Kreuz überqueren, das oft für solche Schlagzeilen sorgt. Das Viertel ist der Rechten ein Dorn im Auge. Nirgendwo sonst liegen eine linke Hochburg und »national befreite Zonen« von Neonazis geografisch so dicht beieinander wie in Sachsen.
Rechte Gewalt ist nicht nur in Sachsen ein Problem. Seit 2016 haben Rechte in ganz Deutschland laut BKA 22 Menschen ermordet, die Amadeu Antonio Stiftung zählt sogar bis zu 35. Doch der Freistaat steht an zweiter Stelle nach Mecklenburg-Vorpommern in der Anzahl rechter Gewalttaten relativ zur Bevölkerung. 2016 stürmten hunderte Neonazis Connewitz. »Durch diese Straße sind sie gekommen«, zeigt Nagel. Dieser Naziaufmarsch war ein Wendepunkt: Zwar wurden zweihundert Personen dafür angeklagt, in Connewitz randaliert zu haben, doch die Strafen fielen milde aus.
Viele Menschen in Connewitz sind davon überzeugt, dass der Staat diesen Angriff nicht richtig aufgearbeitet hat. Das Misstrauen kommt nicht von ungefähr. Immer wieder landen Informationen, die eigentlich nur die Polizei haben kann, in rechten Kreisen. Das rechte Magazin Compact etwa druckte vertrauliche Informationen ab, die nur Beamten des sächsischen LKA bekannt waren. Der Eindruck erhärtet sich, dass man als Linke nicht nur überwacht wird, sondern die gesammelten Informationen dann auch noch bei Faschisten auf dem Schreibtisch landen. Das kann für Aktivistinnen und Aktivisten sehr gefährlich werden, denn es gibt eine lange Geschichte brutaler Angriffe auf Linke.
Wenn man sich in der linken Szene in Connewitz umhört, sagen viele, sie seien erschöpft und ausgebrannt von dem jahrelangen Prozess gegen Lina E. Die militante Linke in Leipzig sei dadurch (und durch die Pandemie) in eine Art Winterschlaf gefallen. Das Solibündnis Antifa Ost, das sich zur Unterstützung der Angeklagten und ihrer Angehörigen gebildet hat, ist jedoch noch immer dabei. Um der bürgerlichen Medienhetze etwas entgegenzusetzen, erinnert der Blog von Soli Antifa Ost an die Opfer rechter Gewalt. Das soll klar machen, dass ein paar verprügelte Neonazis nicht die wahren Unterdrückten sind, sondern von ihnen die echte Gefahr ausgeht.
Einer der drei Mitangeklagten von Lina E. hat für den angeblichen Tatzeitpunkt ein Alibi: Er war laut seiner Anwältin in Berlin. Trotzdem könnte er wegen »psychologischer Unterstützung« verurteilt werden. »Das ist politisch motivierte Prozessführung durch die Generalbundesstaatsanwaltschaft«, sagt Marta Zionek, die Pressesprecherin des Solibündnisses. Mit einem Freispruch ist sicher nicht bei allen Angeklagten zu rechnen. Ob sie am Ende nach Paragraf 129 verurteilt werden, wird jedoch einen Effekt auf die gesamte linksradikale Szene haben, ist sich Zionek sicher. Die zuvor strengeren Kriterien wurden 2017 gelockert: Heute braucht es nicht mal eine gemeinsame Kasse oder sogar einen Namen, um als Vereinigung zu gelten. Der 129er ist zum Gummiparagrafen geworden.
