24. Oktober 2022
Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind in den Augen der rechtskonservativen SVP ein »Neutralitätsbruch«. Mit einer Volksinitiative wirbt die Partei jetzt für eine »humanitäre Schweiz« und eine Rückkehr zur Neutralität. Worum es tatsächlich geht: die Sicherung von Kapitalinteressen.
SVP-Urgestein Christoph Blocher hofft, seiner krisengeschüttelten Partei mit der »Neutralitäts-Initiative« zu alter Stärke zu verhelfen.
IMAGO / Manuel WinterbergerWer nur mit einem halben Ohr zuhört, könnte sich wundern: Aus der rechtskonservativen Ecke der Schweiz werden Stimmen laut, die sich gegen eine Annäherung an imperiale Bündnisse und für den Frieden aussprechen. Die Verweigerung einer aktiven oder passiven Beteiligung an Kriegen oder die Forderung nach einem Abbruch der Beziehungen zu der NATO entspringen bei der SVP jedoch keinem antimilitaristischen Reflex. Vielmehr will sich die SVP als Partei des Kapitals ihr Geschäft nicht von Kriegen und darauffolgenden Maßnahmen vermiesen lassen und legt sich daher die Neutralität als ideologischen Deckmantel um. Im Namen des Friedens und der Sicherheit werden so die Profitinteressen des Schweizer Kapitals verteidigt – nur allzu oft auch seitens der Regierung und anderer bürgerlicher Parteien.
»Es gehört zur Eigenart der SVP, dass sie sich nicht als Partei des Finanzkapitals präsentiert, zu der Blocher sie umgebaut hat. Noch immer gibt sie sich als volksnahe Vertreterin der Landwirte und des Gewerbes.«
Das wurde etwa ersichtlich, als die Sanktionen gegen Russland im Namen der Neutralität nicht mitgetragen wurden, während weiterhin der größte Teil des russischen Rohstoffhandels über Schweizer Finanzdienstleister erfolgt. Parallel dazu laufen die Geschäfte mit den USA, der EU und natürlich der Ukraine, wo die Schweiz vom Geschäftsklima der reaktionären Maidan-Regierung profitieren konnte und zum viertgrößten Investor überhaupt geworden ist.
Die SVP setzt sich nicht für den Frieden ein, sondern dafür, dass der Rubel rollt. Dabei legt sie sich die Schweizer Neutralität so zurecht, wie es für sie gerade passt. So plädiert der SVP-Nationalrat und Verleger der rechtsliberalen Weltwoche Roger Köppel für einen »integralen Neutralitätsbegriff« und verweist dabei auf den Zweiten Weltkrieg: Schon damals habe sich die Schweiz auf keine Seite gestellt. Zur Erinnerung: Die Schweiz gewährte Staatskredite an Italien und Deutschland, exportierte Kriegsmaterial aus bundeseigenen Produktionsstätten, tolerierte behördliche Ungleichbehandlungen des privaten Kriegsmaterialexports, duldete eine US-amerikanische Nachrichtendienstzentrale in Bern und vieles mehr.
Die Liste mit Neutralitätsverletzungen ließe sich erweitern und zeigt auf, dass Neutralität immer schon ein opportunistisches Mittel der Schweizer Außenpolitik darstellte. Insofern behält Roger Köppel sogar Recht, wenn er sagt, die Schweiz müsse die Neutralität zwingend zu ihrer außenpolitischen Maxime erheben. Aus bürgerlicher Sicht ergibt das für einen Kleinstaat im internationalen Wettbewerb durchaus Sinn, blendet aber den Doppelcharakter dieser Neutralität aus: Dass zwar politisch eine Nichteinmischung befürwortet wird, damit aber ökonomisch gezielte Interessen verfolgt werden.
Köppel verschweigt, dass es »Neutralität« in einer kapitalistischen Welt von konkurrierenden Nationalstaaten nicht geben kann. Das galt bereits in der Frühphase kapitalistischer Entwicklung, als die Schweiz über Handel und Söldnerwesen große Vermögen anhäufte. Die Schweizer Neutralität hat sich in der Phase der ursprünglichen Akkumulation herausgebildet. Als loses und konfessionell zerstrittenes Bündnis musste die Eidgenossenschaft auf territoriale Expansion verzichten und begann gleichzeitig, an alle umliegenden Mächte gleichmäßig Söldner zu schicken. Die Söldnerlieferungen ersparten es der Schweiz, die ländliche Überschussbevölkerung, die sich im Zuge der ursprünglichen Akkumulation herausgebildet hatte, in Armen- und Zuchthäuser zu stecken. Zusätzlich flüchteten seit dem 16. Jahrhundert vermögende Familien aus Italien und Frankreich in die Schweiz, da es dort keinen absolutistischen Staat gab, der ihre akkumulierten Vermögen abschöpfen konnte. Die Neutralität liefert also bereits in der frühkapitalistischen Entwicklung der Schweiz einen wesentlichen Beitrag zu ihrem Reichtum.
