25. Mai 2022
Im Schatten des Kriegs in der Ukraine plant Erdogan einen erneuten Angriff in Nordsyrien. Die Kriegspolitik der Türkei beweist, dass die NATO nicht Freiheit und Demokratie, sondern vor allem die eigenen imperialen Interessen verteidigt.
Recep Tayyip Erdogan, Ankara, 22. März 2022.
Es geht wieder los. Ermutigt durch das Schweigen der NATO-Partner könnten Erdogan und sein AKP-Regime die türkischen Kriegsdrohungen gegen die demokratische Selbstverwaltung im nordsyrischen Rojava in einen konkreten Angriff verwandeln. Am Montag kündigte er während eines öffentlichen Auftritts auf einer Militärwerft am Marmarameer an, einen 30 Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zu Nordsyrien besetzen zu wollen. Die Vorbereitungen für den Angriff sollen laut türkischen Angaben bereits morgen abgeschlossen sein.
Andernorts in Kurdistan läuft der Krieg schon seit Wochen – abseits jeglicher Aufmerksamkeit und Empörung. Bereits am 17. April begann die türkische Armee eine Invasion in der Zap-Region in Südkurdistan. Das war der vorläufige Gipfel einer langen Reihe völkerrechtswidriger Interventionen im Norden des Irak. Seitdem finden in den Bergen Kurdistans, in denen viele Dörfer liegen und Zivilistinnen und Zivilisten leben, heftige Kämpfe statt. Täglich sterben Soldaten und Guerillakämpferinnen. Und auch in Rojava wird seit Monaten ein Krieg niedriger Intensität gegen die Zivilbevölkerung und ihre Selbstverwaltung ausgetragen. Seit Beginn des Jahres hat es dort mindestens 35 türkische Drohnenanschläge aus der Luft gegeben, die mehr als 13 Menschen getötet und 34 verletzt haben, wie das Rojava Information Center dokumentiert hat.
Erdogan kann seine Kriegspolitik bislang ungehindert verfolgen. Kritik der NATO-Allianz, in der die Türkei seit Februar 1952 Mitglied ist, blieb bislang aus. Erdogans zerstörerische Verhandlungs- und Gestaltungsmacht ist durch den Ukraine-Krieg noch gestiegen, da er sich als vermeintlich neutraler Vermittler zwischen Russland und der Ukraine präsentiert und Gespräche auf türkischem Boden stattfinden.
Nun sperrt sich Erdogan gegen die Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO. Aus Sicht des AKP-Regimes leisten diese Länder »Terrorhilfe« und beherbergen »Terroristen«. Diese vermeintlichen »Terrororganisationen« sind Hilfsprojekte in Rojava, mit denen die Wasserversorgung aufgebaut wird oder Frauen, die Gewalt durch die IS-Terrormiliz erfahren haben, Schutz finden – humanitäre Hilfe also, die durch Schweden mitfinanziert wurde. Die »Terroristen«, auf die Erdogan abzielt, sind Kurdinnen und Kurden, die sich in Schweden und Finnland organisieren und dort bisher keine Repression erfahren haben – anders als zum Beispiel in Deutschland.
Aber auch kurdischstämmige Politikerinnen und Politiker stehen im Visier, so wie die linke unabhängige Abgeordnete Amineh Kakabaveh aus Schweden, die ursprünglich aus Ostkurdistan stammt. Kürzlich forderte der türkische Botschafter in Stockholm sogar ihre Auslieferung (später wurde diese Aussage von der Botschaft als »Missverständnis« relativiert). Kakabaveh selbst ist übrigens gegen den NATO-Beitritt Schwedens und hat der amtierenden sozialdemokratischen Ministerpräsidentin ihre Unterstützung entzogen. Sie kritisiert, dass die Kurdinnen und Kurden erneut auf dem Altar der Großmächte geopfert werden könnten – dieses Mal mit Schwedens Unterstützung. Erdogan versucht neben Geflüchteten nun auch wieder Kurdinnen und Kurden als Druckmittel für seine Träume einer regionalimperialistischen Großmacht einzusetzen. Deutlich wird so auch, dass die kurdische Frage nicht nur eine regionale ist, sondern internationale Bedeutung hat.
