21. März 2022
Wer Geflüchteten aus der Ukraine hilft, wird gefeiert. Wer Geflüchteten auf dem Mittelmeer hilft, wird kriminalisiert. Das ist nicht nur heuchlerisch – es ist unmenschlich. Wir sollten alle Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, gleichermaßen willkommen heißen.
Unterkunft für Geflüchtete in Breslau, Polen, 16. März 2022.
Überall in Europa entstehen Aufnahmestellen und Spendenprojekte, um ukrainischen Geflüchteten zu helfen. In einigen Fällen werden diese vom Staat organisiert, meistens werden sie jedoch von ganz normalen Menschen initiiert, die nicht tatenlos zusehen wollen. In einer kleinen Stadt im ländlichen Frankreich stieß ich bei einem kurzen Spaziergang auf drei selbstgebastelte Schilder, die auf solche Projekte aufmerksam machten. Und in Polen wird mit Hilfe von Freiwilligen unter Hochdruck eine stillgelegte Bahnlinie wieder in Betrieb genommen, um Menschen durch die Region zu transportieren. Bilder von Kinderwagen, die Anwohner am Bahnhof von Przemysl an der polnisch-ukrainischen Grenze für Bedürftige abgestellt haben, machen die Runde.
Mehrere europäische Städte gewähren ukrainischen Geflüchteten kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. Tschechien hat angekündigt, bis zu 250.000 Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen. Die Binnengrenzen der EU sind nach wie vor geöffnet. Doch es gibt auch gravierende Probleme. So wurden etwa rassistische Vorfälle an den Grenzen gemeldet. Andererseits wurde versucht, diese Berichte als russische Propaganda abzutun. Aber im Großen und Ganzen ist Europas Reaktion auf den plötzlichen Strom von Millionen geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern begrüßenswert.
Inmitten dieser düsteren Wochen ist das ein blasser Hoffnungsschimmer. Gleichzeitig treibt es jemanden wie mich, der seit Jahren zum Thema Migrationspolitik und Flüchtlingsschutz arbeitet, auch in den Wahnsinn. Denn gerade zeigt sich, dass wir zu jedem Zeitpunkt in der Lage gewesen wären, Geflüchteten Schutz zu bieten. In den letzten ein bis zwei Jahrzehnten hat Europa beharrlich daran gearbeitet, eines der gewaltsamsten Grenzregime der Welt zu errichten. Pushbacks gehören dabei zur Routine und kosten jedes Jahr Tausende Menschen das Leben. Allein in den vergangenen Tagen sind Dutzende ertrunken.
Hinzu kommen politische Deals, durch die Geflüchete aus Libyen in die Sklaverei zurückgeschickt werden. Es gibt eine ausgedehnte und weiter wachsende militärische Infrastruktur, die die Meere überwacht. Und die Seenotrettung wird kriminalisiert. Die Reaktion auf den Krieg in der Ukraine hat nun bewiesen, dass die Institutionen der EU jederzeit fähig gewesen wären, diese Barbarei zu vermeiden.
Wie selektiv das Mitgefühl ist, wurde bereits ausführlich kommentiert. Neben humanitärer Hilfe kann man über Crowdfunding sogar militärische Ausrüstung für irreguläre Truppen kaufen; in jedem anderen Fall als der Ukraine würde man dafür zumindest auf einer Beobachtungsliste landen.
Das lässt sich zum Teil damit erklären, dass die Aggression in diesem Fall von einem politischen Rivalen ausgeht und nicht von einem NATO-Staat oder einem anderen Verbündeten, wie im Irak oder im Jemen. Als jedoch Menschen aus Afghanistan vor den Taliban – gewiss kein verbündetes Regime – flohen, unternahm Europa zügig Schritte, um diese Menschen vor verschlossenen Toren stehen zu lassen. Das lässt vermuten, dass diese deutlich unterschiedlichen Reaktionen sowohl auf rassistischen als auch auf geopolitischen Erwägungen beruhen. Einige Kommentatoren haben dies sogar offen ausgesprochen. Russland verfolgt indes seine eigene strategische und ebenso untypische Politik der Einbürgerung im Schnellverfahren für Menschen in von Separatisten kontrollierten Gebieten.
Aber das Gerede über die Selektivität hilft uns nur bedingt weiter, denn es ist natürlich grundsätzlich richtig, Geflüchteten Schutz zu gewähren. Das anfängliche Vorgehen des britischen Innenministeriums, das sich gegenüber ukrainischen Geflüchteten genauso unmenschlich verhielt wie gegenüber allen anderen Kriegsgeflüchteten auch, ist in jedem Fall schlimmer (in den ersten zwei Wochen des Krieges wurden gerade einmal fünfzig Personen aus der Ukraine ein Visum erteilt). Wir sollten vielmehr betonen, dass die relativ liberale Haltung gegenüber ukrainischen Geflüchteten nicht nur offenbart, wie brutal die gängige europäische Migrationspolitik ist, sondern auch, wie vollkommen unnötig diese gewaltsame Abschottung ist.