Nach einer Phase der kolonialen Politik, in der die Schweiz bis Ende des 19. Jahrhunderts enger Handelspartner großer kolonialer Mächte gewesen war, wurde das Konzept der Neutralität im Ersten Weltkrieg wieder massiv gestärkt, um eine eigene spezifische Rolle im imperialistischen System zu finden. Als neutraler Staat profitierte die Schweiz mit Waffen- und Finanzgeschäften von den Kriegen der anderen und festigte zunehmend ihre Position als Finanzdrehscheibe und Steueroase mit politischer Stabilität und einer Außenpolitik der »Guten Dienste«. Aber diese im Schweizer Neutralitätskonzept integrierte Funktion der Vermittlung und Integration verblasst heute vor der Tatsache, dass sich die Schweiz inmitten eines zunehmend »demokratisierten« und »friedlich zusammenarbeitenden« Europas befindet. Dadurch droht sich die Unabhängigkeitsfunktion in ihr Gegenteil zu wenden, weil die Schweiz faktisch in die EU integriert ist und zu einem Nachvollzugsland ohne Mitbestimmung absinkt: Weil die Schweiz auf die EU als Bündnis- und Handelspartner nicht verzichten kann, aber in deren politischen Prozessen nicht involviert ist, wird sie zur Übernahme wesentlicher Teile des EU-Rechts gezwungen, bei deren Ausgestaltung sie nicht mitreden kann.
»In Wahrheit will die SVP weder die freie Meinungsbildung schützen noch Frieden stiften, vielmehr sieht sie von den Handelseinschränkungen lediglich ihre Geschäfte bedroht.«
Die SVP hat diese schwierige Stellung der Schweiz in den vergangenen Jahren wiederholt aufgegriffen und zu einem zentralen Thema ihrer Abstimmungs- und Wahlkampagnen gemacht. Sie versucht, eine nationale Einigung gegen die »fremden Richter« aus der EU zu beschwören, die der Schweiz durch Rahmenabkommen und automatische Rechtsübernahme ihren Status als souveränen Staat streitig machen wollen. Die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zwischen Schweiz und EU sind inzwischen erstarrt und die SVP bastelt weiter an ihrem Neutralitäts-Mythos, um die Wählerschaft hinter sich zu versammeln.
Vordergründig gibt sich die SVP entsetzt über das Ende der Schweizer Neutralität. Die SVP hat unter der Federführung von Parteivater Christoph Blocher die sogenannte Neutralitäts-Initiative ins Leben gerufen, für die im Herbst die Unterschriftensammlung anlaufen wird. Mit dieser Volksinitiative bläst Blocher mit der Neutralitäts-Initiative zum Angriff auf die etablierten Parteien. Die Initiative diene dem »Schutz gegen die Willkür von Politikern«, die die Schweizer Neutralität »aus purem Opportunismus« aufgeben wollten.
Auch die restliche Parteispitze versucht, die Partei und ihre Wählerinnen und Wähler auf diesen Kampf einzuschwören. SVP-Nationalrat und Unternehmensberater Thomas Aeschi poltert, »der Bundesrat habe in diesem Krieg die Neutralität leichtfertig aufgegeben«. Und Köppel stilisiert sich und seine Parteikollegen zur letzten Bastion einer freien und sicheren Schweiz: Alle gegen die SVP. Die Partei werde aufs Heftigste angegriffen, meint Köppel, aber »diese Angriffe müsse man wie ein Abzeichen vor sich hertragen«. Wenn alle anderen den Kompass verloren haben, hängt das Schicksal der Schweiz von der SVP ab, so das Argument.