Zionek sieht eine Dämonsierung linker Strukturen am Werk. Dazu passt, dass sogar extra eine Polizeiwache in Connewitz eingerichtet wurde, um angebliche linke Gewalt zu bekämpfen. Dabei gibt es im Viertel kaum Kriminalität. 2019 gründete die sächsische CDU während des Wahlkampfs mit lautem Getöse die Soko Linx. Auch sie soll gegen linke Gewalttaten vorgehen, in ganz Sachsen. Besonders viel vorzuweisen haben sie aber bisher nicht. »Nach vier Jahren muss die Soko Linx Erfolge vorweisen«, sagt Zionek. »Die steht sonst vor einem enormen Legitimationsproblem.« Wohl auch deshalb verfolgt die Anklage Lina E. so unterbittlich: Endlich müssen Resultate her.
Was folgt nun im Frühjahr, wenn die Urteile fallen sollen? »Im besten Fall lässt sich die radikale Linke nicht einschüchtern«, sagt Zionek. Denn, so mag man ergänzen, die negativen psychologischen Konsequenzen von Repression zeigen sich in der deutschen radikalen Linken überall: Paranoia und Misstrauen führen dazu, dass Neulinge ausgeschlossen werden und man sich hinter einer Mauer von subkulturellen Codes und Insider-Sprech versteckt. Es wird auch wenig nachgedacht über das Verhältnis zum Staat, jenseits der nicht unbegründeten Skepsis. Wie stoppt man die staatliche Repression antifaschistischer Organisierung? Wie erobert man als Linke Positionen im Staatsapparat? Und wie verhindert man, dass man von dessen Logik geschluckt wird?
Ohnehin ist es seltsam, dass die Linke den Gerichtsprozess gegen Lina E. nicht zum Anlass für eine Diskussion über Militanz und Strategie genommen hat. Da sollte auch eine Reflexion über Gewalt als Mittel dazugehören: Was bringt es, ein paar Neonazis zu verprügeln? Wenn man mit Leuten aus der Szene spricht, finden viele, Militanz habe ihren Platz, es brauche aber noch andere Strategien und diese müssten besser in Strukturen eingebettet werden.
»Die AfD ist eine demokratisch gewählte Partei«, gibt etwa Marta Zionek zu bedenken. Das erfordere eine gesamtpolitische Strategie. »Da sollten Antifaschist*innen auch die Wählerschaft mitdenken und nicht nur einen Höcke attackieren.« Die Rechte schaffe es ganz gut, verschiedene Formen zu verbinden. Die AfD besorgt den parlamentarischen Teil der Arbeit, währenddessen prügeln Nazis auf Leute ein und zünden Geflüchtetenheime an. AfD und rechte Kampfsportgruppen organisieren auch ganz selbstverständlich zusammen Demos.
Warum dann der Graben zwischen Parteiarbeit und Aktivismus in der Linken? Das Grundproblem ist, dass antifaschistisches Denken und Handeln auf Abwehr ausgerichtet ist. Die Antifa versucht nicht, eine Massenbewegung starten. Und gegen die Neue Rechte ist noch kein Kraut gewachsen. »Was fehlt, ist eine Strategie, wie man der verbürgerlichten Rechten beikommt«, findet Jule Nagel. »Wir reden hier nicht mehr nur von den klassischen Skinheads oder Neonazis im Kampfsportverein.« Heute sitzen Faschistinnen und Faschisten auch in den Parlamenten, sie tragen Anzüge, geben in bürgerlichen Medien Interviews, ziehen konservative Parteien noch weiter nach rechts. »Eine Demo vor dem AfD-Parteitag, bei aller Liebe, das bringt nichts«, sagt Nagel.