Erst jetzt, nachdem die Erweiterung der NATO aufgrund der Türkei kurzzeitig ins Stocken gerät, wird Kritik laut: Mit einer derartigen Blockadehaltung würde die Türkei nicht zur NATO-Gemeinschaft gehören. Die Politikwissenschaftlerin Dilar Dirik bezeichnet das als falsche Rhetorik, denn die Türkei ist seit mehr als siebzig Jahren ein elementarer Bestandteil des Kriegsbündnisses. Die türkische Kriegspolitik steht exemplarisch für verschiedenste völkerrechtswidrige NATO-Angriffskriege in den letzten Jahren. Die NATO bezeichnet sich selbst zwar als »Wertegemeinschaft« und ihre Mitglieder sind laut Gründungsdokument aus dem Jahr 1949 »der UNO-Charta verpflichtet« sowie »den Prinzipien der Demokratie, individuellen Freiheiten und der Rechtsstaatlichkei«. Das ist jedoch Ideologie, die den kriegerischen Charakter dieser Allianz verschleiern soll. Die Angriffe auf Libyen, den Irak, Afghanistan und das frühere Jugoslawien sprechen eine andere Sprache. Genauso wie die seit 1976 anhaltende völkerrechtswidrige Besatzung Nordzyperns durch die Türkei, die keinerlei Erwähnung mehr findet.
Auch Cemil Bayik, der Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der KCK (Koma Civakên Kurdistan, Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), betonte am Montag die Rolle der NATO im Krieg gegen Kurdistan: »Es mag also so aussehen, als führe die Türkei den Krieg in Zap und Avaşîn, aber in Wirklichkeit ist es die NATO. [...] Da die Türkei Mitglied ist, erhält sie sehr umfassende Unterstützung von der NATO. Ohne diese Hilfe hätte die Türkei diesen Krieg nicht bis heute führen können. Die NATO ist diejenige, die diesen Krieg beschlossen hat, und die Türkei setzt diesen Beschluss in die Tat um.«
Ein Angriff auf Rojava hat für die Türkei auch eine starke innenpolitische Komponente. Im Jahr 2023 stehen Wahlen an und alle Umfragen weisen auf eine deutliche Schwächung der AKP hin. Die immer wiederkehrenden Angriffe und Invasionen der Türkei in Syrien – die Besetzung einer Region Nordsyriens zwischen Azaz und dem Euphrat im August 2016, der Angriff und die Besetzung von Afrin 2018 sowie Serekaniye und Gire Spi im Jahr 2019 – gingen immer mit einer gesteigerten Zustimmungsrate in der türkischen Bevölkerung einher. Krieg vereint einen Teil der Bevölkerung hinter dem Regime und seiner Armee und lässt Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armut in den Hintergrund treten – aber eben nur kurzzeitig. So verleitet die derzeitige schwierige innenpolitische Lage die AKP dazu, sich außenpolitisch durch eine weitere kriegerische Auseinandersetzung zu behaupten.
Hinzu kommt, dass Erdogan Anfang Mai angekündigt hat, 1 Millionen syrische Geflüchtete, die bisher in der Türkei gelebt haben, nach und nach in eigens für sie angelegte »Siedlungen« in den türkisch besetzten Teilen Nordsyriens zurückzuführen. Dafür wird Platz und ein zusammenhängendes Gebiet benötigt, dass so auch sukzessive in türkisches Staatsgebiet überführt werden kann. Die Zahlung von Gehältern in türkischen Lira, die Eröffnung von türkischsprachigen Schulen und die Einsetzung eigener Gouverneure deuten darauf hin, dass dieses Gebiet dauerhaft kolonisiert wird. Mit diesen Invasionen ging auch die Stärkung dschihadistischer Milizen einher, die neben den türkischen Soldaten die Besatzung absichern. Viele von ihnen waren früher Teil der IS-Terrormiliz, die im Untergrund nach wie vor existiert. Sie ist inzwischen wieder zunehmend in der Lage, Angriffe durchzuführen, wie der Sturm auf das IS-Gefängnis in Al-Hassaka im Januar gezeigt hat.
Khaled Davrisch, Vertreter der Selbstverwaltung in Berlin, erklärt gegenüber dem Tagesspiegel, dass »ein Kniefall vor Erdogan die Bemühungen um eine friedliche Lösung in Syrien torpedieren« wird. Doch nicht nur das. Ein türkischer Angriff mit Segen der NATO wird deutlich machen, dass das Gerede von gemeinsamen Werten, Freiheit und Demokratie, nur dann gilt, wenn es den eigenen imperialen Interessen dient.
Kerem Schamberger ist Aktivist und Kommunikationswissenschaftler.
Dr. Kerem Schamberger ist politischer Aktivist und hat kürzlich zum Thema »Kurdische Medien« promoviert. Im Jahr 2018 erschien sein Buch »Die Kurden – ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion« im Westend Verlag.