Politikerinnen und Kommentatoren quer durch das politische Spektrum haben uns jahrelang erzählt, dass die Aufnahmekapazitäten überlastet seien, dass die Aufnahme von Menschen nur noch weitere zur Flucht motiviere, und dass die meisten Geflüchteten ohnehin nicht asylberechtigt wären. All diese vorgeschobenen Argumente haben sich angesichts des Ukraine-Krieges in Luft aufgelöst. Selbst Regierungen, die sonst für ihre repressive Migrationspolitik berüchtigt sind, haben sich dieses Mal zurückgehalten. Alles, was unzählige verzweifelte europäische Politikerinnen und Politiker für unmöglich und nicht umsetzbar erklärten, passiert gerade – und zwar in hohem Tempo und großem Umfang.
Die Möglichkeiten, die sich daraus für den Flüchtlingsschutz im Allgemeinen ergeben, müssen wir so schnell wie möglich nutzen. Denn uns steht allem Anschein nach eine anhaltende Krise mit erheblichem Eskalationspotenzial bevor. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell rechnet damit, dass bis zu 5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht sein werden. In dieser Gemengelage kann die politische Stimmung schnell kippen. Daher müssen wir jetzt sicherstellen, dass die EU maximale und dauerhafte Vorkehrungen für diese Menschen trifft, wie etwa das Recht auf Arbeitserlaubnis und Sozialversicherung – unabhängig vom Status des umstrittenen EU-Beitritts der Ukraine.
Davon einmal abgesehen hat die Anzahl an Vertriebenen weltweit schon jetzt Rekordhöhe erreicht. Die derzeitige Instabilität wird mit hoher Wahrscheinlichkeit noch mehr Menschen zur Flucht zwingen. Der Krieg hat die bestehende Energiekrise bereits verschärft und in Drittländern wächst die Angst vor einer Nahrungsmittelknappheit, was einige Länder dazu veranlasst hat, Getreide zu horten, wodurch sich die Versorgungslage anderswo noch zusätzlich verschlechtert. Und es gibt noch einen weiteren Grund, schnell zu handeln: Denn während sich Europa ukrainischen Geflüchteten gegenüber gerade untypisch human verhält, weitet es zugleich seine Fähigkeiten aus, um in anderen Fällen genau das Gegenteil zu tun.
Der neue Strategische Kompass der EU soll am 22. März im Europäischen Rat verabschiedet werden. Dabei handelt sich um ein groß angelegtes Grundlagendokument für die europäische Verteidigungspolitik. Es geht also um weit mehr als nur um Migration. Aber die militärische Hochrüstung der Grenzen ist in die DNA dieser Strategie eingeschrieben.
Der Strategische Kompass und die dazugehörigen Dokumente spiegeln die Tendenzen im militärischen und strategischen Denken des gesamten Globalen Nordens wider. Es gibt eine Reihe von Kernelementen, die angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine als immer dringlicher angesehen werden. Zentral dabei ist die Aufrüstung und die defensive Integration des gesamten Blocks, um die Entwicklung der europäischen Rüstungsindustrie zu fördern.
Schon vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges war die Waffenindustrie euphorisiert darüber, wie rentabel sich das gegenwärtige geopolitische Chaos für sie erwies. Die neue Aufrüstung Deutschlands hat die Rüstungsaktien in die Höhe schießen lassen. Laut eines Berichts des Transnational Institute vom letzten Herbst hat die europäische Kriegsindustrie Waffen produziert und vertrieben, die Millionen von Menschen aus ihren Heimatländern vertrieben haben.
In den letzten zwei Jahrzehnten sind Überwachung, Grenzgewalt, Migrationskontrolle und Waffenproduktion – angetrieben durch die private und militärische Nutzung des Irak und Afghanistans als Testgelände für Zwangstechniken – immer enger miteinander verbunden worden und verstärken sich gegenseitig. Ein Beispiel dieser sektorübergreifenden Verflechtungen liefert der jüngste Plan einer bilateralen Entwicklungsagentur, der in Verbindung mit einem Großauftrag steht, an dem der Airbus-Konzern beteiligt war. Dieser Plan sah vor, dass deutsche Polizeikräfte nach Saudi-Arabien entsendet werden, um die dortigen Grenzschutzbeamten auszubilden – kurz nachdem letztere auf Geflüchtete aus Äthiopien an der saudischen Grenze gefeuert hatten.
Auch die Linksfraktion im EU-Parlament hat darauf hingewiesen, wie umfangreich sich Europa an der militarisierten Grenz- und Überwachungsindustrie beteiligt. Angesichts des Krieges in der Ukraine wird die Forderung nach einer stärkeren Verteidigung der NATO-Grenzen unweigerlich mit härteren Kontrollen der EU-Außengrenzen verbunden werden. Der Strategische Kompass sieht vor, die Migrationskontrolle der EU noch mehr zu externalisieren und an nordafrikanische Regime und die Türkei zu übergeben, trotz der immensen Menschenrechtsprobleme, die damit verbunden sind.