Hinter diesem Angriff auf das in ihren Augen rot-grüne Establishment schimmert das Sicherheits-Versprechen durch, das die SVP ihrer Wählerschaft geben möchte: Nur die Neutralität habe die Schweiz seit über 200 Jahren vor blutigen Konflikten bewahrt und der Schweizer Bevölkerung ein Leben in Sicherheit ermöglicht, meint SVP-Nationalrat Franz Grüter bei der Delegiertenversammlung.
Mit dieser Aussage stützt er sich auf ein SVP-Positionspapier, in dem die Neutralität zum alternativlosen Kern der Außenpolitik des Schweizer Kleinstaates erklärt wird. Darin ist angedeutet, was Roger Köppel dieser Tage wieder und wieder verdeutlichen möchte: »Neutralität ist kein moralisches Gebot, sondern eine Staatsmaxime.« Köppel meint, im Schutze der staatlich durchgesetzten Neutralität könne jede und jeder für sich selbst entscheiden: »Ideale zu bilden ist Sache der Menschen, der Familien, der Kirchen, der Vereine, der Parteien, aber niemals des Staates. Die politische Neutralität hat nicht zuletzt den Sinn, die Unabhängigkeit unseres Urteils zu gewährleisten.« Was hier vordergründig als Schutz der privaten Meinungsbildung präsentiert wird, erinnert an das Staatsverständnis von Carl Schmitt oder Reinhard Koselleck und verweist auf einen tiefer liegenden Widerspruch bürgerlicher Politik: Der ehemals absolutistische und später bürgerliche Staat konnte aus den Verwüstungen und Wirren der religiösen Bürgerkriege nur entstehen, indem er die Moral aus der Sphäre des Politischen ausgeklammert und sie in den privaten Raum verwiesen hat. Indem der Staat als moralisch neutrale Instanz seine Befriedungsfunktion wahrnimmt, bewahrt er seinen Untertaninnen und Untertanen die Freiheit des Gewissens und vollzieht damit die Trennung von privater Meinung und staatlicher Politik.
Die SVP kann die »Macht des Volks« propagieren und direktdemokratische Institutionen loben, so oft sie will: Wenn es ans Eingemachte geht, haben die regierten Bürgerinnen und Bürger nur noch über sich selbst zu entscheiden. Jede und jeder darf sich zum Krieg und zu außenpolitischen Fragen stellen, wie es ihm oder ihr gefällt – solange die Meinungsbildung im privaten Raum verbleibt. Köppel überspringt diesen Widerspruch, indem er behauptet, die Neutralität sei das zur außenpolitischen Maxime verallgemeinerte Interesse jedes einzelnen. Und Neutralität sei auch grundsätzlich Friedenspolitik, so als mache der freiwillige Verzicht auf äußere Machtpolitik die kriegerische Welt ein Stück weit friedlicher.
Aber in Wahrheit will die SVP weder die freie Meinungsbildung schützen noch Frieden stiften, vielmehr sieht sie von den Handelseinschränkungen lediglich ihre Geschäfte bedroht. Deshalb verurteilt sie die »leichtfertige« Übernahme des Wirtschaftsboykotts: »Wir sind im Krieg mit Russland«, stellt Blocher fest und zweifelt den Nutzen der von der Schweiz übernommenen Sanktionen an. Diese Zweifel sind zwar berechtigt, denn dass Sanktionen in der Regel die Zivilbevölkerung am härtesten treffen, ist inzwischen zu einer Binsenweisheit geworden. Und wie es scheint, hat das russische Regime bisher finanziell und politisch von den westlichen Sanktionen weniger Schaden genommen als erwartet.
Das sind aber nicht die Argumente, die die SVP gegen die Übernahme der Sanktionen ins Feld führt. Sie setzt sich ein für eine »globale wirtschaftspolitische Offenheit« und uneingeschränkten Freihandel. Sie stört sich schon länger an der »noch immer hohen wirtschaftlichen Abhängigkeit von der EU und den USA« und sieht nun durch Handlungsbeschränkungen gegen Russland ihre »global freundschaftliche unparteiische Offenheit« in Gefahr.
Diese Position hat die SVP in den vergangenen Jahren wiederholt stark gemacht – vor allem im Zusammenhang mit Verhandlungen mit der EU. Während die Mitte-Parteien im Verbund mit der Sozialdemokratie den Nutzen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem umliegenden Staatenbund betonten, plädierte die SVP etwa für den Ausbau des Freihandels mit China. Die Sanktionen gegen Russland werden von der SVP also nicht abgelehnt, weil sie die Falschen treffen oder ihre Wirkung verfehlen, sondern weil sie ihren wirtschaftspolitischen Interessen zuwiderlaufen.