Stattdessen müsse man darüber nachdenken, weshalb Menschen überhaupt AfD oder NPD wählen. In ehemaligen Hochburgen der Linkspartei ist die AfD heute stärkste Kraft. »Wie kann so was passieren?«, fragt Nagel. »Wo waren wir?« Offensichtlich gebe es viele soziale Probleme, aber weshalb sehen die Menschen dann in der AfD die Lösung, die doch ein scharf neoliberales Programm anbietet? Sie zählt die möglichen Erklärungsversuche auf: Konservative Lebenswelten, die Überalterung und Maskulinisierung ganzer Gegenden, besonders im Osten durch die Abwanderung junger Leute und insbesondere von Frauen. Studien zeigten leider immer wieder eine verbreitete Menschenfeindlichkeit im Osten. »Wie können wir ein Gefühl von Solidarität wieder aufbauen? Da bin ich mit meinem Latein am Ende.«
Ganz stimmt das nicht. Nagels politische Arbeit im Stadtteil selbst könnte ein Modell bieten. Sie betreibt mit Kolleginnen schon seit den 1990er Jahren ein Ortsbüro unter dem Namen »Linxxnet«, um Verbindungen zwischen parlamentarischer Politik, dem Leben im Viertel und der außerparlamentarischen linken Szene zu pflegen. Das Büro bietet Unterstützung bei den materiellen Bedürfnissen der Menschen, Mietenberatung, Hilfe im Umgang mit dem Jobcenter oder auch einfach nur einen Ort, um Kaffee zu trinken und über seine Sorgen zu sprechen. Diese Angebote werden von Menschen im Viertel, die sonst nicht politisch eingebunden sind, stark wahrgenommen. Aber auch der linken Szene bietet das Büro Räume, um ihre Plena abzuhalten oder Transparente zu malen und später zu lagern. Wenn man in Connewitz mit Leuten aus der linken Szene spricht, wird Jule Nagel schon mal als »Leuchtturmprojekt auf zwei Beinen« bezeichnet.
»Im ganzen Land gibt es solche Projekte radikaler Stadtteilarbeit.«
Doch Connewitz ist natürlich eine Hochburg der alternativen Szene, wendet Nagel dagegen ein. »Linke Projekte, aus den eigenen Stadtteilen rauszukommen, gibt es fast nicht«, sagt sie. Man müsste in den Plattenbauvierteln aktiv werden, um an die Leute ranzukommen, die sonst von allen vergessen wurden. Sie nennt ein gutes Beispiel: Die Mietergemeinschaft Schönefelder Höfe, die in einem prekären Viertel politische Arbeit leistet. Zwar konzentriert sie sich auf die soziale Frage, kann so aber langjährige Beziehungen aufbauen und Vertrauen schaffen. Das helfe zu verhindern, dass Menschen von den Rechten angezogen werden.
Im ganzen Land gibt es solche Projekte radikaler Stadtteilarbeit, bekannt sind etwa Wilhelmsburg Solidarisch in Hamburg oder Hände Weg vom Wedding in Berlin. In vielen sind auch antifaschistisch Organisierte aktiv, denn es hat sich herumgesprochen, dass man mit dieser Art Verankerung am besten Präventionsarbeit betreibt. Aber Nagel mahnt auch gegen den in der Linken verbreiteten moralischen Absolutismus: »Wenn man in einer harten Gegend, wo es die Menschen am meisten brauchen, anfängt politische Arbeit zu machen, wird man auf Ressentiments stoßen. Da darf man nicht gleich aufgeben und wegrennen!«
Diese Art von Stadtteilarbeit erzielt jedoch erst langfristig Erfolge. Im Hier und Jetzt kann man auch schon einiges tun, findet Marta Zionek. Für sie stehen als nächstes die letzten Gerichtstermine im März an, die sich vielleicht auch noch bis Mai ziehen könnten. Man kann viel Konkretes tun, um Lina E. und andere betroffene Antifaschistinnen und Angehörige zu unterstützen, ruft sie in Erinnerung: »Man kann vor dem Gericht Präsenz zeigen, um Solidarität zu bekunden, man kann Spenden organisieren oder direkt ans Solibündnis spenden.« Und vor allem kann man am Samstag nach der Urteilsverkündung zahlreich nach Leipzig kommen, um auf der Solidaritätsdemonstration zu zeigen: »Wir bleiben geschlossen und solidarisch im Kampf gegen jede Form von rechter Politik, trotz der zunehmenden Repression.«
Caspar Shaller ist freier Journalist.