Der Kompass formuliert ausdrücklich den Wunsch »zur Kooperation zum beidseitigen Nutzen … von zivilen und militärischen Einsätzen und den EU-Akteuren in den Bereichen Justiz und Inneres«. Auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex soll dabei stärker einbezogen werden. Das hat eine Ausweitung und Militarisierung von Frontex zur Folge, wofür die Industrie aggressiv lobbyiert hat.
Im Kontext hybrider Konflikte wird auf Migration verwiesen, insbesondere in Bezug auf die jüngste Auseinandersetzung zwischen Polen und Belarus. Die Haltung des polnischen Staates gegenüber den ukrainischen Geflüchteten steht im Widerspruch zu der Situation vor wenigen Monaten, als behauptet wurde, Belarus instrumentalisiere Migrantinnen und Migranten als Waffe zur Untergrabung der EU-Grenzen. Dieses Narrativ wurde genutzt, um die Militarisierung der europäischen Außengrenzen zu rechtfertigen, während Geflüchtete, die Sicherheit und einen menschenwürdigen Umgang suchten, im Wald erfroren und humanitäre Hilfskräfte gezwungen wurden, das Gebiet zu verlassen. Die Reaktion auf den Ukraine-Krieg und die Vorgaben des Kompasses stehen zwar grundsätzlich miteinander in Verbindung, jedoch sehen wir hier zwei völlig unterschiedliche Formen der EU-Grenzpolitik.
Die europäische Aufrüstung bietet eine ganze Palette an Möglichkeiten für Vorurteile und Profitstreben. Es geht nicht nur um die Gefahr zunehmender Spannungen zwischen den Großmächten, obwohl dies ein offensichtliches und ernsthaftes Risiko darstellt. Es geht auch um die Militarisierung und Privatisierung einer Vielzahl von Bereichen der öffentlicher Politik. Die Rivalität zwischen Staaten – bei der sich alle beteiligten Großmächte »hybriden« Bedrohungen ausgesetzt sehen – treibt eine unerbittliche Militarisierung voran, die vor nichts haltmacht. So artikuliert der Strategische Kompass das (etwas unpräzise) Versprechen, »auf Klimagefahren zu reagieren«.
Das soll bedeuten, dass die Verteidigungs- und Sicherheitsstrategie klimabewusster werden soll. Wie sich das mit der Ausweitung von einem der klimaschädlichsten Industriesektoren vereinbaren lässt, bleibt unbeantwortet – das US-Militär ist der weltweit größte Umweltverschmutzer, während die Streitkräfte der EU und Großbritanniens derzeit schätzungsweise 35 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr emittieren. Aber in einer Welt, in der klimabedingte Fluchtbewegungen Forderung nach mehr Grenzmauern voranzutreiben scheinen und in der die Kriegsindustrie häufig für umweltverschmutzende und Ressourcen abbauende Konzerne arbeitet, bleibt unklar, was der Strategische Kompass als »Klimabedrohung« begreift.
Selbst wenn wir das Glück haben und zwischenstaatliche Konflikte vermeiden – und das sollten wir nicht selbstgefällig als Kleinigkeit abtun –, dann erleben wir gerade dennoch, wie ein breites Spektrum grundlegender sozialer und politischer Funktionen zugunsten der Forderungen der Kriegsindustrie hintangestellt wird.
Doch die Großmächte sind nicht die einzigen Akteure. Nur weil die solidarische Reaktion der Öffentlichkeit dadurch vorangetrieben wurde, dass die mediale Berichterstattung über diesen Krieg umfassender ist als bei andere Kriegen, bedeutet das nicht, dass die meisten Europäerinnen und Europäer von sich aus zu selektivem Denken neigen. Bilder menschlichen Leids lösen bei vielen Menschen instinktiv einen starken Impuls aus, helfen zu wollen. Das hat sich auch in den letzten Wochen in einem gewaltigen Strom von Empathie und Hilfsbereitschaft gezeigt.
Das Bedürfnis, selbst tätig zu werden, ist menschlich – und es zeigt, wie Solidarität über Grenzen hinweg schnell und umfassend mobilisiert werden kann. Solche Momente bilden den Grundstein dafür, anders und besser zu handeln, und sie stehen in krassem Gegensatz zu Putins Krieg in der Ukraine, aber auch zu den systemischen Dynamiken, die die Kriegsmaschinerien der Welt am Laufen halten. Wir können uns dagegen entscheiden, in einer belagerten Welt zu leben.
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Nathan Akehurst ist Autor und Campaigner. Er arbeitet im Bereich der politischen Kommunikation und Interessenvertretung.
Nathan Akehurst ist Autor, Campaigner und arbeitet im Bereich politische Kommunikation und Advocacy.