Es gehört zur Eigenart der SVP, dass sie sich nicht als Partei des Finanzkapitals präsentiert, zu der Blocher sie umgebaut hat. Noch immer gibt sie sich als volksnahe Vertreterin der Landwirtinnen, Landwirte und des Gewerbes, die sie früher einmal war. Innerhalb der Partei hat das Konflikte zwischen der kleinbürgerlichen, bäuerlichen Parteibasis und der Ton angebenden Finanzelite nach sich gezogen. Der Einsatz für staatliche Subventionen zugunsten der Landwirtinnen und Landwirte stellte einen Versuch dar, diesen Widerspruch zu überbrücken – überwunden wurde er aber nicht.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Partei als größte Nationalratsfraktion und Regierungspartei weder ihre Rolle als »Oppositionspartei« glaubhaft aufrechterhalten noch mit ihrer gewonnen Stärke große politische Erfolge für das Schweizer Kapital erzielen konnte. Mit ihrer arbeiterfeindlichen Ausrichtung trägt sich zwar zur Durchsetzung von Sparkurs und Sozialabbau bei – das Bankgeheimnis konnte sie aber auch nicht retten. Das Verhältnis zur EU hat sich durch ihre nationalistische Politik verschlechtert. Ihre ausländerfeindlichen Volksinitiativen haben zwar Wählerinnen und Wähler mobilisiert, aber die Akkumulationsbedingungen für das Kapital nicht gerade verbessert.
Mit dem Thema Migration – jahrelang ein wesentlicher Eckpfeiler der Parteipolitik der SVP – lassen sich außerdem immer weniger Leute mobilisieren. Seit ihrem Sieg mit der Masseneinwanderungsinitiative 2014 hat die Partei Schwierigkeiten, die Schweizer Politik im selben Maße weiter zu prägen, wie sie es drei Jahrzehnte lang getan hatte. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht bewegte sie die Schweizer Stimmbevölkerung entgegen den Empfehlungen aller anderen Parteien dazu, die Zuwanderung in die Schweiz durch jährliche Kontingente, die sich nach wirtschaftlichen Interessen richten, zu begrenzen.
Danach ging es bergab: So scheiterten etwa die von schmutzigen Kampagnen begleiteten Initiativen zur Begrenzung der Einwanderung und der rücksichtslosen Ausweisung von Migrantinnen und Migranten bei geringfügigen Vergehen an der Urne. Andere ausländerfeindliche Initiativen kamen aufgrund mangelnder Unterschriften nicht mal mehr zustande, so zum Beispiel »Zuerst Arbeit für Inländer« oder »Ausschaffung krimineller Männer«.
Es folgte der Versuch, mittels der übermäßigen Beschwörung des Stadt-Land-Gefälles ein neues, spalterisches Wahlkampfthema zu etablieren, das vor allem ländliche Wählerinnen und Wähler an die Urne bringen sollte. Doch die Erzählung von den links-verseuchten Städtern, die das Land bevormunden würden, wollte nicht so richtig greifen, sondern verdeutlichte nochmals die innerparteiliche Kluft zwischen Führung und Basis: »Das Stadt-Land-Thema? Das kommt vom ›Bänker‹ aus Zürich!«, lautete gemäß der linken Wochenzeitung WOZ der Tenor bei den SVP-Versammlungen.
Angesichts der unüberbrückbaren innerparteilichen Konflikte und eines Mangels an mobilisierenden Wahlkampfthemen versucht die Parteispitze noch einmal die Partei zu einen und ihr zu alter Kraft zu verhelfen. Unter dem Banner »alle gegen die SVP« will die SVP das Thema Neutralität besetzen und ihren Wählerinnen und Wählern ein neues Sicherheitsversprechen geben. Insofern weist die aktuelle Kampagne der SVP eine gewisse Kontinuität mit der Geschichte der Schweizer Neutralität auf: Sie ist seit ihren Anfängen ein äußerst wandelbares Konzept gewesen, das der Behauptung des Kleinstaates und der Durchsetzung seiner Kapitalinteressen diente. Die aktuelle Kampagne der SVP ist nichts Weiteres als eine Fortführung dieses Schweizer Opportunismus.
Dominic Iten ist Redakteur beim Widerspruch und beim Schweizer Vorwärts.